Das Bundesverfassungsgericht will (noch?) nicht: Keine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im Hartz IV-System

Vor einem Jahr, am 27. Mai 2015, wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.  In dem Beitrag ging es um eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht. Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig – weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Deshalb wolle es diese Sanktionen nun vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen. Die hohen Richter in Karlsruhe haben sich einige Zeit gelassen, um eine Entscheidung zu verkünden, die sicher enttäuscht aufgenommen wurde bei vielen, die gehofft haben, mit Hilfe einer in Karlsruhe testierten Verfassungswidrigkeit die Sanktionen im SGB II-System zu kippen: Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen, so kurz und bündig ist die Pressemitteilung des BVerfG vom 2. Juni 2016 überschrieben.

Die 3. Kammer des BVerfG hat einen Beschluss zur Vorlage des Sozialgerichts Gotha gefasst, dessen Kernaussage so zusammengefasst wird:

»Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle betrifft die Minderung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aufgrund von Pflichtverletzungen der leistungsberechtigten Person. Das Vorlagegericht war der Auffassung, dass die Sanktionsregelung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Art. 12 Abs.1 GG sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar sei. Der Vorlagebeschluss entspricht jedoch nur teilweise den Begründungsanforderungen. Er wirft zwar durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf. Doch setzt er sich nicht hinreichend damit auseinander, ob diese auch entscheidungserheblich sind, da unklar ist, ob die Rechtsfolgenbelehrungen zu den Sanktionsbescheiden den gesetzlichen Anforderungen genügen. Wären die angegriffenen Bescheide bereits aufgrund fehlerhafter Rechtsfolgenbelehrungen rechtswidrig, käme es auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Wie immer bei diesen Wort für Wort durchkomponierten Sätzen muss man bei der Bewertung des Ergebnisses auf zentrale Aussagen achten: Die vielleicht wichtigste Botschaft an die, die sich Unterstützung aus Karlsruhe bei ihrem Kampf gegen die Sanktionen an sich erhofft haben, lautet: Das BVerfG erkennt „durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ in dem Vorlageschluss der Sozialrichter aus Gotha. Das lässt Spielraum für die Vorstellung einer späteren Doch-noch-Klärung dieser Fragen vor dem Verfassungsgericht.

Die Verweigerung der Annahme der Vorlage basiert primär auf einer verfahrenstechnischen Argumentation: Das BVerfG beklagt:

»Es fehlt … an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens vom Jobcenter vor Erlass der Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II den gesetzlichen Anforderungen entsprechend über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung belehrt wurde, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Aus dieser Hauptargumentation des BVerfG für eine Nicht-Beschäftigung mit der grundlegenden Frage einer Verfassungswidrigkeit von Sanktionen könnte man ableiten, dass damit zwar diese Vorlage hinfällig geworden ist, nicht aber grundsätzlich die Möglichkeit einer „korrekten“ Vorlage. Also wenn das Sozialgericht Gotha in einem nächsten Fall den nun beklagten Mangel berücksichtigen würde und eine rechtsfehlerfreie Rechtsfolgenbelehrung stattgefunden hat, dann könnte es diesen Fall also nach Karlsruhe weiterleiten. Das wäre eine Interpretationsmöglichkeit des Beschlusses.

Aber auf hoher See und vor Gericht ist man bekanntlich in Gottes Hand. Man kann durchaus auch die Hypothese vertreten, dass das BVerfG eine formalistisch daherkommende Begründung gesucht und gefunden hat, um den Kelch einer Befassung mit diesem Thema an sich vorüber ziehen zu lassen. Weil es eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen „gewichtigen verfassungsrechtlichen Fragen“ scheut und diese wenn irgendwie möglich vermeiden möchte.

Dafür hätten die Richter auch handfeste Gründe, denn eine mögliche Verfassungswidrigkeit von Sanktionen, also einer Kürzung des Existenzminimums, würde die gesamte Statik des bestehenden Grundsicherungssystems mit seiner Philosophie des Forderns und Förderns zerstören. Hartz IV würde seinen Charakter eines gerade „nicht-bedingungslosen Grundeinkommens“ (auf niedrigem Niveau) verlieren.

Und möglicherweise ist das, was die Verfassungsrichter in ihrem Beschluss „gewichtige verfassungsrechtliche Fragen“ nennen, der Aspekt, der dazu führt, dass man sich lieber nicht genauer damit beschäftigen möchte, weil es im Ergebnis zu einer Infragestellung des bestehenden SGB II-Systems führen würde, wenn man eine Verfassungswidrigkeit und damit eine Nicht-mehr-Anwendbarkeit des Instruments der Sanktionen statuieren würde.

