Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit

In so gut wie allen sozialpolitischen Handlungsfeldern begegnet uns immer wieder der Hinweis auf „die“ demografische Entwicklung. Man kann durchaus die These vertreten, dass die mit der Demografie verbundenen Entwicklungen wie ein „roter Faden“ der Sozialpolitik daherkommen. Ob es um die Planung und Steuerung geburtshilflicher Angebotsstrukturen in der Gesundheitspolitik, um den Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die Schulbedarfsplanung und die Entwicklung der Auszubildenden-Zahlen geht, bis hin zu der Frage der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots, der Zahl der Rentner oder der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit – für alle diese Fragen spielt es eine ganz erhebliche Rolle, wie und in welcher Richtung sich die Bevölkerung hinsichtlich Zahl und Altersstruktur entwickelt. Insofern benötigt man in der sozialpolitischen Diskussion wie auch in den Niederungen der praktischen Politikgestaltung – gerade vor Ort – möglichst genaue Vorhersagen über die demografische Entwicklung. Und die Statistiker versuchen das in regelmäßigen Abständen auch zu liefern. Der 28.04.2015 wird so ein Tag sein, an und nach dem wieder einmal über ganz viele Ältere, zu wenig Kinder, menschenentleerte Regionen und auch boomende Großstädte in den Medien berichtet werden wird, denn das Statistische Bundesamt hat eingeladen zu einer großen Pressekonferenz unter der gewichtigen Überschrift „Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060“, auf der ein aktualisierter Blick in die Zukunft, also die Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, präsentiert werden sollen. Die Bundesstatistiker versprechen: »Auf der Grundlage von Annahmen zur künftigen Entwicklung von Geburtenhäufigkeit, Lebenserwartung und Wanderungen wird gezeigt, wie die demografische Entwicklung bis 2060 aussehen könnte.« Und fast wie ein Werbeblock für Journalisten-Spielzeug kommt die Ankündigung daher, an diesem Tag werde auf der Webseite des Statistischen Bundesamtes auch „eine neu gestaltete animierte Bevölkerungspyramide“ freigeschaltet. Prima.

Und natürlich werden sich die Medien auf der ständigen Suche nach „Neuigkeiten“ auf diesen Blick in unsere Zukunft stürzen und je nach Berichterstattungsinteresse werden dann apokalyptische Versionen oder eher beschwichtigende Texte verfasst, sicher mit einer recht deutlichen Neigung hin zur demografischen Apokalypse, weil schlechte bzw. beunruhigend daherkommende Nachrichten (angeblich) mehr Quote und Auflage bringen. Die den demografischen Wandel positiv bewertenden oder wenigstens vor einer einseitigen Dramatisierung warnenden Beiträge sind eindeutig in der Minderheit (vgl. dazu auch den Blog-Beitrag Jenseits der „Demokalypse“? Die fabelhafte Welt des altersgerechten Lebens. Aber alles hat seinen Preis vom 05.04.2015).

Aber unabhängig davon wird kaum einer die eigentlich so naheliegende Frage stellen: Wenn es jetzt um die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung geht, dann muss es schon 12 vorangegangene gegeben haben – und dann wäre es doch mal interessant zu erfahren, was denn aus den Vorausberechnungen später in der Realität geworden ist. Dieses Wissens über die Genauigkeit der Vorhersagen wäre eigentlich eine absolut erforderliche Hintergrundinformation, um die neuen Zahlen einordnen und bewerten zu können. Und diese Infragestellung der bisherigen Vorhersagen ist nicht einem generellen Ablehnung von Vorausberechnungen der demografischen Entwicklung geschuldet, jeder, der sich mit Sozialpolitik und ihrer Gestaltung beschäftigt, wird solche verwenden oder heranziehen. Und sie ist auch nicht einer generellen Verneinung der Möglichkeit geschuldet, überhaupt eine solche Vorhersage jenseits der reinen Kaffeesatzleserei machen zu können – denn gerade die demografische Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Prinzip gut vorhersagbar ist, denn sie wird von nur drei Einflussfaktoren bestimmt: der Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie dem Wanderungssaldo. Hinsichtlich der Geburtenrate wie auch der Lebenserwartungsentwicklung kann man sich auf recht sicherem Fundament bewegen, aber die Zu- und Abwanderungen und der daraus gebildete Wanderungssaldo stellen einen erheblichen Unsicherheitsfaktor dar. Und selbst wenn man den Wanderungssaldo gut eingrenzen könnte, bleibt immer noch ein großes Restrisiko hinsichtlich des weiteren Gangs der Dinge, denn jemand, der sein restliches Leben hier bleibt, müsste natürlich anders bewertet werden als jemand, der nach zwei Jahren wieder zurückwandert.

