Nicht nur das Verhalten der einzelnen Menschen, sondern auch die Verhältnisse – und von denen einige ganz besonders: Zur regionalen Streuung des statistisch zu erwartenden Lebens

„Die“ Lebenserwartung und ihre Entwicklung ist nicht nur für uns alle höchst relevant und interessant, sondern sie spielt in der sozialpolitischen Diskussion an mehreren Stellen eine bedeutsame Rolle. Man denke hier nur an die Debatte über eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Nicht nur bei der bereits vollzogenen schrittweisen Anhebung auf 67 Jahre (diese Grenze gilt dann nicht zufälligerweise voll zum ersten Mal für den Jahrgang 1964, den geburtenstärksten Jahrgang und damit die Frontrunner der Baby-Boomer) wurde immer wieder auf die ansteigende Lebenserwartung hingewiesen, sondern auch aktuell bedienen sich die Apologeten einer weiteren „unvermeidlichen“ Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters der für viele auf den ersten Blick auch nachvollziehbaren Argumentationsfigur, dass wenn wir alle ein paar Jahre länger leben werden, dann muss man auch das Renteneintrittsalter nach oben anheben.

Nun ist bekanntlich alles ungleich verteilt im Leben. Vermögen, Einkommen, Liebe – und eben auch „die“ Lebenserwartung. Denn „die“ gibt es nicht, alle Berichte mit dem Bild, dass „wir drei oder vier Jahre länger leben werden“, bedienen sich an einem Durchschnittswert, der aber zuweilen mit spitzen Fingern anzufassen ist – vor allem dann, wenn die Streuung der Einzelwerte um den statistischen Durchschnitt erheblich ist. Und so ist das gerade bei „der“ Lebenserwartung, die es gar nicht gibt, sondern wenn, dann sehr unterschiedliche Lebenserwartungsentwicklungen. Die wiederum von sehr persönlichen Faktoren abhängen (wie jemand gelebt oder sein Leben verlebt hat), aber eben auch von zahlreichen strukturellen Einflussfaktoren, also wo jemand in welchen Verhältnisse und wie lange leben musste oder konnte

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Tödliche Ungleichheit: Männlich, arbeitslos, zwischen 30 und 59 Jahre alt. Dann ist das Sterberisiko acht Mal höher als das von Männern am oberen Ende

Viele kennen die Jubelmeldungen über eine stetig steigende Lebenserwartung. Und weil wir angeblich alle immer älter werden, kommen sofort interessierte Kreise ans Tageslicht, die uns verkaufen wollen, dass vor diesem Hintergrund einer weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zum einen unumgänglich sei, zum anderen aber auch unproblematisch, siehe gleichzeitig die steigende Lebenserwartung. Das wurde und muss äußerst kritisch bewertet werden, denn hier wird wie so oft mit Durchschnittswerten operiert, die möglicherweise mehr verdecken als sie uns weiterhelfen. Denn schaut man sich beispielsweise die Streuung der Lebenserwartungswerte an, dann wird schnell erkennbar, dass es eine erhebliche und zugleich sozial höchst selektive Spannbreite gibt. Vereinfacht gesagt: Arm stirbt (deutlich) früher und Wohlstand bzw. Reichtum führen natürlich nicht für alle, aber eben für viele auf der (materiellen) Sonnenseite des Lebens zu einem deutlich längeren Leben.

»Diese Grafik zeigt das Sterberisiko unter den Einflussfaktoren Einkommensniveau und Bildungsstand für Männer und Frauen in Ost- und Westdeutschland. Dabei ergeben sich 20 unterschiedliche Einkommens- und Bildungsgruppen, die alle zum Referenzwert 1, der Gruppe mit der höchsten Bildung und dem höchsten Einkommen ins Verhältnis gesetzt werden. In Ostdeutschland zählen 14 Prozent der Männer zur Gruppe mit dem niedrigsten Einkommen und der niedrigsten Bildung. Im Vergleich zur Gruppe Männer mit dem höchsten Einkommen und der höchsten Bildung, haben sie ein achtfaches Risiko zu sterben.« Quelle: MPIDR, 08.10.2019