Diese These ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Eine Parallele kann man durchaus erkennen in dem abweisenden Verhalten des BVerfG, sich mit den Missständen in der Pflege zu beschäftigen. Auch bei dieser Frage wurde eine Auseinandersetzung mit formalen Argumenten der Nicht-Zuständigkeit vermieden. Vgl. dazu die Blog-Beiträge Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab vom 10. Januar 2016 sowie Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vom 19. Februar 2016.

Es bleibt also spannend. Auf alle Fälle ist wieder einmal Zeit „gewonnen“. Denn eine neue Vorlage wird dauern und dann wird auch wieder eine Menge Wasser den Rhein runter fließen, bevor das BVerfG eine Entscheidung treffen wird.

Es gibt natürlich auch noch andere hohe Gerichte und das Bundessozialgericht wird noch im Juni in mehreren Verfahren Entscheidungen treffen, wo es um Sanktionen, unter anderem auch um Vollsanktionierung geht. Demnächst also hier wieder zu diesem Thema.

Die Pflege weiter allein zu Haus: Das Bundesverfassungsgericht will/kann der Pflege nicht helfen. Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen

So eine Schlagzeile wird allen weh tun, die für die Pflege unterwegs sind: Klage gegen Pflegenotstand gescheitert. Von Karlsruhe ist keine Hilfe für diesen wahrlich gebeutelten Bereich und damit für die dort zu pflegenden wie arbeitenden Menschen zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in der Überschrift einer Pressemitteilung über die Nicht-Annahme einer Verfassungsbeschwerde mit Anführungszeichen gearbeitet: Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen, so heißt es dort. Offensichtlich will man damit seine Distanz zur Begrifflichkeit zum Ausdruck bringen, als ob dieses Wort eine Nicht-Realität widerspiegelt, zumindest kann man damit nicht viel anfangen. Vielleicht will man auch warnen, dass es sich um ein kontaminiertes Wort handelt. Dabei sind die Anführungszeichen begründungspflichtig, denn offensichtlich ist seine Verwendung mehr als weit verbreitet – ein einfacher Test mit Google fördert immerhin in nur 0,35 Sekunden „ungefähr 164.000 Ergebnisse“ zu Tage. Rein quantitativ gesehen muss da schon was dran sein. Aber eine Google-Suche kann auf der anderen Seite natürlich nicht wirklich ein Maßstab sein für die höchsten Richter unseres Landes bei der Beurteilung der Frage, ob etwas gegen die Verfassung verstößt.

Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Pflegemissstände in unserem Land – war da nicht schon mal was vor kurzem? Das wird sich der eine oder andere Leser dieses Blogs erinnernd fragen. Genau, erst am 10 Januar 2016 konnte man hier den Beitrag lesen: Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab. Aber hier wird nichts aufgewärmt, sondern tatsächlich geht es bei dem neuen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts um ein anderes – angestrebtes – Verfahren.

Im Januar dieses Jahres ging es um den Vorstoß des in der Angelegenheit Pflegenotstand engagierten Armin Rieger, der in Augsburg das Pflegeheim „Haus Marie“ leitet. Ihm ging und geht es um eine Beschwerde gegen den Staat wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber den Pflegebedürftigen. Er hat Mitte 2014 »einen 21-seitigen Schriftsatz nach Karlsruhe geschickt, der sich wie eine einzige Abrechnung mit dem aktuellen Pflegesystem las. Darin warf er Heimen und Pflegern sogar Urkundenfälschung und Betrug vor: „Jeder weiß, dass täglich Leistungen seitens der Pflegekräfte abgezeichnet oder dokumentiert werden, die nicht geleistet werden können.“ Die Krankenkassen und Politiker wüssten davon auch, doch es werde „systematisch weggeschaut“. Laut Rieger sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine Berufsausübung „unter ethischen Gesichtspunkten nicht möglich. Der vorgegebene Personalschlüssel und die zustehenden Mittel lassen eine menschenwürdige Pflege nicht zu“«, kann man zur Vorgeschichte in dem Artikel Pflege-Rebell scheitert endgültig lesen, der bereits in der Überschrift auf den Punkt bringt, was aus dem Vorstoß geworden ist. Nichts.

Die Verfassungsbeschwerde des Heimleiters wurde nicht wegen der Inhalte oder einer fehlenden substanziellen Begründung abgelehnt, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wurde formalistisch begründet: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen sei Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Mithin sei er für die Verfassungsbeschwerde gar nicht „zuständig“.