Dass das nicht nur theoretische Einwände sind, kann man an einer diese Tage bereits veröffentlichten Bevölkerungsvorausberechnung zeigen. Unter der trockenen Überschrift Neue Vorausberechnung zur Bevölkerungsentwicklung in Nordrhein-Westfalen: Bevölkerungszahl steigt bis 2025 um ein Prozent meldet sich das Statistische Landesamt Nordrhein-Westfalen zu Wort und präsentiert die Ergebnisse der Vorausberechnung der Bevölkerung in den kreisfreien Städten und Kreisen Nordrhein-Westfalens 2014 bis 2040/2060.

Auch hier wird also – wie in der nun vom Bundesamt anstehenden neuen Vorausberechnung – bis in das Jahr 2060 versucht, die demografische Entwicklung vorherzusagen. Wir schreiben bekanntlich das Jahr 2015 und ich erspare mir an dieser Stelle ausführliche Anmerkungen zu dem Hinweis, wie äußerst fragwürdig es ist, von heute aus gesehen auf der Basis unvollständiger und mit zahlreichen Fehlern behafteten Daten aus der Vergangenheit die Zukunft über eine Zeitspanne von 45 Jahren (!) zu modellieren. Man muss sich nur einmal klar machen, dass viele bevölkerungsbezogene Daten, die nun weitergerechnet werden, aus Datensätzen stammen, die beispielsweise in Westdeutschland seit der letzten großen Volkszählung im Jahr 1984 (!) immer nur fortgeschrieben wurden mit den entsprechenden Fehlern, die sich einschleichen müssen. Auch der Zensus 2011 war ja keine echte Volkszählung und konnte nur eine Annäherung an die Realität liefern.

Über einige Ergebnisse aus den neuen Vorhersagen der Landesstatistikern wurde in den Medien sofort berichtet, beispielsweise in dem Artikel Bevölkerung – Am Rhein wird es eng, im Sauerland einsam von Matthias Korfmann und Wilfried Goebels. Dieser Artikel sei auch deshalb hier hervorgehoben, weil er die angesprochene Problematik erkennt und zum Thema macht.
In der Vergangenheit war es ja eine der Kernaussagen der Debatte über die demografische Entwicklung, dass die Bevölkerung unweigerlich schrumpfen wird angesichts einer seit mehr als 40 Jahren stabil (zu) niedrigen Geburtenrate. Die Autoren merken vor diesem Hintergrund zu Recht erstaunt an:

»Nordrhein-Westfalen wächst überraschend bis 2025 – nach neuen Prognosen beginnt der Bevölkerungsrückgang deutlich später als von Experten erwartet. Ursache sind vor allem die hohen Zuwanderungszahlen. Nach den Berechnungen des Landesamtes für Statistik wird die Einwohnerzahl im Bundesland deshalb noch bis 2025 um ein knappes Prozent auf 17,7 Millionen Bürger steigen. Die Statistiker gehen davon aus, dass die Geburtenzahl zwar absehbar sinken wird, zunächst aber ein neuer Bedarf für Kitas und Schulplätze besteht. Erst 2040 soll die Bevölkerungszahl dann laut Prognose landesweit um lediglich 0,5 Prozent auf 17,5 Millionen sinken.«

