Die Schlecker-Welt ist Geschichte, aber die Klage über schlechte Arbeitsbedingungen nicht. Die Drogeriemarktkette Rossmann und das neue alte Problem: Werkvertrag oder – illegale – Leiharbeit?

Das Thema Werkverträge und der Grenzbereich zur illegalen Arbeitnehmerüberlassung ist mal wieder ans Tageslicht befördert worden. Schon seit Jahren ein Thema und auch derzeit Teil der gesetzgeberischen Aktivitäten einer „Reform“ der Leiharbeit, konkret des AÜG (vgl. hierzu weiterführend Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze, am 17. Oktober 2016 wird im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine Sachverständigenanhörung zum Gesetzentwurf stattfinden). Eigentlich ist der Unterschied simpel: Wenn sich ein Unternehmen Personal entleiht von einem Leiharbeitsunternehmen, dann kann es diese Mitarbeiter in seinem Unternehmen so verwenden, als wären sie seine „normalen“ Beschäftigten, er hat dann auch das Direktionsrecht gegenüber den entliehenen Arbeitnehmern. Wenn das Unternehmen hingegen ein Subunternehmen beauftragt, einen Werkvertrag zu erledigen, dann dürfen die Mitarbeiter im Werkvertrag nicht eingegliedert werden in die normale Belegschaft und das Werkvertragsunternehmen muss als „Betrieb im Betrieb“ fungieren. Es schuldet dem Auftraggeber ein vereinbartes Werk (oder beim Dienstvertrag eine vereinbarte Dienstleistung).

Und nun erreichen uns wieder einmal Berichte aus dem Drogeriemarktbereich, den viele immer noch mit der untergegangenen Welt von Schlecker assoziieren. Oder mit dm – oder mit Rossmann. Und um das letzte Unternehmen geht es konkret und damit um den „Vorzeigeunternehmer“ Dirk Roßmann.

Das Politikmagazin „Report Mainz“ hat sich nun mit einem Beitrag in die Öffentlichkeit begeben, der allerdings eher auf das Gegenteil verweist: Der Vorzeigeunternehmer Rossmann steht erneut in der Kritik, so ist der überschrieben: Mitarbeiter von Fremdfirmen in „Rossmann“-Filialen klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und Bezahlung.

»Dirk Roßmann gilt als Vorzeigeunternehmer. Er hat das Firmenimperium mit mehr mit als 3.000 Filialen und einem Umsatz von fast 8 Milliarden Euro aufgebaut. In der Öffentlichkeit sieht er sich gern in der Rolle des stets um seine Mitarbeiter bemühten Firmenpatriarchen.
Gemeinsame Recherchen des Magazin stern und von REPORT Mainz zeigen allerdings, dass es neben den relativ gut bezahlten Rossmann-Mitarbeitern auch tausende Billiglöhner in den Filialen gibt. Sie sind Mitarbeiter einer Fremdfirma, mit der Rossmann einen so genannten Werkvertrag geschlossen hat. Doch ob diese Konstruktion juristisch in diesem Fall wirklich legal ist, daran bestehen erhebliche Zweifel. Würde sich stattdessen der Verdacht der illegalen Arbeitnehmerüberlassung bestätigen, hätte das gravierende Folgen für die Firma Rossmann.«

Der stern berichtet unter der Überschrift: Verdacht illegaler Arbeitnehmerüberlassung bei Rossmann. Dort findet man diese Hinweise:

»Beim Einsatz von Werkvertragsarbeitern in Filialen der Drogeriekette Rossmann könnten rechtliche Regeln gebrochen worden sein … Rossmann setzt für Einräumarbeiten in seinen Filialen tausende Mitarbeiter des Subunternehmens Promota.de auf Basis von Werkverträgen ein. Interne Firmenunterlagen, Filmaufnahmen aus Rossmann-Filialen und Aussagen von Mitarbeitern und legen jedoch den Verdacht nahe, dass Angestellte des Subunternehmens und Rossmann-Stammbeschäftigte in den Filialen enger zusammenarbeiten, als dies nach den Regeln für Werkverträge zulässig ist.«

Rossmann und Promota.de haben solche im Raum stehenden Vorwürfe bisher stets mit Verweis auf bestandene Überprüfungen durch den Tüv Rheinland zurückgewiesen. Nun allerdings haben die recherchierenden Journalisten Material bekommen, das diesen Beleg für ordentliches Verhalten fragwürdig erscheinen lässt, angereichert um Filmaufnahmen:

»Nach einer internen Schulungsunterlage der Promota.de-Tochter Tempus vom Frühjahr 2016 verändert das Subunternehmen seine Arbeitsabläufe jedoch offenbar gezielt dann, wenn die Tüv-Prüfer in den Rossmann-Filialen erscheinen. So sollen die Einräumer „während des Audits“ spezielle „Besonderheiten“ beachten und Regale nicht gleichzeitig mit Rossmann-Mitarbeitern einräumen. „Die Ausübung der gleichen Tätigkeit“ von Mitarbeitern der Drogeriekette und des Subunternehmens „zur gleichen Zeit ist ein Indiz für ‚verdeckte Arbeitnehmerüberlassung‘ und gefährdet den Werkvertrag“, ermahnte das Unternehmen seine Teamleiter. Sind keine Tüv-Prüfer im Haus, sei es hingegen vollkommen normal, dass die Werkarbeiter die Regale zeitgleich mit Rossmann-Mitarbeitern einräumen, bestätigten Promota.de-Mitarbeiter dem stern. Das gleiche Bild zeigte sich auf Filmaufnahmen aus Rossmann-Filialen in verschiedenen deutschen Städten, die „Report Mainz“ vorliegen.«