Bei dem aktuellen Fall geht es um einen parallelen Vorstoß von anderer Seite. Auch über den wurde hier – bereits am 8. November 2014 – in einem eigenen Beitrag berichtet: Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten.  Sieben Musterkläger fordern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf, gegen den Pflegenotstand in Deutschland einzuschreiten und den Gesetzgeber „zur Einhaltung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen“ zu bewegen. »So eine Verfassungsklage hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben«, urteilte damals Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in seinem Artikel Aufschrei gegen den Pflegenotstand.

Die Nöte der Beschwerdeführer, zwischen 35 und 89 Jahre alt, die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden, wurden dem höchsten deutschen Gericht in einer 112-seitigen Klageschrift zugestellt worden. Hinter den Klägern stand der Sozialverband VdK. Die damalige Hoffnung war, dass wenn die Bundesverfassungsrichter zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, der Gesetzgeber dann in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen müsse.

»Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.« So die Einschätzung bereits in dem Beitrag vom 8. November 2014. Referenzpunkt für diese Skepsis war die zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannte Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde des Herrn Rieger: »Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen ist Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.«

Und genau das wurde als Achillesferse auch bei der VdK-Klage gesehen, denn »die formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG könnte sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen, da es sich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht.«

Neben der Vorahnung, dass auch dieser Vorstoß aus primär formalistischen Gründen auflaufen wird, wurde damals ein weiteres Fragezeichen hinsichtlich einer möglichen Rolle des Bundesverfassungsgerichts vorgetragen:

»Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?«

Dann schauen wir uns abschließend an, was das Bundesverfassungsgericht denn heute in seiner Pressemitteilung Verfassungsbeschwerde gegen den „Pflegenotstand“ nicht zur Entscheidung angenommen vorgetragen hat an Gründen für eine Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde (die Entscheidung im Original: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. Januar 2016 
– 1 BvR 2980/14):

»Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht durch grundgesetzwidriges Unterlassen des Gesetzgebers sowie die eigene und gegenwärtige Betroffenheit der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert vorgetragen wurde.«

Die Verfassungsrichter stützen ihre Entscheidung im Wesentlichen auf zwei Punkte:

»1. Nur in seltenen Ausnahmefällen lassen sich der Verfassung konkrete Pflichten entnehmen, die den Gesetzgeber zu einem bestimmten Tätigwerden zwingen. Ansonsten bleibt die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts dem Gesetzgeber überlassen. Ihm kommt ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten sind, kann vom Bundesverfassungsgericht nur begrenzt nachgeprüft werden. Es kann erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber seine Pflicht evident verletzt hat.«

Genau dieses Erfordernis sehen die Verfassungsrichter aber bei der vorliegenden Verfassungsbeschwerde als nicht erfüllt an:

»Weder führen die Beschwerdeführer aus, unter welchen Gesichtspunkten die bestehenden landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung evident unzureichend sein sollten, noch zeigt die Verfassungsbeschwerde substantiiert auf, inwieweit sich eventuelle Defizite in der Versorgung von Pflegebedürftigen in Pflegeheimen durch staatliche normative Maßnahmen effektiv verbessern ließen.«

Dann wird noch ein zweiter Punkt nachgeschoben, der zum einen an die bekannte Argumentationsfigur der Nicht-Betroffenheit wie im Fall des Heimleiters Rieger erinnert, zum anderen aber an einer markanten Stelle hinausgeht:

»2. Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch nicht hinreichend substantiiert auf, dass die Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten verletzt sind … Vorliegend ist bereits die Notwendigkeit von stationärer Pflege in der Person der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit gegeben. Hinzu kommt, dass Pflegebedürftige gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB XI zwischen den für die Versorgung zugelassenen Pflegeheimen wählen können. Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen.«