Und wie immer liegt die wahre Erkenntnis jenseits der Durchschnittswerte, vor allem dann, wenn man eine große Streuung der Einzelwerte hat, aus denen sich der Durchschnitt zusammensetzt. Anders formuliert: Die einen gewinnen, die anderen verlieren. Mit Blick auf NRW und der in den Raum gestellten vorausberechneten Bevölkerungsentwicklung bis 2040:

»So wächst die Einwohnerzahl unter anderem in den Städten Düsseldorf (+13%), Köln (+19%), Bonn (+12%), Essen (+3,6%), Münster (16,6%) und Leverkusen (+8%). Im Ruhrgebiet sinkt die Einwohnerzahl um 3,9% auf 4,8 Millionen Bürger. Den größten Rückgang melden der Märkische Kreis mit -19%, Hochsauerlandkreis -16%, Hagen -9,7%, Oberbergischer Kreis -9,9% und der Ennepe-Ruhr-Kreis -8%. Damit verschärft sich die „Landflucht“ in NRW.«

Und mit Blick auf eine etwas kürzere Zeitspanne, also bis 2025, bringen die beiden Verfasser des Artikels ihre Verwunderung deutlich zum Ausdruck:

»Wir hatten uns schon an all die düsteren Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung gewöhnt. Deutschland, NRW, die Städte an der Ruhr werden schnell und dramatisch schrumpfen, hieß es. Und nun legt das Landesamt IT.NRW eine ganz andere Vorhersage auf den Tisch: Zumindest bis 2025 soll die Zahl der Einwohner in NRW sogar wachsen. Selbst Revierstädte sind unter den „Wachstums“-Kandidaten: Dortmund (+ 5,1 %), zum Beispiel, und Essen (+ 3,6 %).«

Dabei sprechen die beiden von einer „soliden Datenbasis“ der neuen Vorhersage, würde diese doch auf der „Volkszählung 2011“ basieren. Bei allem Respekt vor der Arbeit der amtlichen Statistik, aber der „Zensus 20122“ war keine richtige Volkszählung, allenfalls eine Simulation einer Volkszählung im Wege der Auszählung und des Abgleich zahlreicher Registerdaten und einer Stichprobe.
Und sie bringen selbst Hinweise, wie vorsichtig man sein sollte, wenn es um Prognosen geht:

»Im Jahr 2001 machte eine düstere Vorhersage Schlagzeilen im Revier: „Das Ruhrgebiet verliert immer mehr Bürger“, hieß es damals. Und: „Essen, Dortmund und Hagen trifft es besonders hart.“ Eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) blickte damals bis 2015 voraus. Optimismus war nicht angesagt. Selbst eine Steigerung der Geburtenrate um 50 Prozent werde die Schrumpfung des Ruhrgebiets nicht stoppen können, hieß es.«

Von oben betrachtet ist die Gesamtentwicklung schon so eingetreten, wie damals vorhergesagt – allerdings mit krassen Abweichungen bezogen auf einzelne Ruhrgebietsstädte zu dem, was tatsächlich passiert ist – und zwar nach oben wie unten: »Völlig missglückt hingegen ist die Vorhersage für Dortmund, Essen sowie den Kreis Unna. Essen dürfte heute nur noch eine 529.000 Einwohner-Stadt sein. Tatsächlich sind es … rund 570.000. Dortmund hatte … nach Angaben der Stadt selbst sogar 589.000. Die Prognose sah Dortmund bei nur noch 529.000 Einwohnern. Im Kreis Unna hingegen leben heute sogar rund 45.000 Bürger weniger als vorhergesagt.«

Wie kann es dazu kommen?