Peter Schüren, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Münster und ein ausgewiesener Kenner der Werkvertragsproblematik, wird zitiert mit den Worten, dass es angesichts des Materials „ernsthafte Verdachtsmomente, die für eine illegale Arbeitnehmerüberlassung sprechen“, geben würde. Seiner Auffassung nach sollten hier die Behörden aktiv werden, die für die Bekämpfung von Scheinwerkverträgen zuständig sind: „Das ist ein Fall für den Zoll.“

In dem Fernsehbeitrag von „Report Mainz“ »klagen mehrere Mitarbeiter der Fremdfirmen zudem über schlechte Arbeitsbedingungen und miese Bezahlung. Sie empfinden die Arbeit als „Ausbeutung“ und „erniedrigend“ angesichts der Tatsache, dass sie im Vergleich zu „Rossmann“-Mitarbeitern viel weniger verdienten. Fahrten zwischen verschiedenen Einsatzorten würden nicht als Arbeitszeit bezahlt. Vielfach müsse umsonst gearbeitet werden, um zeitliche Vorgaben zu erfüllen.«

Und wir erfahren auch – nicht wirklich überraschend bei solchen Konstruktionen: „Rossmann“ ist zu 49 Prozent an der Firma „Promota.de“ beteiligt.

Aber der eine oder andere wird sich erinnern – Rossmann, da war doch schon mal was? Und schreiben nicht auch die Redakteure von „Report Mainz“, dass das Unternehmen „erneut“ in der Kritik stehe?

Genau, schon im Mai 2012 erschien im Handelsblatt ein hervorragend recherchierte Artikel von Massimo Bognanni unter der Überschrift Die verborgene Seite des Rossmann-Reiches. Im Lichte der neuen Vorwürfe gegen das Unternehmen lohnt der Blick in diesen Artikel: Statt auf Stammpersonal setzt der Drogeriekonzern Rossmann auf billige Arbeitskräfte ausländischer Subunternehmen – und die Insider werden nicht wirklich überrascht sein, dass in der Beschreibung der konkreten Umsetzung des Lohndumping die Werkverträge auftauchen. Bognanni beschrieb das Konstrukt damals so:

„Was die meisten Kunden nicht ahnen: Nicht alles bei Rossmann ist besser als bei Schlecker. Es gibt auch eine dunkle, verborgene Seite des Rossmann-Reiches. Handelsblatt-Recherchen werfen erstmals Licht auf ein Geflecht aus Subunternehmen mit englischen Namen und polnischen Töchtern.
Nicht ohne Grund arbeiten die Subunternehmen im Verborgenen. Ihre Beschäftigten befüllen bei Rossmann die Regale, erledigen Inventuren, sitzen an der Kasse. Sie sind Billiglöhner, verdienen deutlich weniger, als es die Einzelhandelstarife vorgeben.

Die Potsdamer „Instore Solution Services GmbH“ (ISS) ist so ein dunkler Fleck. Dirk Roßmanns Investitionsfirma ist an der ISS mit 49 Prozent beteiligt. So steht es im Jahresabschluss der „Rossmann Beteiligungs GmbH“ vom Sommer 2011. Knapp 32 Millionen Euro Umsatz machte die ISS 2010 und 1,27 Millionen Euro Gewinn. Zahlen, über die sich Dirk Roßmann freuen dürfte.
Mitarbeiter und Teamleiter der ISS haben hingegen weniger zu lachen. Sie berichten dem Handelsblatt, wie das System Rossmann funktioniert: In den frühen Morgenstunden rücken sie an. Auf Palettenwagen stehen die Shampoo-Flaschen, Baby-Gläschen und Deko-Kerzen, die sie in die Regale räumen. Ein Sortiment von über 17 000 Produkten. Bis neun Uhr, wenn die Läden öffnen, sollen die ISS-Leute fertig sein. Brauchen sie länger, verdienen sie für die Überstunden meist nichts, klagen Beschäftigte.

Der Drogerieunternehmer profitiert indes doppelt von den billigen Arbeitskräften: durch seine Beteiligung an der ISS einerseits, durch die gedrückten Löhne andererseits. Der Verdi-Tarifvertrag in Niedersachsen sieht für das Wareneinräumen einen Stundenlohn von mindestens 9,86 Euro vor. Doch bei Rossmann gibt es eine andere Lösung: den Werkvertrag. Damit überträgt Rossmann das Regaleinräumen von der Stammbelegschaft auf die ISS. Und das ist deutlich billiger.
Denn die Werkvertragler haben einen eigenen Tarifvertrag. Dieser, unterzeichnet vom Arbeitgeberverband „Instore und Logistik Services“ und der Gewerkschaft DHV, sieht im Westen einen Stundenlohn von 6,63 Euro vor, in Ostdeutschland sind es 6,12 Euro. Ersparnis im Vergleich zum Verdi-Vertrag: 33 Prozent. Und die Werkverträge haben weitere Vorzüge: Im Gegensatz zu der Zeitarbeit muss der Betriebsrat einer Auslagerung an Werkvertragler nicht zustimmen. „Für uns sind die ISS-Beschäftigten die einzige Möglichkeit, an der Personalkostenschraube zu drehen“, erklärt ein Rossmann-Bezirksleiter.

Wie viele der ISS-Werkvertragler für die Drogeriekette arbeiten, verrät Rossmann auch nicht. Nur so viel: Die ISS-Arbeiter befüllen in jeder zweiten Filiale Regale der Drogeriekette, in über 800 Märkten.

Eine weitere Investition der Rossmann’schen Beteiligungsgesellschaft ist die „Instore Solutions Personell GmbH“ (ISP). An der Leiharbeitsfirma hält Roßmann 22,5 Prozent. ISP-Leiharbeiter sitzen in Filialen an der Kasse. „Ich habe in Märkten gearbeitet, in denen ISP-Leiharbeiter kassierten, ISS-Leute die Regale befüllten. Nur noch ein Kollege arbeitete direkt für Rossmann – und das war der Filialleiter“, berichtet ein Werkvertrages.

