Es besteht Konsens darüber, dass es zu wenig Personal gibt – in der Kranken- und der Altenpflege. Uneinigkeit herrscht aber darüber, wie das Problem behoben werden kann. Insbesondere die Krankenkassen kritisieren die Pläne der großen Koalition (vgl. dazu auch Pressekonferenz Pflege im Krankenhaus des GKV-Spitzenverbandes). Die Argumente der Kassen sind nicht von der Hand zu weisen. Das meint zumindest Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Kassen kritisieren Koalitionspläne gegen Pflegenotstand. Und schon im Untertitel schiebt er eine den einen oder andren überraschende Botschaft hinterher: »Krankenkassen fürchten, dass der Kampf ums Personal zulasten der Altenheime geht.« Wie das?
Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es hier um zwei große Pakete im Kontext einer Stärkung der Pflege in den Krankenhäusern geht – deren von vielen beklagte gegenwärtige Mangelsituation eine unmittelbare Folge ökonomischer Anreize ist, die nunmehr wenigstens etwas korrigiert werden sollen. Szent-Ivanyi beschreibt das rückblickend schon richtig: »Bisher sind die Kosten für die Pflegekräfte in den Pauschalen enthalten, die die Klinken für die Behandlung eines Patienten von den Kassen erhalten. Das führte dazu, dass die Kliniken jahrelang Pflegepersonal abbauten, um die Gewinne zu maximieren.«
Das nun soll sich ändern. Denn die neue alte Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zum einen darauf verständigt, dass die Finanzierung der Krankenhäuser, die derzeit neben der (seit Jahren unterdimensionierten) Investitionsfinanzierung durch die Bundesländer hauptsächlich über die DRG-basierten Fallpauschalen läuft, die eben gerade nicht unterscheiden, wo welche Kosten anfallen, sondern deren Finanzierung in die Autonomie der Kliniken stellt, dahingehend geändert werden soll, dass den Krankenhäusern künftig alle Ausgaben für die Pflege gesondert und in voller Höhe erstattet werden sollen. Es soll hier gar nicht weiter diskutiert werden, dass das tatsächlich einem Systembruch entsprechen würde, denn eine Separieren einzelner „Kostenstellen“ und deren vollständige Refinanzierung sieht das fallpauschalierende Vergütungssystem ja gerade nicht vor bzw. genau das will es vermeiden. Damit ein entsprechender Druck auf die einzelnen Häuser ausgeübt wird, möglichst wirtschaftlich mit den über die Jahre vereinheitlichten Fallpauschalen zu arbeiten (vgl. dazu auch Michael Simon mit einer grundsätzlichen Infragestellung des bestehenden Systems im Jahr 2013 im Deutschen Ärzteblatt unter die Überschrift Das deutsche DRG-System: Grundsätzliche Konstruktionsfehler).
Eine solche Umstellung des Finanzierungssystems würde nicht ohne Folgen bleiben. Timot Szent-Ivanyi referiert die Kassenängste: »Damit wird es für die Kliniken wieder attraktiv, Pflegepersonal in großem Umfang einzustellen. Sie sind dann auch in der Lage, gute Gehälter zu zahlen – schließlich müssen die Kassen und damit die Versicherten alle anfallenden Ausgaben übernehmen.« Hinzu kommt auf dem Bildschirm der Krankenkassen eine weitere Warnlampe für aufgabenträchtige Risiken, denn in den Vereinbarungen der neuen alten Koalition findet man diese Festlegung: »Im Krankenhausbereich streben wir eine vollständige Refinanzierung von Tarifsteigerungen an, verbunden mit der Nachweispflicht, dass dies auch tatsächlich bei den Beschäftigten ankommt.«
Damit bei weitem nicht genug an Risiken. Die Ängste der Kassenfunktionäre resultieren nicht nur aus der Tatsache, dass die Kassen das bezahlen müssen bzw. sollen. Denn parallel dazu läuft eigentlich Ende Juni die Frist ab für die Erarbeitung von Personaluntergrenzen für die Pflege in Krankenhäuser. Vgl. dazu bereits ausführlicher die Beiträge Mal keine Obergrenzen – oder doch? Die Ambivalenz der Diskussion über Personaluntergrenzen für die Pflegekräfte in Krankenhäusern vom 25. März 2018 sowie Wenn das aus der Systemlogik definierte Unterste am Ende zum Obersten wird, sollte man sich nicht wundern. Zur Ambivalenz der geplanten Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege vom 3. Juni 2018. Und zur Abrundung der Gefechtslage für die Krankenkassen darf man nicht aus den Augen verlieren, dass der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Kontext der Debatte über die Pflegenotstand in der Altenpflege deutliche Mehrausgaben in diesem Bereich angekündigt hat und die ersten konkreten Personalmaßnahmen – die berühmten erst 8.000, nun 13.000 neuen Stellen über das Konstrukt ihrer Bindung an die medizinische Behandlungspflege in Pflegeeinrichtungen vollständig von den Krankenkassen zu refinanzieren sind.