Der Blick nach vorne ist eigentlich einer nach hinten, so wird der Regionalforscher Peter Strohmeier zitiert. Man schreibt die durchschnittlichen Verhältnisse der jüngsten Vergangenheit in die Zukunft fort. Dazu auch ein anderer Experte:

»In der Prognose aus dem Jahr 2001 spiegeln sich die Erfahrungen aus den 1990-er Jahren. „Damals gab es zunächst intensive Wanderungsbewegungen. Es kamen viele Aussiedler, Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge. Das ging zum Ende der 1990-er Jahre aber zurück, und offenkundig ließen sich die Experten von diesen Eindrücken leiten“, erklärt Andreas Farwick, Geograph an der Ruhr-Uni.«

Da haben wir sie wieder, die große Unbekannte – und Unsicherheit – Zuwanderung. Dass das auch heute von Bedeutung ist, muss an dieser Stelle kaum besonders hervorgehoben werden. Und das folgende Zitat legt den Finger in die offene Wunde derjenigen, die an schein-exakte Zahlen glauben:

»Die Prognose von 2001 enthält zwar Hinweise auf die Folgen einer EU-Osterweiterung, konnte aber nicht mit einigen dramatischen Entwicklungen rechnen: die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren Konsequenzen für Griechenland und Spanien, der arabische Frühling, die Bürgerkriege in Syrien und Irak – das schlägt auch auf die Bevölkerungsentwicklung im Ruhrgebiet durch. Farwick: „Die Kernstädte des Ruhrgebietes, haben eine sehr starke Zuwanderung. In Dortmund gibt es zum Beispiel eine große Südosteuropa-Community, also ziehen andere Menschen aus Südosteuropa in diese existierende Gemeinschaft nach.“ Ähnliches lässt sich in Duisburg beobachten.«

Man wusste es im Jahr 2001 eben nicht und konnte es damals auch nicht wissen. Wer aber weiß, was in den vor uns liegenden 45 Jahren passieren wird? Daran sollten wir denken, wenn das Statistische Bundesamt am kommenden Dienstag seine neue Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlicht und viele Medien – anders als der hier zitierte Artikel – eine Zahl oder eine Altersverteilung für das Jahr 2060 in den Raum stellen wird und aus Vereinfachungsgründen sagen, schreiben oder bebildern wird: So wird es kommen. Die Statistiker übrigens sind exkulpiert, weisen sie doch immer in ihren Texten korrekt darauf hin, dass es sich nicht um Prognosen handelt, sondern unter Vorausberechnungen auf der Grundlage bestimmter Annahmen (zu der Geburtenrate, zur Zuwanderung), die so kommen können, es aber nicht müssen. Dann werden mehrere Varianten gerechnet, aber in der Berichterstattung wird das dann alles eingedampft auf eine Zahl aus den vielen.

Korfmann und Goebels zitieren den Bielefelder Bevölkerungsforscher Jürgen Flöthmann, der eine natürliche Grenze für Vorhersagen sieht: „Alles, was über 30 Jahre hinausgeht, ist völlig spekulativ.« Und das ist schon eine recht weit gezogene Obergrenze, sie orientiert sich an einer Generation. Aber was kann und wird da nicht noch alles passieren.

Fazit: Mehr Demut vor der unsicheren Zukunft und mehr Szenarien auf der Basis plausibler Annahmen statt der erfolglosen Suche nach der einen Zahl. Es wird sie geben, aber wir werden sie erst hinterher kennen.

Jenseits der „Demokalypse“? Die fabelhafte Welt des altersgerechten Lebens. Aber alles hat seinen Preis

»Demografische Forschung ist eine Welt aus Zahlen, in der die Orientierung schnell verloren gehen kann. Die Materie ist komplex, viel komplexer, als es schnelle öffentliche Debatten über Fachkräftemangel, kommende Rentenlücken, Vergreisung und Kinderarmut glauben machen. Unumstrittene Fakten sind rar: Fünf Millionen Deutsche mehr als heute werden im Jahr 2030 über 65 Jahre alt sein, sie werden gut ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, das scheint gewiss. Vielleicht wird es dann auch 600.000 Kinder und Jugendliche weniger im Land geben, das ist schon weniger sicher, aber wahrscheinlich.« So kann man es am Anfang einer vierteiligen SPIEGEL-Serie zum „Megathema Demografie“ in Deutschland lesen (DER SPIEGEL, Heft 12/2015, S. 23). Und dann kommt – gerade für die Debattenlandschaft in Deutschland, die sich so gerne in einer Schwarz-Weiß-Malerei verlieren kann – ein wichtiger Hinweis: »Aus solchem Material lassen sich Horrorszenarien basteln, und in Deutschland geschieht das mit Lust. Statt zur Kenntnis zu nehmen, dass Bevölkerungswandel keine schlagartig einsetzende Katastrophe, sondern der sich schleichend entwickelnde Dauerzustand aller Gesellschaften ist, versteigen sich selbst als seriös geltende Experten zu alarmistischen Thesen, die die Wirklichkeit weit verfehlen.«