Auch bei den Inventuren setzt die Firma auf ein Subunternehmen. In Rossmann-Filialen zählen Billiglöhner der polnischen Firma „Invent“ die Bestände. Invent ist als Tochter der „ISS Polska“ mit der Potsdamer ISS verbunden. 250 Zloty, umgerechnet 59,42 Euro, bekommt ein polnischer Inventurhelfer brutto am Tag. Die Schichten dauern bis zu neun Stunden – das macht einen Stundenlohn von 6,60 Euro. In Niedersachsen sieht der Tarifvertrag für Inventurhelfer einen Stundenlohn von 7,73 Euro vor.“

Sollten sich die neuen Vorwürfe gegen das Unternehmen erhärten, dann hätten wir es also mit einem „Wiederholungstäter“ zu tun. Man wird abwarten müssen, ob Ermittlungen aufgenommen werden und was die rechtlich verwertbar zu Tage fördern (können), denn das ist eines der zentralen Probleme beim Kampf gegen die missbräuchliche Verwendung von Werkverträgen: Der gerichtsverwertbare Nachweis.

Und wenn wir schon im Themenfeld Werkverträge und Abgrenzung zur Leiharbeit sind, kann man an dieser Stelle auch mit Blick auf einen Bericht, der vor mehreren Jahren einen Moment lang die mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, folgendes berichten:

Manche werden sich noch erinnern an das Frühjahr 2013, als die SWR-Reportage Hungerlohn am Fließband über Werkverträge und Leiharbeit beim Premium-Hersteller Daimler im ARD-Fernsehen ausgestrahlt wurde. Im Anschluss wurde das Thema bei „Hart aber fair“ aufgegriffen. Der SWR-Journalis Jürgen Rose hatte undercover beim Daimler gearbeitet und gefilmt. Der Konzern war not amused (um das mal vornehm auszudrücken) und hat den SWR mit Klagen überzogen, um die weitere Ausstrahlung zu verhindern. Ganz klar ging es auch darum, den Medien ein deutliches Signal zu senden, dass man rigoros gegen jeden Nachahmer vorzugehen gedenkt und Journalisten die Finger davon lassen sollten, weil sie mit Klagen überzogen werden. In mehreren Instanzen ist Daimler aber mit diesem Ansinnen gescheitert. Und Ende September 2016 kommt nun endlich diese erfreuliche Botschaft von ganz oben: Daimler scheitert mit Beschwerde vor dem BGH. In der letzten Instanz hat der Automobilbauer nun verloren:

»Die Niederlage des Autobauers Daimler im Streit mit dem Südwestrundfunk (SWR) über eine Undercover-Reportage zu Niedriglöhnen ist endgültig besiegelt. Eine Beschwerde von Daimler wegen Nichtzulassung zur Revision sei abgewiesen worden, sagte eine Sprecherin des Bundesgerichtshofs (BGH) am Mittwoch in Karlsruhe (Az.: VIZR427/15).
Das Berufungsverfahren vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht (OLG) hatte Daimler 2015 verloren. Auch wenn bei dem Filmdreh das Hausrecht des Konzerns verletzt worden sei, rechtfertige der aufgedeckte Missstand den Eingriff in die Rechte der Firma, hatte das OLG 2015 entschieden.«

Allerdings kann es der Konzern nicht lassen, für die Zukunft zu drohen – und die Zielgruppe ist klar:
Eine Daimler-Sprecherin sagte, die in den Fall involvierten Gerichte hätten „bloße Einzelfallentscheidungen“ getroffen. „Vergleichbare Aktivitäten würden wir wieder ebenfalls gerichtlich klären lassen.“

Das ist Real. Ein weiteres Trauerspiel der tarifvertraglichen Entleerung im Einzelhandel oder am Ende ein trojanisches Pferd?

Erneut muss hier berichtet werden von einer der großen nicht nur tarifpolitischen Baustellen des Landes – dem Einzelhandel, insbesondere dem Lebensmitteleinzelhandel. Hier arbeiten hunderttausende Beschäftigte, überwiegend Frauen. Und die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine ständige Wiederholungsschleife der Klage über sich verschlechternde Arbeitsbedingungen für die dort arbeitenden Menschen, über Tarifflucht der Arbeitgeber, garniert mit Berichten über – an eine ausgemachte Donquichotterie erinnernde – Bemühungen der Gewerkschaft ver.di, Widerstand zu organisieren und die Zerbröselung einer vor dem Jahr 2000 mal wohl geordneten Branche mit einem bis dahin allgemeinverbindlichen Tarifvertrag aufzuhalten und umzukehren.

Und die Warenhauskette Real (Eigenschreibweise: real), eine Tochter des Metro-Konzerns, taucht neben anderen Unternehmen immer wieder auf, wenn es um die Beschreibung der angesprochenen Entwicklungslinie im Sinne einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen geht. Auch in diesem Blog, beispielsweise am 1. Oktober 2015 unter der Überschrift Tarifflucht des Arbeitgebers und Zwangsteilzeit für die Beschäftigten. Das ist Real. Wieder einmal über eine Branche auf der Rutschbahn nach unten und dann wieder am 18. Dezember 2015 in dem Beitrag Tarifbindung erreicht – Tarifbindung verloren. Das tarifpolitische Hin und Her im Einzelhandel am Beispiel von Primark und Real. Es geht um ein Unternehmen mit mehr als 36.000 Beschäftigten und (noch) 293 Märkten in Deutschland, wo ein Umsatz von 7,7 Mrd. Euro erwirtschaftet wurde.