Während der erste Teil der unter Punkt 2 vorgetragenen Argumentation der entspricht, mit der schon die Beschwerde des Herrn Rieger zurückgewiesen wurde, enthält der zweite Teil eine fast schon putzige Bewertung, die aber keineswegs den gerade bei einem Verfassungsgericht anzulegenden inhaltlichen Maßstäben genügen kann: Gleichsam im Fahrtwind eines sehr reduzierten und mit Blick auf die Lebenswirklichkeit mehr als fragwürdigen Postulats einer „Wahlfreiheit“ des Pflegebedürftigen zwischen verschiedenen Heimen wird in den Raum gestellt, jeder könne sich ja einem Heim mit Pflegenotstand entziehen. Das hat nun rein gar nichts mit der Versorgungsrealität vieler Menschen in vielen Regionen unseres Landes zu tun. Also entweder hätte man sich dieses Argument sparen sollen oder aber man muss das „substantiiert“ begründen können – das verlangt das Gericht von den Beschwerdeführern ja auch.
Aber was soll’s. Der letzte Satz im Zitat – »Gegenüber grundrechtswidrigen Pflegemaßnahmen ist um fachgerichtlichen Rechtsschutz zu ersuchen« – macht deutlich, was der Kern der Botschaft aus Karlsruhe ist: Wir sind nicht zuständig, bei Details wendet euch bitte an die Fachgerichte. Man wird sicher erleichtert sein beim hohen Gericht, dass dieser Kelch an einem vorübergegangen ist angesichts der Tiefen und Untiefen, die mit dem Pflegenotstandsthema verbunden sind.
Und fürwahr – der Ball liegt damit wieder im Spielfeld, wo er hingehört: Es handelt sich um politische Weichenstellung und um konkrete gesetzgeberische Gestaltungen, mit denen man die mit dem Begriff des Pflegenotstands beschriebene Problematik bearbeiten müsste, sollte, könnte. Wenn man denn wollte.
Und mit dem Wollen ist das bekanntlich so eine Sache. Die Pflege, also vor allem und zuerst die Pflegekräfte, müssen ihre Sache in die eigenen Hände nehmen. Beispielsweise das irgendwann einmal das, was beispielsweise auf Twitter unter dem Hashtag #Pflegestreik virtuell verhandelt wird, zu einer realen politischen Auseinandersetzung wird. 

Immer diese Zuständigkeitsfragen. Das Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Missstände im Pflegesystem ohne weitere Begründung ab

Zuständigkeitsfragen sind in bürokratischen Systemen wichtig und in Deutschland ganz besonders. In der Justiz sind Zuständigkeitsfragen nicht nur relevant für die sachlich richtige Zuordnung von Anliegen an die zuständige Gerichtsbarkeit, sie eröffnen oder verschließen auch den Zugang zu der im Grunde letzten Instanz, dem Bundesverfassungsgericht. Von dem ja schon manche Überraschung verkündet worden ist, wenn es sich denn mit einem bestimmten Thema beschäftigt. Diesen Weg hat auch der engagierte Armin Rieger beschritten, der in Augsburg das Pflegeheim „Haus Marie“ leitet. Ihm ging und geht es um eine Beschwerde gegen den Staat wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber den Pflegebedürftigen.

Er hat Mitte 2014 »einen 21-seitigen Schriftsatz nach Karlsruhe geschickt, der sich wie eine einzige Abrechnung mit dem aktuellen Pflegesystem las. Darin warf er Heimen und Pflegern sogar Urkundenfälschung und Betrug vor: „Jeder weiß, dass täglich Leistungen seitens der Pflegekräfte abgezeichnet oder dokumentiert werden, die nicht geleistet werden können.“ Die Krankenkassen und Politiker wüssten davon auch, doch es werde „systematisch weggeschaut“. Laut Rieger sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine Berufsausübung „unter ethischen Gesichtspunkten nicht möglich. Der vorgegebene Personalschlüssel und die zustehenden Mittel lassen eine menschenwürdige Pflege nicht zu“«, kann man zur Vorgeschichte in dem Artikel Pflege-Rebell scheitert endgültig lesen, der bereits in der Überschrift auf den Punkt bringt, was aus dem Vorstoß geworden ist. Nichts.

Seine Vorwürfe, die er in der Verfassungsbeschwerde vorgetragen hat, wiegen sehr schwer:

»Der Heimleiter wirft den staatlichen Behörden vor, Missständen in Pflegeeinrichtungen seit Jahren untätig zuzusehen. Das verletze das Recht der Pflegebedürftigen auf Würde, Gleichheit und körperliche Unversehrtheit. So müssten auch in seinem Heim wegen unzureichender Personalausstattung Bewohner immer wieder darauf warten, zur Toilette gebracht oder gewaschen zu werden. In vielen Heimen bekämen die Bewohner nicht genügend oder schlechtes Essen.«

Aber bereits Anfang September 2014 konnte bzw. musste man in der Presse lesen: Verfassungsklage für bessere Pflege abgeschmettert. Damals aber wurde die Verfassungsbeschwerde des Heimleiters nicht wegen der Inhalte oder einer fehlenden substanziellen Begründung, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wurde formalistisch begründet: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen sei Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Mithin sei er für die Verfassungsbeschwerde gar nicht „zuständig“.

»Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.«

Das habe ich am 8. November 2014 in dem Beitrag Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten angemerkt. Gegen die damalige Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde hat Rieger Beschwerde eingelegt, die nunmehr mit einem kurzen Schreiben ohne irgendeine inhaltliche Begründung von der Ersten Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einstimmig abgelehnt worden ist. Damit ist der Ansatz endgültig gescheitert an den Klippen des höchsten deutschen Gerichts.

Entsprechend frustriert ist der engagierte Heimleiter. In dem Artikel der Süddeutschen Zeitung wird er mit diesen Worten zitiert: „Ich dachte nicht, dass ich einmal sagen würde, dass ich mich für Deutschland schäme, aber nun schäme ich mich tatsächlich für unser Land und für unsere Politiker.“

Aber der Vollständigkeit halber sei an das erinnert, was in dem Blog-Beitrag vom 09.11.2014 auch noch berichtet wurde und was vor dem formalen Ablehnungsgrund des BVerfG von Bedeutung ist, denn die haben sich ja gar nicht inhaltlich mit der Beschwerde auseinandergesetzt, weil nach ihrer Interpretation nur „Betroffene“ ein Beschwerderecht hätten. Der Sozialverband VdK hat ebenfalls Verfassungsbeschwerde eingelegt – korrekter: einlegen lassen von Beschwerdeführer, die zwischen 35 und 89 Jahre alt sind und die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden. Diese Personen werden vom VdK „unterstützt“. Die Zielsetzung bzw. die Hoffnung des Sozialverbandes: Wenn die Richter in Karlsruhe aber zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, muss der Gesetzgeber in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen.

Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? In dem Blog-Beitrag aus dem November 2014 wurde pessimistisch formuliert: »So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.« Diese Einschätzung basiert auf der Annahme, dass die im Fall Rieger verwendete formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen könnte, da es sich letztendlich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht, aber nicht um unmittelbar im Hier und Jetzt Betroffene.

Und selbst wenn es anders kommen sollte in dem anhängigen VdK-Verfahren, bleibt die damals aufgeworfene Frage:

»Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?«

Ein Thema von wahrhaft existenzieller Bedeutung.

Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII

Das war zu erwarten und es wird noch deutlich schriller werden, wenn alle die aktuellen Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Frage nach dem Sozialhilfeanspruch bestimmter EU-Ausländer nachvollzogen haben – vgl. zum Hintergrund den Beitrag Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015. Am Ende dieses Beitrags findet sich die folgende erste Bewertung:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«
Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und genau an dieser Stelle setzt nun eine erste Kritiklinie an: Bereits unmittelbar im Anschluss an das Urteil konnte man in der für die FAZ bei solchen Themen typischen subkutanen Übertreibung durch die Art und Weise der Formulierung in der Überschrift die Meldung lesen: Milliardenkosten durch Sozialhilfe für EU-Ausländer? Übertreibung deshalb, weil es auch nach der ersten bislang vorgelegten Hochrechnung der möglichen Empfängerzahlen von an dramatischen Werten interessierter Seite nicht um Milliarden geht, sondern um eine kleinere, dennoch für die, die zahlen müssen, erhebliche Ausgabesumme.

Durch die Urteile des BSG drohen den Städten und Kreisen »Kosten von mehr als einer halben Milliarde Euro im Jahr«, berichten Jan Hauser und Joachim Jahn in ihrem Artikel. Man sollte allerdings bei der Rezeption solcher Euro-Werte eine gewisse Skepsis an den Tag legen, wenn man solche Zitate lesen muss:  „Das Urteil birgt Sprengstoff“, so wird Felix Schwenke, Sozialdezernent der Stadt Offenbach, in dem Artikel zitiert. „Wir müssen genau beobachten, was im Detail dort drinsteht.“ Also man fragt sich dann schon, wie man konkrete Euro-Beträge angeben kann, wenn man erst einmal nachvollziehen muss, was im Detail in den Urteilen des BSG steht.
Aber wir werden mit konkreteren Zahlen versorgt, die hier zitiert werden sollen:

»Nach Einschätzung des Landessozialgerichts Essen könnte das Urteil etwa 130.000 Menschen vor allem aus Bulgarien und Rumänien betreffen, die nun Sozialhilfe erhalten. Der Regelsatz für Alleinstehende der Sozialhilfe steigt zum Jahreswechsel um 5 Euro auf 404 Euro im Monat. Das würde Kosten für die Kommunen von 630 Millionen Euro im Jahr bedeuten, sofern 130.000 Alleinstehende Sozialhilfe erhalten, die vorher keine Leistungen bekamen. Zusätzlich kommen Kosten für Unterkunft und Heizung hinzu. Dadurch könnten die Belastung insgesamt fast 1 Milliarde Euro betragen – abhängig davon, wie viele EU-Ausländer tatsächlich Leistungen erhalten.«