An dieser Stelle darf und muss man dann darauf verweisen, dass aus sozialpolitischer Sicht besonders relevant gerade in der jüngeren Vergangenheit die apokalyptische Seite der demografischen Entwicklung gerne herausgestellt wurde, um Veränderungen in den Systemen der sozialen Sicherung zu legitimieren, man denke hier nur an die „Rentenreform“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang des neuen Jahrtausends. Gegenwärtig ist es vor allem die Beschwörung eines (angeblichen) Fachkräftemangels und die deshalb dringend notwendige Zuwanderung (natürlich nur geeigneter Arbeitskräfte), die darüber abgesichert werden sollen. Auf der anderen Seite gibt es auch keinen Grund, die enormen gesellschaftlichen und eben auch sozialpolitischen Herausforderungen zu verleugnen, nur weil „die andere Seite“ den Demografie-Diskurs instrumentalisiert. Natürlich wird sich die Gesellschaft in den vor uns liegenden und halbwegs absehbaren Jahren massiv verändern. »Es wird in Deutschland demnächst 100-Jährige in ungekannter Zahl geben, viel mehr 90-jährige, 80-jährige Männer und Frauen als heute«, so der SPIEGEL im ersten Teil seiner Serie. Und das wird nach neuen Lösungen verlangen – und die sind bereits in der Pipeline, wenn man denn den zunehmenden Berichten über neue Produkte und Dienstleistungen in einer alternden Gesellschaft Glauben schenken darf. Und die zugleich auch ein positives Bild von dem zeichnen, was vor uns liegt, denn das sind auch neue Wachstums- und Beschäftigungsfelder, die hier im Entstehen begriffen sind. Deshalb fangen wir an mit den positiven Antwortversuchen auf die Fragen, die sich durch den demografischen Wandel stellen – und vergessen aber nicht, auf neue Konfliktstellen zu verweisen, die sich gerade für die Sozialpolitik zu einer ganz neuen brisanten Verteilungsfrage ausfächern können (und soweit absehbar auch werden).

»Die Deutschen werden immer älter, ohne alt zu sein. Das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit von über 70-Jährigen steigen rasant. Langsam wandeln sich auch die Bilder vom Altern. Und neue Zwänge entstehen«, schreibt Anna Sauerbrey in ihrem Essay Jenseits der Ofenbank. Sie illustriert ihre zentrale These – Wir werden zwar immer älter, aber wir sind immer länger nicht richtig alt – anhand einiger prominenter Persönlichkeiten:

»Verdammt gut sah Udo Jürgens aus, als er im vergangenen Jahr mit 80 gegangen ist. „Mitten im Leben“ hieß sein letztes Album. Damit ging er noch im Sommer vor seinem Tod auf Tournee. In dieser Woche starb der portugiesische Regisseur Manuel de Oliveira. Er wurde 106 Jahre alt. Seinen letzten Film drehte er mit 105. Unser Finanzminister ist 72, der Bundespräsident 75. Würde Hillary Clinton amerikanische Präsidentin, wäre sie bei Amtsantritt 69 Jahre. 80 ist das neue 60, heißt es, 60 das neue 40.«

Zahlreiche Studien belegen, dass es sich dabei keineswegs um prominente Einzelfälle handelt und Sauerbrey verweist beispielsweise auf eine neue Studie des DIW, in der „statistische Zwillinge“ aus den beiden Berliner Altersstudien von 1990–1993 und 2013–2014 verglichen wurden mit dem Ergebnis, dass über 70-Jährige sich heute signifikant wohler fühlen als die über 70-Jährigen vor 20 Jahren und dass sie zu deutlich höheren geistigen Leistungen fähig seien (vgl. ausführlicher Gersdorff, D. et al.: Secular Changes in Late-life Cognition and Well-being: Towards a Long Bright Future with a Short Brisk Ending?, Berlin, 2015).