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„Wir“ werden (nicht alle) immer älter. Über den Zusammenhang von steigender Lebenserwartung, zunehmender Einkommensungleichheit schon vor der Rente und Altersarmut

Die steigende Lebenserwartung sei „eine Erfolgsgeschichte“, so ist beispielsweise ein Interview des Deutschlandfunks mit dem Demografie-Forscher Roland Rau überschrieben, der an der Universität Rostock lehrt und Fellow am Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock ist. Der Forscher untersucht in einer aktuellen Studie, wo die Menschen in Deutschland am längsten leben. »Seit Mitte des 19. Jahrhunderts steigt die Lebenserwartung in den meisten Ländern der Erde. Die Menschen lebten länger …, weil Herzkreislauferkrankungen zurückgingen. Aber auch Einkommen, Bildungsstand und Lebensweise spielten eine große Rolle«, so werden einige seiner Aussagen zusammengefasst.

Bekanntlich lohnt es sich bei solchen großen Entwicklungen, genauer hinzuschauen – und hier wurde schon oft darauf hingewiesen, dass Durchschnitte zuweilen mehr verdecken als sie uns helfen. Denn im Durchschnitt ist es absolut so, dass die Menschen immer länger leben – und damit auch länger Renten beziehen können, was dann regelmäßig als gleichsam zwangsläufige Ableitung zu der Forderung führt, auf dem Weg einer weiteren Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters fortzufahren.

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Auch in Österreich: Ein ärmeres ist ein kürzeres Leben

Man kennt das Argument aus der rentenpolitischen Debatte in Deutschland: Da „wir“ doch alle immer älter werden, müsse man auch das Renteneintrittsalter anpassen, sprich erhöhen. Und das wäre ja auch keine Verschlechterung, denn „wir“ gewinnen ja auch zusätzliche Lebensjahre im Alter. Nun ist das bekanntlich so eine Sache mit dem „wir“ und vor allem den Durchschnitten, denn auch der – in der Vergangenheit tatsächlich beobachtbare – Anstieg der Lebenserwartung ist ein Durchschnittswert über alle. Und ohne Kenntnis der Streuung kann so ein Durchschnitt mehr vernebeln als zur Aufklärung beitragen.

Und das es hier erhebliche Unterschiede gibt, wurde in früheren Beiträgen gezeigt, so beispielsweise am 5. März 2016 unter der Überschrift Alles ist ungleich verteilt. Auch die statistische Erwartung eines immer länger werdenden Lebens und mit Blick auf die rentenpolitischen Ableitungen aus „der“ steigenden Lebenserwartung in dem Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert am 22. April 2016.

Einer der Befunde für die manifeste Ungleichheit zwischen oben und unten: Armutsgefährdete Männer haben eine um 10 Jahre kürzere Lebenserwartung als die aus der Oberschicht.

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Die (bislang) steigende Lebenserwartung als fragwürdiges Schreckgespenst für das Gesundheitswesen. Und die enorme Bedeutung der Ungleichheit

Hinsichtlich der demografischen Entwicklung sind drei Einflussfaktoren von besonderer Relevanz: die Geburtenrate, der Wanderungssaldo und die Entwicklung der Lebenserwartung. Und immer wieder wird gerade mit Blick auf die Gesundheits- und Pflegeausgabenentwicklung davon gesprochen, dass die steigende Lebenserwartung hier ein Problem an sich darstellen würde. Das klingt überzeugend, man kann das aber auch anders sehen, wie beispielsweise Bernd Hontschik in seinem Artikel Das Märchen von den teuren Alten: »Die Gesellschaft wird älter und dem Gesundheitswesen droht die Kostenexplosion. Klingt einleuchtend, ist aber falsch.«

»Der medizinische Fortschritt mache die Medizin immer teurer, deswegen könne er nicht mehr allen zugutekommen. Man werde rationieren, prio­risieren und zuteilen müssen. Und dann ist da außerdem auch noch die immer weiter steigende Lebenserwartung, die immer größer werdende Zahl alter Menschen. Älter ist kränker ist teurer, so lautet die Schreckensformel. Aber stimmt das eigentlich alles?« So seine Fragestellung.

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