Man kennt das Argument aus der rentenpolitischen Debatte in Deutschland: Da „wir“ doch alle immer älter werden, müsse man auch das Renteneintrittsalter anpassen, sprich erhöhen. Und das wäre ja auch keine Verschlechterung, denn „wir“ gewinnen ja auch zusätzliche Lebensjahre im Alter. Nun ist das bekanntlich so eine Sache mit dem „wir“ und vor allem den Durchschnitten, denn auch der – in der Vergangenheit tatsächlich beobachtbare – Anstieg der Lebenserwartung ist ein Durchschnittswert über alle. Und ohne Kenntnis der Streuung kann so ein Durchschnitt mehr vernebeln als zur Aufklärung beitragen.
Und das es hier erhebliche Unterschiede gibt, wurde in früheren Beiträgen gezeigt, so beispielsweise am 5. März 2016 unter der Überschrift Alles ist ungleich verteilt. Auch die statistische Erwartung eines immer länger werdenden Lebens und mit Blick auf die rentenpolitischen Ableitungen aus „der“ steigenden Lebenserwartung in dem Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert am 22. April 2016.
Einer der Befunde für die manifeste Ungleichheit zwischen oben und unten: Armutsgefährdete Männer haben eine um 10 Jahre kürzere Lebenserwartung als die aus der Oberschicht.
Vergleichbares wird nun aus Österreich berichtet. „Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axt“, warnt die österreichische Armutskonferenz, so dieser Artikel: Mindestsicherung: Dauerhaft Arme sterben zehn Jahre früher. Das hat eine von der Statistik Austria durchgeführte Sonderauswertung der EU-Sozialstudie SILC ergeben. Noch größer ist der Unterschied bei Obdachlosen. Dazu die Armutskonferenz: Armutsbetroffene sterben um 10 Jahre früher als Rest der Bevölkerung, bei Wohnungslosen macht der Unterschied sogar 20 Jahre aus. Datengrundlage ist dieser Bericht:
➔ Statistik Austria (2018): Eingliederungsindikatoren 2017. Kennzahlen für soziale Inklusion in Österreich, Wien, Stand: November 2018
»Laut Statistik Austria sind 1,5 Millionen Menschen in Österreich von Armut oder sozialer Ausgrenzung gefährdet. Sie haben also ein niedriges Einkommen (unter 1.238 Euro bei Einzelpersonen) oder Schwierigkeiten bei der Erfüllung notwendiger Grundbedürfnisse. Und das bringt auch eine sinkende Lebenserwartung mit sich, wie die Statistik Austria für das Sozialministerium errechnet hat. Der Sonderauswertung zufolge sterben armutsgefährdete Männer um vier Jahre früher, bei Frauen sinkt die Lebenserwartung um eineinhalb Jahre. Wer nicht nur armutsgefährdet ist, sondern in manifester Armut lebt – also etwa Probleme hat, die Wohnung warm zu halten und sich keine unerwarteten Reparaturen leisten kann – stirbt um vier Jahre (Frauen) bis elf Jahre (Männer) früher. Die Armutskonferenz verweist nun darauf, dass es sich bei Mindestsicherungsbeziehern durchwegs um manifest arme Menschen handelt. Dauert diese Armut mehrere Jahre an, sinkt die Lebenserwartung noch weiter: um zwölf Jahre bei Männern und um neun Jahre bei Frauen. Hier spricht man von „dauerhaft manifester Armut“.«
„Diese enorme Einschränkung der Lebenserwartung betrifft in Österreich fast 270.000 Menschen, das entspricht in etwa der Bevölkerung von Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs“, wird Martin Schenk von der Armutskonferenz zitiert.
Und die Armutskonferenz weist auch darauf hin: »Eine Auswertung über Lebensbedingungen im untersten sozialen Netz, die im Sommer 2018 publiziert wurde, zeigt den schlechten Gesundheitszustand von MindestsicherungsbezieherInnen: sie weisen fünf mal so häufig einen schlechten Gesundheitszustand auf, mehr als die Hälfte ist chronisch krank, jede/r Vierte ist durch eine Behinderung stark beeinträchtigt. Viele können ihre Wohnung nicht im Winter heizen, müssen unter desolaten Wohnbedingungen leben (doppelt so oft von feuchter Wohnung betroffen, fünfmal öfter Überbelag, dreimal öfter dunkle Räume).«
Und auch in Österreich wird die Verbindungslinie zum Renten-Thema (in Österreich Pensionen genannt) gezogen – und zur Diskussion in Deutschland: Wer arm ist, stirbt 10 Jahre früher – und zahlt die Pensionen der Gutverdiener, so der Artikel von Marco Pühringer:
»Die Unterschiede bei der Lebenserwartung wirken sich auch auf die Pensionen aus. Weil kleine Pensionisten im Durchschnitt deutlich kürzer eine Pension beziehen als die reichsten 10 Prozent, steigen kleine Einkommen systematisch schlechter aus.
Rechnet man noch ein, dass etliche Bezieher kleiner Einkommen ihren Pensionsantritt mit 65 gar nicht mehr erleben, ist der Umverteilungseffekt nach oben noch drastischer. Die Beitragsrendite wird mit steigendem Einkommen größer. Das haben Forscher für Deutschland errechnet – ähnlich Schlüsse können auch auf Österreich gezogen werden.
Die Forscher empfehlen daher, die ungleiche Lebenserwartung bei zukünftigen Pensionsreformen unbedingt zu berücksichtigen. Gerade wenn die Einkommensverteilung ungleicher wird, verschärfen sich die Schieflagen im Pensionssystem noch mehr.«