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Das deutsche „Jobwunder“ und seine Kelleretagen: „Arbeit auf Abruf“ auf dem Vormarsch. Den möglichen Endpunkt – „Null-Stunden-Verträge“ – kann man schon auf der Insel besichtigen

Das Spielzeug mag bei dem einen oder anderen Kind für glückliche Augen sorgen, aber bei denen, die das an die Frau oder den Mann bringen müssen, geht es weniger strahlend zu. Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben, so hat Anette Dowideit ihren Artikel überschrieben. In den Läden von Toys“R“Us sind neun von zehn Mitarbeiter Teilzeitbeschäftigte mit flexibler Arbeitszeit. Oft ist das Gehalt so gering, dass die Beschäftigten aufstockende Leistungen vom Jobcenter aus dem Grundsicherungssystem beziehen müssen. »90 Prozent aller Angestellten dort haben nach Informationen der „Welt am Sonntag“ flexible Teilzeit-Verträge. Diese garantieren den Angestellten lediglich eine Mindeststundenzahl. Erst über zusätzliche Mehrstunden, mit denen die Betroffenen jedoch nicht verlässlich planen können, kommen sie auf ein volles Gehalt … Nach Angaben der Gewerkschaft Ver.di führe die flexible Teilzeit dazu, dass es unter den rund 1.700 Angestellten in den 65 Toys“R“Us-Filialen eine signifikante Zahl an Aufstockern gebe. Diese müssen ihr Gehalt mit staatlichen Sozialleistungen aufbessern«, so Dowideit in ihrem Artikel.  Und sie benennt auch die, von denen man schon eher glückliche Augen erwarten darf: »Für Arbeitgeber sind solche kapazitätsorientierten Verträge attraktiv, da sie – gerade im hart umkämpften Einzelhandel – helfen, die Personalkosten gering zu halten. Sie verhindern, dass Mitarbeiter bezahlt werden müssen, wenn die Läden leer sind, während in Spitzenzeiten keine zusätzlichen Kräfte eingestellt werden müssen.«

Arbeitsverträge mit „flexiblen Einsatzzeiten“ seien schon heute in all jenen Branchen ein Thema, die von unplanbaren Nachfrageschwankungen abhängen, wie Gastronomie und Tourismus etwa. Und sie sind auch nicht ein neues Phänomen.

Aber es geht hier um die behauptete Expansion dieser Beschäftigungsform. Bereits im vergangenen Jahr konnte man dazu den Beitrag KAPOVAZ, Arbeit auf Abruf – ein ganz mieses Teilzeitmodell von Markus Krüsemann lesen:

»Über den Anteil der Beschäftigten, die Arbeit auf Abruf leisten, liegen abweichende Angaben vor. Ein WSI-Report vom November 2014 geht davon aus, dass mittlerweile acht Prozent der Betriebe in Deutschland Arbeit auf Abruf nutzen. Von dem Modell wären dann etwa 5,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten betroffen. Andere, auf Arbeitgeberbefragungen beruhende Quellen nennen auch höherer Anteilswerte. Abrufarbeit ist insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Bereich Wasserversorgung, im Handel, Gast- und Baugewerbe sowie im Verkehrsbereich verbreitet.«

Bei der von Krüsemann zitierten WSI-Studie handelt es sich um diese Veröffentlichung: Nadine Absender et al.: Arbeitszeiten in Deutschland. Entwicklungstendenzen und Herausforderungen für eine moderne Arbeitszeitpolitik. WSI-Report 19, Düsseldorf, November 2014. Dort findet man auf der Seite 38 Beispiele aus der betrieblichen Praxis zur „Arbeit auf Abruf“.
Krüsemann schildert in seinem Beitrag Beispiele wie eine Regalauffüllerin im Einzelhandel oder die Nutzung des Instruments bei der Deutschen Post.

Doch mittlerweile gehen die Zahlen der Inanspruchnahme der Arbeit auf Abruf offensichtlich nach oben, wie Anette Dowideit in einem weiteren Artikel berichtet: Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder:

»Bundesweit sind bereits etwas über anderthalb Millionen Menschen betroffen von den „kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeiten“, kurz Kapovaz. Dies hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auf Anfrage der „Welt“ berechnet.«

Und zahlreiche Unternehmen (nicht nur) aus dem Handel bedienen sich dieser Arbeitszeitgestaltung:

»Neben Toys“R“Us nutzen auch andere Handelsketten das Instrument, das dem Unternehmen Flexibilität verschafft und den Angestellten häufig an den Rand des Existenzminimums drängt. Kik zum Beispiel – ein entsprechender Arbeitsvertrag liegt der Redaktion vor. Auch Esprit, H&M und die süddeutsche Bekleidungskette Breuninger arbeiteten bereits mit ähnlichen Konstruktionen.«

Ein Aspekt, der bei der Bewertung dieser Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht vergessen werden sollte, bezieht sich auf die (potenziellen) Auswirkungen hinsichtlich der betrieblichen Mitbestimmung, denn man kann sich vorstellen, welches Druckmittel die Arbeitgeber gegen ihre derart beschäftigten Mitarbeiter haben, wenn diese beispielsweise einen Betriebsrat gründen wollen. Man könnte dann schlichtweg das Vorenthalten der „Mehrarbeit“, die normalerweise aber vorausgesetzt und seitens der betroffenen Arbeitnehmerinnen aus eingeplant ist, einsetzen, um die Betroffenen von solchen Aktivitäten „abzuhalten“. Und das wäre faktisch nicht illegal, denn der eigentliche Arbeitsvertrag enthält ja eine deutlich niedrigere Stundenzahl, die man erfüllen muss seitens des Arbeitgebers, aber auch nicht mehr.

Da ist noch Luft drin aus Arbeitgebersicht: »Tatsächlich ruft die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bereits nach einer Lockerung der derzeitigen gesetzlichen Vorgaben für solche Verträge: Die Ankündigungsfrist von zurzeit vier Tagen, wann ein Mitarbeiter zum Dienst eingeteilt werde, müsse verkürzt werden, sagte ein BDA-Sprecher auf Anfrage«, berichtet Anette Dowideit in ihrem Artikel Toys’R’Us-Mitarbeitern reicht Gehalt nicht zum Leben.

