Zuständigkeitsfragen sind in bürokratischen Systemen wichtig und in Deutschland ganz besonders. In der Justiz sind Zuständigkeitsfragen nicht nur relevant für die sachlich richtige Zuordnung von Anliegen an die zuständige Gerichtsbarkeit, sie eröffnen oder verschließen auch den Zugang zu der im Grunde letzten Instanz, dem Bundesverfassungsgericht. Von dem ja schon manche Überraschung verkündet worden ist, wenn es sich denn mit einem bestimmten Thema beschäftigt. Diesen Weg hat auch der engagierte Armin Rieger beschritten, der in Augsburg das Pflegeheim „Haus Marie“ leitet. Ihm ging und geht es um eine Beschwerde gegen den Staat wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber den Pflegebedürftigen.
Er hat Mitte 2014 »einen 21-seitigen Schriftsatz nach Karlsruhe geschickt, der sich wie eine einzige Abrechnung mit dem aktuellen Pflegesystem las. Darin warf er Heimen und Pflegern sogar Urkundenfälschung und Betrug vor: „Jeder weiß, dass täglich Leistungen seitens der Pflegekräfte abgezeichnet oder dokumentiert werden, die nicht geleistet werden können.“ Die Krankenkassen und Politiker wüssten davon auch, doch es werde „systematisch weggeschaut“. Laut Rieger sei unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine Berufsausübung „unter ethischen Gesichtspunkten nicht möglich. Der vorgegebene Personalschlüssel und die zustehenden Mittel lassen eine menschenwürdige Pflege nicht zu“«, kann man zur Vorgeschichte in dem Artikel Pflege-Rebell scheitert endgültig lesen, der bereits in der Überschrift auf den Punkt bringt, was aus dem Vorstoß geworden ist. Nichts.
Seine Vorwürfe, die er in der Verfassungsbeschwerde vorgetragen hat, wiegen sehr schwer:
»Der Heimleiter wirft den staatlichen Behörden vor, Missständen in Pflegeeinrichtungen seit Jahren untätig zuzusehen. Das verletze das Recht der Pflegebedürftigen auf Würde, Gleichheit und körperliche Unversehrtheit. So müssten auch in seinem Heim wegen unzureichender Personalausstattung Bewohner immer wieder darauf warten, zur Toilette gebracht oder gewaschen zu werden. In vielen Heimen bekämen die Bewohner nicht genügend oder schlechtes Essen.«
Aber bereits Anfang September 2014 konnte bzw. musste man in der Presse lesen: Verfassungsklage für bessere Pflege abgeschmettert. Damals aber wurde die Verfassungsbeschwerde des Heimleiters nicht wegen der Inhalte oder einer fehlenden substanziellen Begründung, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wurde formalistisch begründet: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen sei Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Mithin sei er für die Verfassungsbeschwerde gar nicht „zuständig“.
»Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.«
Das habe ich am 8. November 2014 in dem Beitrag Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten angemerkt. Gegen die damalige Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde hat Rieger Beschwerde eingelegt, die nunmehr mit einem kurzen Schreiben ohne irgendeine inhaltliche Begründung von der Ersten Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einstimmig abgelehnt worden ist. Damit ist der Ansatz endgültig gescheitert an den Klippen des höchsten deutschen Gerichts.
Entsprechend frustriert ist der engagierte Heimleiter. In dem Artikel der Süddeutschen Zeitung wird er mit diesen Worten zitiert: „Ich dachte nicht, dass ich einmal sagen würde, dass ich mich für Deutschland schäme, aber nun schäme ich mich tatsächlich für unser Land und für unsere Politiker.“
Aber der Vollständigkeit halber sei an das erinnert, was in dem Blog-Beitrag vom 09.11.2014 auch noch berichtet wurde und was vor dem formalen Ablehnungsgrund des BVerfG von Bedeutung ist, denn die haben sich ja gar nicht inhaltlich mit der Beschwerde auseinandergesetzt, weil nach ihrer Interpretation nur „Betroffene“ ein Beschwerderecht hätten. Der Sozialverband VdK hat ebenfalls Verfassungsbeschwerde eingelegt – korrekter: einlegen lassen von Beschwerdeführer, die zwischen 35 und 89 Jahre alt sind und die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden. Diese Personen werden vom VdK „unterstützt“. Die Zielsetzung bzw. die Hoffnung des Sozialverbandes: Wenn die Richter in Karlsruhe aber zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, muss der Gesetzgeber in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen.
Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? In dem Blog-Beitrag aus dem November 2014 wurde pessimistisch formuliert: »So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.« Diese Einschätzung basiert auf der Annahme, dass die im Fall Rieger verwendete formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen könnte, da es sich letztendlich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht, aber nicht um unmittelbar im Hier und Jetzt Betroffene.
Und selbst wenn es anders kommen sollte in dem anhängigen VdK-Verfahren, bleibt die damals aufgeworfene Frage:
»Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?«
Ein Thema von wahrhaft existenzieller Bedeutung.