Selbst der Bundespräsident Joachim Gauck („Ich bin ein lebendes Exponat“) plädiert für neue Altersbilder in der Politik: Notwendig seien „neue Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem“, eine neue „Lebenslaufpolitik“ (vgl. dazu Neue Altersbilder. Rede des Bundespräsidenten am 31.03.2015 in Berlin).

Bereits seit längerem wird gerade seitens der Alter(n)sforschung darauf hingewiesen, dass wir den Blick auf die demografische Entwicklung hinsichtlich der unbestreitbar zunehmenden Zahl an älteren Menschen nicht auf die Schattenseiten, die damit auch verbunden sind, verengen dürfen bzw. sollten. Timo Stukenberg hatte im vergangenen Jahr seinen Artikel dazu unter die plakative Überschrift Wir werden gesünder und produktiver gestellt. Er stützt seine Hinweise auf die eben auch positiven Seiten der Alterung unserer Gesellschaft auf eine Veröffentlichung von Fanny Kluge et al., die 2014 publiziert wurde: The Advantages of Demographic Change after the Wave: Fewer and Older, but Healthier, Greener, and More Productive?

Und in diesen Reigen kann man eine Diskussion und reale Entwicklungslinie einordnen, für die man derzeit viele Forschungsgelder und viel Aufmerksamkeit bekommen kann – Smart Homes, E-Health, oder AAL (Ambient Assisant Living), so lauten die Schlüssel- und Schlagwörter nicht nur in der Antragsliteratur. Auf Deutsch könnte man das so übersetzen: „Altersgerechte Assistenzsysteme für ein selbstbestimmtes Leben“. Hört sich nicht nur gut an, sondern hat auch eine Menge Potenziale für die Herstellung eines besseren Lebens, denn hier geht es um neue Technologien, die Lebensqualität, soziale Teilhabe und Mobilität im Alter versprechen. Da lohnt es sich, genauer und auch kritischer hinzuschauen.

Das versucht Josephine Schulz in ihrem Artikel Czajas fabelhafte Welt des altersgerechten Lebens. Und sind bringt gleich am Anfang die Berechtigung für eine eben auch kritische Sichtweise auf den Punkt: »Neue Technologien sollen Menschen möglichst lange eigenständiges Wohnen sichern, doch dieser Traum ist für viele unerschwinglich.«

Sie arbeitet sich ab an Berlins Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU), der darauf hinweist: »Heute gibt es in Berlin rund 105.000 pflegebedürftige Menschen. In dreißig Jahren werden es schätzungsweise 70.000 mehr sein«. Dabei steige nicht der Bedarf an stationärer, sondern ambulanter Pflege. Dann wird für die Digitalisierung im Pflegebereich geworben. Auch dafür gibt es natürlich schon eine (potenziell) marktgängige Begrifflichkeit: Smartes Altern.

»Smartes Altern, das kann so ziemlich alles heißen. Vom intelligenten Rollstuhl, der sich in der Stadt geeignete Wege sucht, über sturzmeldende Fußböden, bis zur extern steuerbaren Alarmanlage.«