Gleichsam der Endpunkt dieser Entwicklung wären dann (aus Arbeitgebersicht) konsequenterweise „Null-Stunden-Verträge“, also die totale Flexibilisierung der Inanspruchnahme und zugleich Zugriffsmöglichkeit auf die betroffenen Arbeitnehmer. Die gib es bereits, in Großbritannien. Und dort werden sie intensiv genutzt und sind zugleich Gegenstand einer sehr kritischen Debatte. Die sogenannten „zero-hours contracts“ wurden auch hier schon thematisiert, beispielsweise am 14. März 2014 in dem Blog-Beitrag Schon mal was von „Nullstundenverträgen“ gehört? sowie durchaus passend am 1. Mai 2014 auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“: Ein „Arbeitgeber-Traum“ und ein Albtraum für Arbeitnehmer am Tag der Arbeit – ein Blick in das Land der „Null-Stunden-Arbeitsverträge“.

Das ist in Großbritannien wirklich kein Nischenproblem mehr: So kann man dem Guardian am 9. März 2016 diesen Artikel entnehmen: UK workers on zero-hours contracts rise above 800,000. Ganz offensichtlich expandiert diese Beschäftigungsform auf der Insel enorm: »The number of workers on zero-hours contracts has increased by more than 100,000 over the past 12 months to exceed 800,000 for the first time, official figures show.«

Auch in Großbritannien kann man erkennen, dass diese besonders ungleichgewichtige Beschäftigungsform dort praktiziert wird, wo „schwache“ Beschäftigtengruppen entsprechend genötigt werden können, also in bestimmten Branchen und bei einem sehr hohen Frauenanteil und bei einem schwachen bis nicht vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad:

»Zero-hours contracts are disproportionately offered to more vulnerable workers with weak bargaining power in sectors such as hotels and food services, health and social work.«

Auch Krüsemann hatte in seinem Beitrag auf die Entwicklung in Großbritannien hingewiesen und das Problem auf den Punkt gebracht:

»Da vertraglich nicht einmal eine Mindestbeschäftigungszeit festgelegt wird, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, Arbeit anzubieten, gearbeitet wird nur dann, wenn Arbeit anfällt. Und natürlich wird auch nur für die Arbeit gezahlt, die auch geleistet worden ist. Wenn gar keine Arbeit anfällt, gehen die Beschäftigten auch beim Lohn leer aus.«

Ralf Wurzbacher greift das Thema ebenfalls auf in seinem Artikel Kapovaz für Arme:

»Ganz soweit ist man hierzulande (noch) nicht. Bei fehlender Vereinbarung zum Arbeitsumfang gelten grundsätzlich mindestens zehn Stunden bezahlte Wochenarbeitszeit als gesetzlich verpflichtend. Außerdem müssen laut Teilzeit- und Befristungsgesetz Einsatzzeiten vier Tage im voraus festgelegt werden.«

Allerdings, so Wurzbacher, gibt es immer wieder Hinweise, dass diese Vorschrift in der Praxis nicht eingehalten wird. Besonders schwer treffe es dabei die sogenannten Minijobber, deren Lage doppelt prekär sei. Zur fehlenden sozialen Absicherung und dem geringen Verdienst käme bei Kapovaz im Minijob noch die Ungewissheit über Einsatzzeiten und die am Monatsende bezahlte Gesamtstundenzahl.

Die Flexibilisierung zugunsten der Arbeitgeber schreitet offensichtlich voran. Das geht über die skizzierte „Arbeit auf Abruf“ hinaus, Anette Dowideit spricht in ihrem Artikel Die bittere Wahrheit über das deutsche Jobwunder einen weiteren Punkt an, der ebenfalls dem gleichen Mechanismus folgt: Externalisierung von Arbeitgeberrisiken auf die Beschäftigten.

Das kann man auch über bestimmte Tochtergesellschaftskonstruktionen erreichen. Dazu schreibt sie:

»Die Möbelhauskette XXXL etwa, die überall in Deutschland riesige Läden betreibt, stellt ihre Verkäufer bei Tochtergesellschaften des Möbelkonzerns an. Die bekommen dann von der Betreiberfirma des jeweiligen Möbelhauses einen Auftrag.
Wird dieser Auftrag gekündigt, ist die Beschäftigungsgesellschaft insolvent – und die Mitarbeiter können auf einen Schlag betriebsbedingt gekündigt werden.«

Das wurde ebenfalls hier schon mit einem eigenen Beitrag „gewürdigt“: Arbeitnehmer entsorgen: Multi-Outsourcing der Beschäftigten in Zombie-Gesellschaften. Ein Beispiel aus der Welt der Möbelhäuser vom 20. März 2016.

Nun könnte man meinen, dass solche Entwicklung die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles nicht ruhen lässt und das bereits eifrig gegrübelt wird, ob und wie man was dagegen machen kann. Da muss man aber enttäuscht werden, wenn es stimmt, was Dowideit berichtet:

»Ministerin Nahles will jedoch weder Kapovaz-Verträgen noch Tochtergesellschaftskonstruktionen etwas entgegensetzen. Man sehe keinen Handlungsbedarf, teilt das Ministerium zum Thema Arbeit auf Abruf mit.«

Man sieht nichts. Ministerielle Dunkelheit hat sich ausgebreitet. Das irgendwie kennt man derzeit auch aus so einigen anderen sozialpolitisch relevanten Feldern.

Ausbildung light für junge Flüchtlinge: Treibstoff für den Integrationsschub oder am Ende doch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt?