Aber woher nimmt das zitierte LSG Essen die „etwa 130.000“ Menschen? Interessanterweise taucht die auch in einer anderen Quelle auf: In der Pressemitteilung Landkreistag kritisiert Urteile zur Sozialhilfe für EU-Bürger konnte man am 4.12.2015 lesen:

»Nach ersten überschlägigen Berechnungen geht der Deutsche Landkreistag bei einer Gruppe von um die 130.000 betroffenen Personen von jährlichen Mehrkosten für die Landkreise und kreisfreien Städte in Höhe von um die 800 Mio. € aus. Das ist kein Pappenstiel!«

Wer hat da jetzt von wem abgeschrieben, das wäre eine mögliche Frage, der man nachgehen könnte. Aber die ist hier nicht wirklich von Interesse. So oder so – es wird zu einem weiteren Ausgabeschub in diesem Fall für die Kommunen kommen, wenn die Entscheidungen des BSG umgesetzt werden (müssen).

Es gibt noch eine zweite, vielleicht weitaus schwierigere Dimension des Themas: Gemeint sind systematische Anfragen an ein mittlerweile überaus komplexes Teilgebiet der sozialen Sicherung, also die (an sich nicht geplanten) Schnittstellen zwischen dem SGB II und dem SGB XII. Einen ersten Hinweis darauf findet man in der Bewertung der für viele sicher überraschenden Entscheidungen des BSG in dem Blog-Beitrag vom 03.12.2015:

»Auch nicht unproblematisch ist eine neue Auffächerung des Grundsicherungssystems, denn eigentlich sollen ja alle erwerbsfähigen Menschen über das SGB II-System abgesichert werden. Das SGB XII gilt gerade nicht – im Normalfall – für diese Personen. Nun aber doch, zumindest für eine Teilgruppe der an sich Erwerbsfähigen. Das macht das System nicht wirklich einfacher, ganz im Gegenteil. Aber offensichtlich hat man beim BSG nach einer Bypass-Strategie gesucht mit Blick auf die Absicherung des Existenzminimums angesichts der durch gesetzliche Regelungen wie auch durch die EuGH-Rechtsprechung blockierten SGB II-Lösung, wo die Fälle eigentlich hin gehören.«

Schaut man sich die Entscheidungen des BSG an, dann wird man den Eindruck nicht los, dass die Richter eine Bypass-Strategie zur Umgehung des (nunmehr sogar vom EuGH als europarechtskonform bestätigten) Ausschlusses von (hier eigentlich relevanten) SGB II-Leistungen gesucht haben und meinen, diese in einem subsidiären SGB XII-Anspruch gefunden zu haben. Dafür braucht es natürlich eine Begründung und zugleich muss man die gewählte Ausweichstrategie absichern gegen entsprechende gesetzgeberische Interventionen in den SGB XII-Bereich, um das für die Kommunen aufgeworfene Problem zu bearbeiten. Also rekurriert das BSG auf eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2012, hier zum damaligen Asylbewerberleistungsgesetz und der Frage, ob die dort vorgesehenen abgesenkten Sätze verfassungswidrig seien oder nicht. Die Entscheidung des BVerfG (vgl. dazu im Original BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012  – 1 BvL 10/10) war eindeutig und die Leitsätze, insbesondere Nr. 2 und 3, sollten im Lichte der neuen BSG-Enscheidung sorgfältig zur Kenntnis genommen werden, denn die beziehen sich explizit auf diese höchstrichterliche Entscheidung:

»1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.

2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.

3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.«

Vor diesem Hintergrund stellen sich natürlich systematische Fragen: Also wenn man die Rechtsprechung des BSG zugegeben etwas holzschnittartig zusammenfassen soll, dann wird das an sich im Sozialhilferecht angelegte Leistungsausschlussprinzip für „nur“ arbeitsuchende EU-Ausländer (vgl. dazu eindeutig den § 23 Abs. 3 SGB XII: »Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.«) partiell ausgehebelt durch die Anerkenntnis, dass in den ersten drei Monaten (so wie auch im § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II normiert) nichts zu bekommen ist, zwischen drei und sechs Monate gibt es ein Niemandsland, aber ab dem sechsten Monat muss dann das neue Konstrukt des „verfestigten Aufenthalts“ berücksichtigt werden. In anderen Worten: Man muss die ersten sechs Monate irgendwie überbrücken, dann hat man gute Aussichten auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII, die aber eigentlich für Nicht-Erwerbsfähige gedacht sind, weil für die anderen ja das SGB II zuständig ist. Also eigentlich. Macht das wirklich Sinn?