Bleiben wir bei der beabsichtigten separaten Finanzierung der Pflege in den Krankenhäusern, die tatsächlich das Potenzial hat, das bestehende fallpauschalierende Krankenhausfinanzierungssystem zu sprengen (und in Verbindung mit der angesprochenen geplanten Verpflichtung der vollen Refinanzierung von Tarifsteigerungen eine Art partielle Wiedereinführung des Selbstkostendeckungsprinzips darstellen würde). Wobei man einschränkend darauf hinweisen muss, dass der Bundesgesundheitsminister die Vollfinanzierung explizit ausschließlich an neue Pflegestellen gekoppelt hat, um den Krankenkassen entgegenzukommen. Die von Szent-Ivanyi in seinem Artikel zitierte Kassenseite greift angesichts der gegenwärtig in der öffentlichen Berichterstattung und Diskussion eher im Mittelpunkt stehenden massiven Personalprobleme in der Altenpflege scheinbar durchaus geschickt ein (angebliches) Bedrohungsszenario für diesen sowieso schon mehrfach gebeutelten Bereich auf:
»So geht deren Spitzenverband davon aus, dass die Regelung im Kampf um das knappe Personal auf dem Arbeitsmarkt zulasten der Altenpflege gehen wird. „Die Kliniken werden die Altenpflegeheime leer kaufen“, sagte Verbands-Vize Johann Magnus von Stackelberg am Mittwoch.«
Das muss man einen Moment auf sich wirken lassen: Die These, die hier von einem Spitzenfunktionär der Krankenkassen vorgetragen wird, geht in die Richtung, dass die Kliniken, wenn man sie denn zwingt, alle lebenden und greifbaren Pflegekräfte aufsaugen und aus den Altenheimen massenhaft die Pflegekräfte in die Krankenhäuser strömen werden, die dann auch noch besser bezahlen können, weil sie wiederum vollständig von den Krankenkassen bezahlt werden für diese Personalausgaben.
Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle irritiert innehalten und einwenden, dass es doch nicht ohne Grund im bisherigen System die Trennung der Pflegeausbildungen in die auf den Krankenhausbereich ausgerichtete Gesundheits- und Krankenpflege auf der einen und die Altenpflege auf der anderen Seite gibt. Und wurde gerade im Umfeld der nunmehr beschlossenen Reform der Pflegeausbildungen, die eigentlich diese Versäulung durch eine generalistische Pflegeausbildung für alle ersetzen sollte, was aber durch das nunmehr verabschiedete Kompromissmodell wieder ausgehebelt wurde, nicht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege anspruchsvoller sei als die in der Altenpflege?
Der Blick auf die nackten Zahlen hinsichtlich des Pflegepersonals in den Krankenhäusern kann uns Aufklärung verschaffen hinsichtlich der Frage, ob und wie viele Altenpflegefachkräfte heute schon in den Kliniken arbeiten. Denn es gibt durchaus Krankenhäuser, die Altenpflegefachkräfte beschäftigen, beispielsweise auf internistischen oder geriatrischen Stationen oder im Rahmen von Nachtdiensten. Aber sind das wirklich viele?
Die Gruppe der Altenpflegefachkräfte wird noch nicht einmal als eigenständige Kategorie ausgewiesen in der Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamtes, sondern wenn es sie gibt, dann tauchen sie als Teilmenge in der Reste-Sammelgruppe der „Sonstigen Pflegepersonen“ auf. In einer mehr als überschaubar kleinen Anzahl.