Es ist ja eine einfache Überlegung: Natürlich wird bei der Integration der Menschen, die zu uns gekommen sind als Flüchtlinge, ein gerüttelt Maß an deren Eingliederung in Erwerbsarbeit hängen. Je eher und je umfangreicher die Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt gelingt, umso besser sind die Integrationschancen. Nur auf diesen Weg können dann auch andere Baustellen bearbeitet werden, beispielsweise der ansonsten fällige Transferleistungsbezug. Und dass man in Deutschland ein bestimmtes Ausbildungsniveau benötigt, um überhaupt in die Nähe oder gar über ein Lohn zu kommen, der eine eigene Existenzsicherung und eine darüber hinausgehende Lebensführung ermöglicht, bedarf wohl kaum einer genaueren Ausleuchtung. Man kann natürlich versuchen, das in Zahlen zu kleiden und Studien zu verfassen, die trotz aller Rechnerei beispielsweise zu solchen tierschürfenden Erkenntnissen beitragen:

»Die Aufnahme von Flüchtlingen könnte die Staatskassen bei einem Scheitern der Integration in den Arbeitsmarkt langfristig mit insgesamt bis zu knapp 400 Milliarden Euro belasten. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung. Wenn die Integration gelingt, profitiert die Allgemeinheit allerdings von zusätzlichen Staatseinnahmen in Höhe von 20 Milliarden Euro.«

Wahnsinn. Und ein wirklich überschaubarer Korridor, von + 20 bis – 400 Mrd. Euro. Interessanterweise hat der Verfasser des Artikels, Mark Schieritz, diese Überschrift gewählt: Flüchtlinge kosten bis zu 400 Milliarden Euro. Da bekanntlich viele bei der Überschrift hängen bleiben, muss man sich schon fragen, was das angesichts des Inhalts der Studie (Holger Bonin: Gewinne der Integration. Berufliche Integration und Integrationstempo entscheiden über die langfristigen fiskalischen Kosten der Aufnahme Geflüchteter, Berlin 2016) soll, die ja nun ein ganz anderes Spektrum aufmacht.

Es ist müßig, sich in diesen Zahlenspielereien zu vertiefen. Auf dem Tisch liegt die Aufgabe, möglichst viele gerade der jungen Flüchtlinge mit einer Ausbildung auszustatten, die den Anforderungen in den meisten Branchen auf unseren Arbeitsmärkten entsprechen kann, will man wirklich nachhaltig eine Integration in der Erwerbsleben anstreben. Und dazu hat der Aktionsrat Bildung, in dem 13 Wissenschaftler um den Präsidenten der Hamburger Universität, Dieter Lenzen, und finanziert von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw), Vorschläge vorgelegt, die zugleich eine alte Wunde in der deutschen Berufsausbildungspolitik aufreißt.

Das Gutachten des Aktionsrats Bildung steht unter dem nüchtern daherkommenden Titel Integration durch Bildung. Migranten und Flüchtlinge in Deutschland. In dem Gutachten wird die gesamte Bildungskette, von der Kita angefangen, betrachtet und mit Empfehlungen versorgt.

Hier soll es vor allem um den Bereich der beruflichen Ausbildung gehen. Bildungsforscher fordern Ausbildung light für Flüchtlinge, so lautet beispielsweise einer der Artikel, in dem über die Vorschläge berichtet wird. Besser verkürzt als gar nicht: Bildungsforscher fordern, für Flüchtlinge die Standards der Berufsausbildung zu senken, um sie schneller in Arbeit zu bringen. Aber zugleich ahnt man, dass sich das einfacher anhört, als es dann ist: »Niedrigere Standards, einfachere Sprache in den Schulen – einige der Vorschläge, die der Aktionsrat Bildung zur Integration von Flüchtlingen gemacht hat, werden für Streit sorgen.«

Auch der Aktionsrat Bildung hat erkannt, was seit langem gepredigt wird: Die Sprache ist oft das größte Problem bei der Integration. „Wir brauchen einen massiven Ausbau der Sprachförderung, sowohl allgemeinsprachlich als auch berufsbezogen“, wird Bertram Bossardt von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft zitiert. Nun soll an dieser Stelle gar nicht dahingehend herumkritisiert werden, dass genau das ein zentrales Problem darstellt, nicht weil die Flüchtlinge nicht wollen, sondern weil es immer noch schlichtweg zu wenig Angebote gibt und auch die Situation der hier Lehrenden überwiegend als weiterhin katastrophal zu bezeichnen ist.

Der Aktionsrat Bildung hat sich darüber hinaus eine nicht neue Forderung zu eigen gemacht: Die Wissenschaftler plädieren für „theorieentlastete zweijährige Ausbildungsberufe“ und den Ausbau von Teilqualifizierungen, um jungen Flüchtlingen den Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Ergänzend soll die Berufsschulpflicht vom 16. bis zum 21. Lebensjahr ausgedehnt werden. Das sei wichtig, weil über die Hälfte der 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge unter 25 Jahre alt sei.

Bleiben wir bei einem der Kernvorschläge des Gutachtens, also das Plädoyer für verkürzte und zugleich „theorieentlastete“ Ausbildungen: »Gewerkschaften und Arbeitgeber sind skeptisch: Sie fürchten, dass kaum jemand die Absolventen braucht«, kann man in dem Artikel „Sie hätten auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance“ von Florian Diekmann lesen.
Dabei bringt der Beitrag durchaus Argumente, die in Richtung dessen gehen, was der Aktionsrat Bildung vorgetragen hat:

»Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) betont in einem aktuellen Bericht zwar, dass es noch keine repräsentativen Daten zur Qualifikation der Flüchtlinge gebe, geht aber auch bei der schulischen Bildung von einem „Bildungsgefälle“ zwischen jungen Flüchtlingen und ihren in Deutschland aufgewachsenen Altersgenossen aus.
Für den Bildungsökonomen Ludger Wößmann vom Münchner Ifo-Institut steht daher fest: „Wir werden nicht alle jungen Flüchtlinge zu Mechatronikern oder Fachinformatikern ausbilden können.“ Wößmann hält daher verkürzte Ausbildungen für sinnvoll, als Alternative zu den bestehenden anspruchsvollen, dreijährigen Berufsausbildungen.«

Das folgt offensichtlich der Logik, besser irgendeine Ausbildung als keine. Wenn das denn die Alternative wäre.