Und auch die explizite Bezugnahme der Bundessozialrichter auf das Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2012 zum Asylbewerberleistungesetz erscheint irgendwie als Versuch, die offensichtliche Umgehungsstrategie abzusichern. Aber das BVerfG-Urteil spricht in seinem wirklich wichtigen Urteil gerade nicht von einer zeitlichen Differenzierung, also damit lässt sich die weiterhin bestehende „6-Monats-Lücke“ gerade nicht legitimieren, denn die Verfassungsrichter hatten ja gerade argumentiert, dass unter das Existenzminimum abgesenkte Leistungen nur dann zu rechtfertigen sind, wenn absehbar ist, dass die Menschen nur kurze Zeit auf deutschem Staatsgebiet bleiben werden, weil sie offensichtlich keinen Anspruch haben auf Aufenthaltsgewährung.

Das ist aber nun in unserem Fall gerade nicht gegeben, denn hier ist es so, dass die EU-Bürger erst einmal die 6-Monate irgendwie schaffen müssen, um gerade dann, aufgrund der „Verfestigung“ des Aufenthalts, einen Leistungsanspruch zu bekommen. Und den eben nicht gegen das eigentlich zuständige, allerdings mittlerweile verriegelte System SGB II, sondern dann gegen das „andere“ Grundsicherungssystem, also das SGB XII. Aber so richtig überzeugend kommt das nicht rüber. Was ist dann mit den ersten sechs Monaten? Deren zwangsläufige Überbrückung irgendwie passt dann auch nicht in die Argumentationslinie des BVerfG.

Hier tun sich erhebliche Grundsatzfragen auf und die allein bedürfen der Debatte und Beantwortung aus den Reihen des Sozialrechts. Darüber hinaus manifestiert sich hier natürlich eine grundsätzliche sozialpolitische Fragestellung in einem europäischen System der Freizügigkeit, das zugleich geprägt ist durch erhebliche Wohlfahrtsunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU. Wie will man verhindern, dass es zu einer rein sozialleistungsbedingten Wanderungsbewegung kommt? Sollte es eine solche geben, dann ist die Arbeit mit Ausschließungskriterien unvermeidlich, weil es ansonsten zu einem  Überlaufen der „attraktiven“ Sozialstaates kommen könnte. Und sei es zeitweilig.

Das höchst umstrittene Tarifeinheitsgesetz scheitert nicht am Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls nicht auf die Schnelle.

Das von der Großen Koalition beschlossene Tarifeinheitsgesetz ist bekanntlich überaus umstritten – nicht nur hinsichtlich der erfahrbaren Ablehnung bei den davon betroffenen Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften, sondern der Riss zwischen den Befürwortern und Gegnern geht auch durch die Reihen der DGB-Gewerkschaften und viele Arbeitsrechtler haben vor der Verabschiedung des Gesetzes darauf hingewiesen, dass sie mit einem Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht rechnen, da einige zentrale Bestandteile der Regelung offensichtlich verfassungswidrig seien.

Nun ist es bekanntlich so: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand und – scheinbar – können wir diesen Hinweis auf die Unberechenbarkeit dessen, was am Ende passiert, am Beispiel des Tarifeinheitsgesetzes studieren, denn: Gewerkschaften scheitern mit Eilantrag gegen das Tarifeinheitsgesetz. Lagen also die vielen Experten mit ihrer sehr kritischen Einschätzung der Verfassungswidrigkeit des Tarifeinheitsgesetzes völlig daneben? Das nun wieder wäre eine nicht nur voreilige, sondern schlichtweg falsche Bewertung dessen, was in Karlsruhe passiert ist. Der Augenmerk muss gerichtet werden auf den Terminus „Eilantrag“, darum ging es, nicht um die Substanz des umstrittenen Gesetzes.