Da gibt es in Berlin beispielsweise die »Casenio AG. Hier werden sensorbasierte Assistenzsysteme konzipiert. In der Praxis heißt das: Die Wohnung des Pflegebedürftigen wird mit Sensoren ausgestattet, die miteinander kommunizieren und Informationen an einen zentralen Computer senden. Sind in der Wohnung beispielsweise über längere Zeit Herd und Dusche gleichzeitig an, werden Angehörige oder Pflegepersonal über verständigt. Ähnlich sieht das intelligente Wohnen in einer Musterwohnung des Altenheim Sunpark vom evangelischen Johannesstift aus. Fast alle Einrichtungsgegenstände können über Fernbedienung gesteuert werden. Wird ein Fenster geöffnet, geht automatisch die Heizung aus, per Knopfdruck läuft Wasser in die Badewanne. Ein zentraler Rechner dokumentiert die Aktivitäten.«

Kurzum: »Das smarte Wohnen im Alter verspricht viel: Komfort, Sicherheit, Mobilität und mehr Teilhabe.« Hört sich gut an, hat aber wie alles im Leben auch seine Schattenseiten. Wobei hier gar nicht Datenschutz-Fragen aufgerufen werden sollen, die ein eigenes Thema darstellen würden.
Josephine Schulz legt in ihrem Beitrag den Finger auf eine offene Wunde der schönen neuen Welt der Digitalisierung und des smarten Alterns:

»Intelligentes Wohnen ist nicht billig. Jeder einzelne Sensor von Casenios kostet rund 50 bis 100 Euro, plus eine Monatsgebühr für den Anbieter. Die Versicherung übernimmt bisher nichts. 4.000 Euro können Pflegebedürftige derzeit für den altersgerechten Umbau ihrer Wohnung beantragen, für ein komplettes intelligentes Haus reicht das jedoch nicht. Wie technologiebasierte Pflege angesichts steigender Altersarmut nicht zum Luxusgut wird, darauf hat Czaja keine klare Antwort. Man müsse sich schon früh Gedanken machen, sagt der Senator. Bei privaten Anschaffungen, die ohnehin getätigt werden, sollte darauf geachtet werden, dass diese altersgerecht sind. Heißt wohl im Klartext: Bis auf weiteres zahlen die Betroffenen.«

Damit sind wir an einem sozialpolitisch hoch relevanten Punkt angekommen. Aber auch darüber hinaus stellen sich kritische Anfragen an die schöne neue Welt, die von vielen nun gezeichnet bzw. überzeichnet wird.

Auch Anna Sauerbrey hat in ihrem an sich sehr positiv daherkommenden Essay Jenseits der Ofenbank kritische Aspekte nicht ausgelassen: »Die Phase der Gebrechlichkeit vor dem Tod bleibt von den Verbesserungen im Leben der Älteren abgeschnitten, sagen viele Altersforscher. Wir verschieben sie lediglich immer weiter nach hinten.« Und von diesen Phasen wird es immer mehr geben.

»Das Kranksein ist gerade im Alter relativ. Tatsächlich sind nämlich die heutigen Alten, obwohl sie sich deutlich wohler fühlen, nicht weniger „krank“. Im Gegenteil. Chronische Krankheiten nehmen zu, ebenso die „Multimorbidität“, das Zusammenfallen mehrerer Krankheiten. Medizin und Technik aber steigern dennoch das Befinden. Wer sein eigenes Knie nicht mehr beugen kann, bekommt eben ein neues.« Das ist das eine. Aber es gibt auch noch eine andere, ganz grundsätzliche Seite der Entwicklung – und darüber nachzudenken lohnt sich:

»Man ist so alt, wie man sich fühlt, das trifft immer stärker zu, und es ist einerseits ein Fortschritt. Die Subjektivierung des Alterns nimmt ihm das Stigma. Andererseits droht die Gefahr, die medizinisch-technische Machbarkeit als grenzenlos anzusehen und die Verantwortung für Gebrechen auf den Einzelnen zu übertragen. Die Grenze zwischen Nicht-Können und Nicht-Wollen verschwimmt scheinbar. Nicht mehr der Alte an sich wird stigmatisiert, aber der, der sich weigert durch lebenslanges Lernen, durch Gehirnjogging, mit Pillen, Ersatzteilen alterslos zu bleiben. Das Wort vom „Ruhestand“ habe ausgedient, sagte Joachim Gauck. Das ist emanzipatorisch gemeint. Und es ist die zentrale Handlungsanleitung der Alterswissenschaftler. Doch wenn der Unruhestand zum Imperativ wird, verlieren wir die Freiheit, einfach auf der Ofenbank zu sitzen und die Zeit vorbeiziehen zu lassen. Wir verlieren das Recht auf eine Existenz ohne Ziel und Zweck.«