Genau an diesem Punkt wird sofort reichlich Skepsis aufgetischt. Die Vizevorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DBG), Elke Hannack, warnt vor „Häppchen-Ausbildungen“, die höchstens „auf schlechte Arbeit in prekären Verhältnissen vorbereiten“. Typisch gewerkschaftliche Bedenkenträger, wird der eine oder andere hier einwenden, die haben auch schon früher immer gegen ein Downgrading der bestehenden Ausbildungen gewettert, was vor den Flüchtlingen für die „leistungsschwachen“ Jugendlichen gefordert wurde, weil sie letztendlich befürchten, dass durch abgesenkte Ausbildungsstandards dann in einem weiteren Schritt auch die daraus erzielbaren Vergütungen abgesenkt werden (könnten).

Aber auch die Kammern der Arbeitgeber und der Zentralverband des deutschen Handwerks (ZDH) äußern sich kritisch zu den Vorschlägen.

Und in einem Punkt treffen sich die Vorbehalte der Gewerkschaften wie auch der Arbeitgeberseite:

»Es gebe für Ausbildungen von einem oder eineinhalb Jahren Dauer schlicht keinen Bedarf. Unterstützung bekommen sie von den Wissenschaftlern des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). „Die jungen Leute hätten mit einer solchen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance“, sagt Reinhold Weiß, Vizepräsident und Forschungsdirektor des BIBB.«

Aber der Aktionsrat Bildung hat ja neben den ganz abgespeckten Teilqualifizierungen auch für etwas entschlackte zweijährige Ausbildungsgänge votiert. Da fällt die Beurteilung differenzierter aus, was man beispielsweise vom DIHK zu hören bekommt: »Hier gibt es bereits rund 30 Berufe mit abgespeckter Fachtheorie, zumeist in Industrie und Handel, etwa den des Verkäufers. Bei den meisten von ihnen können die Absolventen im Anschluss ohne Zeitverlust noch einen Abschluss in einem dreijährigen Ausbildungsberuf anhängen – bei den Verkäufern wäre das zum Beispiel der Einzelhandelskaufmann. Die Fachleute nennen das „Durchstieg“. Auch der Handwerksverband ZDH will sich der zweijährigen Ausbildung nicht verschließen – sofern am Arbeitsmarkt Bedarf bestehe.«

Genau das zweifeln die Gewerkschaften an. Der DGB-Bildungsexperte Matthias Anbuhl wird so zitiert:

„Schon heute konzentrieren sich die zweijährigen Ausbildungen vor allem auf den Beruf der Verkäuferin“, sagt er. „Von den rund 45.000 zweijährigen Ausbildungsplätzen insgesamt entfallen allein 25.000 auf diesen einen Beruf.“ Erst kürzlich hätten Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam zwei zweijährige Ausbildungsberufe wieder abgeschafft, weil sie schlicht nicht benötigt wurden.

Und was bieten die Kritiker aus dem Lager des bestehenden Systems als Alternative? Sie verweisen unisono auf vorhandene Instrumente – dabei vor allem auf zwei: Zum einen die Einstiegsqualifizierung und zum anderen die assistierte Ausbildung. Wobei dann, um das nur anzumerken, deutlich mehr Mittel für die assistierte Ausbildung bereitgestellt werden müssten. Bisher ist das doch eher sehr überschaubar dimensioniert.

Was bleibt ist das ungute Gefühl, dass wir auf der einen Seite durchaus neue Wege der beruflichen Ausbildung gehen müssen, um die betroffenen jungen Flüchtlinge auch mitzunehmen. Man muss ihnen Einstiegspunkte in unser zugegeben nicht einfach strukturiertes Ausbildungswesen ermöglichen und dabei immer auch im Hinterkopf behalten, dass es die Sprache ist, die viele davon abhält, sich entsprechend einbringen zu können. Und wir müssten einfach nur mal gedanklich die Vorstellung entwickeln, wir hätten nach Syrien oder nach Afghanistan fliehen müssen. Auch unter uns wird es sicher zahlreiche Menschen geben, die gar keinen oder nur einen sehr mühsam aufzubauenden Zugang zur jeweiligen Sprache haben).

Netto, immer wieder Netto. Die ganz harte Nuss unter den Billig-Discountern hinsichtlich schlechter Arbeitsbedingungen. Und die scheitern an einem Bonbon, der einer Verkäuferin zum Verhängnis werden sollte