Das Bundesverfassungsgericht selbst hat am 9. Oktober 2015 eine Pressemitteilung zu seiner Entscheidung veröffentlicht unter der Überschrift Anträge auf einstweilige Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz erfolglos. Und der kann man zu den vorliegenden drei Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz entnehmen:

»Soll ein Gesetz außer Vollzug gesetzt werden, gelten besonders hohe Hürden. Vorliegend sind jedoch keine entsprechend gravierenden, irreversiblen oder nur schwer revidierbaren Nachteile feststellbar, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machten. Derzeit ist nicht absehbar, dass den Beschwerdeführern bei Fortgeltung des Tarifeinheitsgesetzes bis zur Entscheidung in der Hauptsache das Aushandeln von Tarifverträgen längerfristig unmöglich würde oder sie im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl oder ihre Tariffähigkeit in ihrer Existenz bedroht wären. Im Hauptsacheverfahren, dessen Ausgang offen ist, strebt der Erste Senat eine Entscheidung bis zum Ende des nächsten Jahres an.«

Bei den drei Beschwerdeführern handelt es sich um Berufsgruppengewerkschaften. Es ging um Eilanträge von Marburger Bund, Vereinigung Cockpit und dem Deutschen Journalisten-Verband. GDL und Deutscher Beamtenbund beschränken sich hingegen auf eine reguläre Klage. Ihre Tarifzuständigkeiten überschneiden sich mit denen anderer Gewerkschaften, die regelmäßig einen größeren Personenkreis abhängig Beschäftigter organisieren. Das Gesetz zur Tarifeinheit fügt eine neue Kollisionsregel in das Tarifvertragsrecht ein, die dazu führt, dass nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Eine (kleinere) Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hat dann nur noch die Möglichkeit, den Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft zu übernehmen bzw. sich diesem unterzuordnen. Damit – so einer der zentralen Argumente der Kritiker – würde die Existenzfrage für die kleineren Gewerkschaften gestellt, denn warum sollte man sich dann noch als Arbeitnehmer in einer solchen Organisation zusammenschließen?
Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen das Tarifeinheitsgesetz zwar verworfen, aber nicht, weil es das Gesetz für verfassungskonform bewertet, denn die dazu anhängige Befassung des Gerichts, also das Hauptsacheverfahren, hat erst begonnen und läuft noch – es soll nach Bekunden des Gerichts bis Ende des kommenden Jahres abgeschlossen, also mit einer endgültigen Entscheidung versehen werden. Der zentrale Argumentationsanker des BVerfG zu Ablehnung der Eilanträge bezieht sich darauf, dass ein möglicher Schaden angesichts der genannten Frist nicht unzumutbar sei:

»So ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführer oder Dritte im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache, die der Senat bis zum Ende nächsten Jahres anstrebt, gravierende, kaum revidierbare oder irreversible Nachteile erleiden, weil die gesetzlich angeordnete Tarifeinheit schon vor Eintritt des Kollisionsfalls Wirkungen entfaltet. Soweit die Beschwerdeführer ihre tarifpolitische Verhandlungsmacht durch das Tarifeinheitsgesetz geschwächt sehen, liegt darin zwar ein Nachteil. Das angegriffene Gesetz untersagt jedoch nicht die tarifpolitische Betätigung an sich.«

Hinzu kommt ein pragmatischer Aspekt: Die Verfassungsrichter können keinen aktuell relevanten Fall erkennen, bei dem es zu einer möglichen Benachteiligung durch Anwendung der Tarifkollisionsregel im neuen Gesetz kommen könnte, mithin sich die Frage der Eilbedürftigkeit einer Entscheidung derzeit gar nicht stellt:

»Es ist derzeit nicht absehbar, inwieweit es im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache tatsächlich in einem Ausmaß zur Anwendung der Kollisionsregel des § 4a TVG kommt, der eine einstweilige Anordnung unabdingbar erscheinen ließe.«

Ganz am Ende der Entscheidung (im Original: Beschluss vom 06. Oktober 2015, 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 1582/15) findet sich dann ein höchst interessanter Hinweis an diejenigen, die sich jetzt als Befürworter des Tarifeinheitsgesetzes schon auf der sicheren Seite wähnen, denn an die ist der letzte Satz des hier aus der Pressemitteilung zitierten Textes gerichtet:

»Es bleibt den Beschwerdeführern unbenommen, bei einer erheblichen Änderung der tatsächlichen Umstände einen erneuten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stellen. Die Sicherungsfunktion der einstweiligen Anordnung kann es auch rechtfertigen, dass der Senat ohne einen entsprechenden Antrag der Beschwerdeführer eine solche von Amts wegen erlässt.«

Also werden wir das kommende Jahr abwarten müssen, bis das BVerfG eine endgültige Entscheidung treffen wird. Man kann weiter mit guten Gründen davon ausgehen, dass das Gesetz in der vorliegenden Fassung keinen Bestand haben dürfte angesichts der damit verbundenen bzw. der daraus resultierenden schwerwiegenden Auswirkungen auf die Koalitionsfreiheit, aus der in unserem Land das Streikrecht abgeleitet wird.