Und sie weist zu Recht darauf hin, dass wir uns verabschieden müssen, von den immer noch homogenen Altersbildern, die wir alle im Kopf haben, denn zunehmend wird erkannt, dass die Heterogenität innerhalb einer bestimmten chronologischen Altersgruppe, beispielsweise der 70jährigen Menschen, weitaus größer ist, als es die gängigen Bilder nahelegen. Die Konsequenz:
»Die gesellschaftliche und politische Antwort auf das Phänomen des alterslosen Alterns kann nur eine möglichst große Freiheit sein, die Förderung möglichst vieler unterschiedlicher Lebensmodelle: vom Heim über die Alters-WG bis zur Pflege in der Familie. Von der Frühverrentung bis zum Arbeiten bis zur letzten Minute.«

Das aber auch sozialpolitisch zu konkretisieren wird eine der Herkulesaufgabe der vor uns liegenden Jahre.

Übrigens: Der instruktive Begriff der „Demokalypse“ in der Überschrift dieses Beitrags ist dem vierten und letzten Teil der eingangs zitierten SPIEGEL-Serie zum Mega-Thema Demografie entnommen – einem Versuch, positiv auf das zu schauen, was sich hinter dem Schlagwort „demografische Entwicklung“ verbirgt und was an vielen Stellen ausschließlich kritisch bis apokalyptisch entfaltet wird: 
Guido Mingels: Die Demokalypse bleibt aus. Seit mehr als hundert Jahren fürchtet sich Deutschland vor dem demografischen Wandel und beschwört seinen eigenen Untergang. Eine Widerrede. In: DER SPIEGEL, Heft 15/2015, S. 42-47.

Weil der Riester-Mensch durchschnittlich hundert Jahre alt wird und weil er die FAZ liest, kann er sicher glauben, dass sie sicher ist, die (Riester)-Rente

Ein erster und flüchtiger Blick auf die Statistik über die private Altersvorsorge, die man beim Bundesarbeitsministerium abrufen kann, scheint eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte zu erzählen. Mit Stichtag 30. Juni 2014 wurden fast genau 16 Mio. Riester-Verträge gezählt. Die Versicherer liegen mit knapp 10,9 Mio. Policen unangefochten auf dem ersten Platz. Gefolgt von den Fondsgesellschaften mit gut 3 Mio. Verträgen. Nahezu 1,3 Mio. Menschen  wohnriestern und gut 800.000 Riester-Verträge konnten Banken und Sparkassen an die Vorsorgeenthusiasten bringen. Wie immer im Leben ist es lohnend, einen genaueren Blick auf das Zahlenwerk zu werfen, denn dann entdeckt man, dass das scheinbare Erfolgsmodell liebevoll formuliert schwächelt, man kann auch sagen, dass es an die Wand gefahren ist, denn seit dem Jahr 2011 ist klar erkennbar, dass die Zahl der neuen Verträge stagniert und die Wachstumsgeschichte vorbei ist: Im Jahr 2007 wurden mit fast 2,1 Mio. Policen die meisten Riester-Verträge neu abgeschlossen. Im Jahr 2013 hingegen haben sich nur noch 453.000 Menschen neu für das „Riestern“ entschieden und unter Berücksichtigung der Vertragsabgänge kann man erkennen, dass sich bei der Zahl der Verträge seit 2011 nichts mehr bewegt. Das ist natürlich schlecht für die vielen finanzindustriellen Intermediäre, die an dieser umfangreichen staatlichen Subventionierung (mit)verdienen und dann ist es auch mal wieder Zeit, die schwächelnden Produkte aus der Riester-Welt publizistisch zu stärken.

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