Dass die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel, vor allem bei den Discountern, seit Jahren immer wieder Thema der kritischen Berichterstattung sind, ist nicht neu und verwundert auch nicht, wenn man sich den brutalen Preis- und daraus resultierend Kostendruck anschaut. Die Margen sind ausgereizt, die Zulieferer ausgequetscht, da bleiben nur die eigenen Mitarbeiter, wenn es um Kostensenkung geht. Und seit die damalige rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 die Allgemeinverbindlichkeit des tariflichen Regelwerks aufgehoben hat, schwillt die Akte mit Berichten über Lohndumping(versuche) in der Branche von Jahr zu Jahr an. Ein Unternehmen taucht dabei auch in der Berichterstattung als eine ganz harte Nuss immer wieder auf: Netto Marken-Discount*. Eine harte Nuss deshalb, weil die sich überhaupt nicht beeinflusst zeigen von den vielen kritischen Berichten, die schon geschrieben oder ausgestrahlt wurden (vgl. dazu nur zwei Beispiele von ganz vielen: Bereits im Jahr 2011 gab es bei Frontal 21 einen kritischen Beitrag über die Arbeitsbedingungen bei Netto, das Video kann man hier anschauen: Schikane: Netto-Mitarbeiter packen aus – Ausnutzung und brutales Klima vom 14.06.2011. Und 2015 wurde eine längere Dokumentation ausgestrahlt: Das System Netto. Überstunden und Geld vom Staat. Und auch in diesem Blog wurde immer wieder über die Arbeitsbedingungen und die Hintergründe der vielen notwendigen Skandalisierungen berichtet, dazu eine Auswahl an Beiträgen). Um so mehr darf man sich freuen, wenn die mal eins auf die Ohren bekommen. Das ist jetzt geschehen. Durch das Arbeitsgericht Paderborn in Nordrhein-Westfalen: Arbeitsgericht Paderborn: Kündigung wegen Bonbonlutschens war unwirksam, so ist dazu eine Meldung der Gewerkschaft ver.di überschrieben.


Jetzt müssen wir erst einmal den Sachverhalt zur Kenntnis nehmen, auch wenn es schwer fällt, zu glauben, dass das in der Wirklichkeit abgelaufen ist – in einem Roman hätte man gedacht, dem Autor geht die Phantasie durch:

»Eine Netto-Kassiererin bekam die fristlose Kündigung, weil sie angeblich während der Arbeit einen Bonbon gelutscht habe, der ihr auch noch aus dem Mund gefallen sei. Der Arbeitgeber behauptet, ein Kunde habe sich per E-Mail beschwert.«

Bereits an dieser Stelle wird man schlucken und versucht sein, sich vorzustellen, was es an Willkürherrschaft bedeuten würde, wenn Arbeitgeber über so eine Schiene freies Schussfeld auf Mitarbeiter bekommen.

Die Betroffene sieht das natürlich ganz anders: „Diesen Vorfall gab es nicht“, sagt die Kassiererin. Das sei nur vorgeschoben, um sie loszuwerden.

Das ist keineswegs unplausibel, man muss dazu wissen, dass diese Frau vor einiger Zeit in einem Frontal 21-Bericht aufgetaucht ist. Angela Webster vermutet, man wollte sie loswerden, weil sie aufgedeckt habe, dass bei Netto Fehlstunden trotz Krankmeldung als Minusstunden verbucht werden. Darüber wurde damals berichtet.

Jeder, der Netto nur etwas kennt, kann sich gut vorstellen, dass das Unternehmen so etwas nicht vergisst.

Insofern ist es naheliegend, dass man hier etwas konstruiert hat, um sich der missliebigen Kassiererin zu entledigen. Die Entlassungsgründe bezogen sich dann auch nicht nur auf den Bonbon, sondern ergänzend wurde ausgeführt, sie habe „schlecht“ über ihren Arbeitgeber geredet. Hat sie nicht, sie hat nur aufgedeckt, dass das Unternehmen klar gesetzeswidrig gehandelt hat. Auch dieser Fall ging vor das Arbeitsgericht. Das Gericht forderte den Arbeitgeber auf, er solle die Minusstunden erklären. Netto begründete mit einem technischen Versehen und löschte kurzerhand das Minus vom Stundenkonto, gab aber ansonsten keine Erklärung. Nun also der nächste Vorstoß.

»Da die 43jährige Kassiererin, Angela Webster, ver.di-Mitglied ist, wird sie vom DGB-Rechtsschutz vertreten. Die 24-Stunden-Kraft der Paderborner Netto-Filiale klagt auf Wiedereinstellung und gewinnt vor dem Arbeitsgericht. Einer der Gründe ist, dass sich die stellvertretende Filialleiterin, die den Vorfall bezeugt hat, an dem fraglichen Tag im Urlaub befand. Auch die Herkunft der angeblichen Beschwerde-E-Mail ist bis heute ungeklärt.«

Auch das ZDF-Politikmagazin hat in dieser Woche in seiner Rubrik „Nachgehakt“ über den Fall der Angela Webster berichtet. Das kann man in diesem Video anschauen.

Nun also die positive Entscheidung des Arbeitsgerichts. Allerdings ist die Partie noch nicht beendet, der Arbeitgeber will das Urteil erst einmal „prüfen“.

Und die werden richtig sauer sein bei Netto, denn sie wollten die Frau – offensichtlich als problematischer Unruheherd identifiziert – unbedingt loswerden. Vor dem Prozess haben sie ihr sogar eine Abfindung angeboten, wenn sie sich vom Acker macht. Das hat sie abgelehnt:

„Die Wahrheit ist nicht käuflich“, sagt sie. Zum Gehen sei sie nicht bereit. Sie sei auf ihre Arbeit angewiesen.

Und das hier wird die Master of Billigdiscount in Rage bringen:

In zwei Jahren will sie selbst für den Betriebsrat kandidieren.

Genau solche Leute wollte und will man unbedingt „entsorgen“. Man kann ihr nur viel Kraft (und viel Solidarität der anderen Beschäftigten) wünschen auf diesem Weg.

*) Es wird in der Berichterstattung und auch in diesem Blg-Beitrag immer verkürzt von „Netto“ gesprochen, anzumerken bleibt, dass es sich hier um das Unternehmen „Netto Marken-Discount“ handelt. Der Hinweis ist wichtig, denn es gibt ein weiteres Unternehmen, das auch als Discounter ebenfalls unter dem Label „Netto“ agiert: NETTO Deutschland. Das Unternehmen betreibt inzwischen über 340 Märkte, die sich auf die Regionen Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt verteilen. Dieses Unternehmen gehört seit dem 1.1.2013 zu 100 % der Dansk Supermarked A/S