Nun könnte man dem Kassenlager zugute halten, dass sich das vielleicht ändern würde im Sinne einer Ausweitung der Zahl der in den Kliniken beschäftigten Altenpflegekräfte, wenn die Krankenhäuser aufgrund der gesetzgeberischen Vorgaben gezwungen werden, ihr Pflegepersonal zu vergrößern, aber auf dem „Markt“ keine qualifizierten Gesundheits- und Krankenpfleger/innen mehr finden. Und das ist ja heute schon in vielen Regionen der Fall, vgl. hierzu Kliniken finden keine Pflegekräfte als eines von unzähligen Beispielen: »Noch nie war die Personalnot in Baden-Württembergs Kliniken so groß wie heute. 1200 Stellen können derzeit nicht mit Pflegefachkräften besetzt werden. Zudem fehlen 400 Ärzte.«
Und man sollte sich keinen Illusionen hingeben – die Pflege-Arbeitsmärkte sind regional, teilweise lokal strukturierte Märkte, bundesweite Zahlen helfen hier überhaupt nicht.
Aber es geht ja noch weiter mit der Kritik des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung, von der Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel berichtet. Und bei den folgenden Ausführungen muss man gelinde gesagt die Luft anhalten, wenn er den Verbands-Vize Johann Magnus von Stackelberg zitiert:
Es »bestehe die Gefahr, dass das Pflegepersonal in den Kliniken nicht mehr sinnvoll eingesetzt werde. „Ich kann mir die Investition in den Lift sparen, weil ich genug Pflegerinnen habe, die die Wege erledigen können“, sagte von Stackelberg. Das sei nicht nur „menschlich zynisch, sondern auch unwirtschaftlich“.«
Wo lebt der Mann? Wann war der zum letzten Mal in einem Krankenhaus? Man kann über so einen Unsinn nur den Kopf schütteln.
Und hinsichtlich des Themas Personaluntergrenzen bekommen wir auch keine frohe Botschaft serviert: »Die Kassen verteidigten … die ersten Verhandlungsergebnisse zur Einrichtung von Personaluntergrenzen in den Kliniken. Sie sehen – anders von den Gewerkschaften gefordert – in einem ersten Schritt nur vor, dass die Kliniken mit dem niedrigsten Personalbestand mehr Stellen schaffen müssen.«
Genau dieser Ansatz ist hier bereits auseinandergenommen und notwendigerweise kritisiert worden – in dem Beitrag Wenn das aus der Systemlogik definierte Unterste am Ende zum Obersten wird, sollte man sich nicht wundern. Zur Ambivalenz der geplanten Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege vom 3. Juni 2018. Das bislang von den Verhandlungspartner präferierte Verfahren würde im Ergebnis dazu führen, dass lediglich die 10 bis 25 Prozent der derzeit am schlechtesten ausgestatteten Krankenhausabteilungen mehr Personal vorhalten müssen als Folge des geplanten Perzentilansatzes bei der Festlegung von Personaluntergrenzen.
Aber man sollte das auch systemisch verstehen – was erwartet man denn? Dazu meine Anmerkung aus dem Beitrag vom 3. Juni 2018: »Man muss sich das unauflösbare Dilemma an dieser Stelle verdeutlichen: Der Gesetzgeber beauftragt ausschließlich die Kostenträger (= Krankenversicherungen) sowie die Leistungserbringer (= Krankenhäuser) mit der Ausarbeitung von Personaluntergrenzen in der Pflege. Man muss keine längeren Überlegungen anstellen, dass es hier eine Menge Interessenkonflikte geben muss, denn die Kostenträger haben vor Augen, dass sie eventuelle Mehrkosten finanzieren müssen und die Krankenhausträger stehen vor dem Problem, dass solche Untergrenzen bei Nicht-Einhaltung dazu führen können bzw. werden, dass sie beispielsweise mit Belegungs- und Aufnahmestopps und den damit verbundenen Einnahmeverlusten konfrontiert sein könnten. Wer von den beiden soll ein Interesse daran haben, kosten- bzw. erlösrelevante Verbesserungen bei der Personalausstattung auf die Gleise zu setzen?«
Aber „gut Ding will Weile haben“, so eine Volksweisheit, wobei das mit der Weile auch gilt, wenn das Ding überhaupt nicht gut wird. Denn der „dynamische Zeitplan“ der Akteure im Gesundheitswesen – auf den ist auch hier wieder einmal Verlass, wi Szent-Ivanyi berichtet:
»Konkrete Zahlen für die Personaluntergrenzen sind allerdings noch nicht vereinbart. Wie so oft waren die Akteure im Gesundheitswesen nicht in der Lage, die bis Ende der Woche laufende Frist einzuhalten. Die Kassen gehen aber davon aus, dass die Einigung Anfang 2019 steht.«