Wenn die Leistungen einer Teilkaskoversicherung für bestimmte Menschen mit Behinderungen kleingeschreddert werden, obgleich doch alle Menschen gleich sein sollten

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! (Art. 3, Abs. 1 GG).

Wenn eine Vereinigung von „Kostenträgern“ in unserem – zugegeben höchst komplexen, verschachtelten – Sozialsystem dieses Postulat des Grundgesetzes als Überschrift für die Einladung zu einem parlamentarischen Abend in Berlin wählen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder will man so allgemein wie nur irgendwie möglich bleiben – oder aber es geht um die Adressierung eines eklatanten Problems und man will darauf hinweisen, dass etwas gegen die (eigentlich) unumstößlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen verstößt.

Um die letzte Variante geht es hier. Und um die Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Träger der Sozialhilfe (BAGüS). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss aller 23 überörtlichen Träger der Sozialhilfe in Deutschland. Je nach Landesrecht sind überörtliche Träger der Sozialhilfe entweder die Bundesländer selbst oder höhere Kommunalverbände wie etwa die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR), der Landeswohlfahrtsverband Hessen oder der Kommunale Sozialverband Sachsen.

Diese Bundesarbeitsgemeinschaft hatte zu ihrem ersten Parlamentarischen Abend in Berlin geladen. Und dabei ein wirklich mehr als heikles Thema aufgerufen: Bekanntlich ist die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung, die eben nicht die gesamten Pflegekosten abdeckt, sondern nur einen Teil davon. Die Höhe der Leistungen ist festgelegt und unterscheidet zum einen nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit, zum anderen nach der Versorgungsform, also stationär oder ambulant. Aber – das wissen viele nicht – gibt es solche und andere stationäre Pflegefälle, jedenfalls unter Berücksichtigung des § 43a SGB XI und die Unterschiede zwischen den Leistungen auf der einen und auf der anderen Seite sind schon mehr als eklatant:

»Die geltende Gesetzesregelung diskriminiert Menschen mit Behinderung, die in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, indem sie die Zuwendungen pauschal auf 266 Euro pro Monat festschreibt.
Zum Vergleich: Behinderte Menschen mit der Pflegstufe II beziehen, wenn sie nicht in so einer stationären Wohneinrichtung, sondern in einem Pflegeheim leben, Leistungen in Höhe von 1.330 Euro. Das ist das Fünffache des im § 43a SGB XI festgeschriebenen Betrages.«

Das steht nach Auffassung der BAGüS im klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und verstößt darüber hinaus gegen das Diskriminierungsverbot Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes.

Um diese rechtliche Einordnung auch fundiert belegen zu können, wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das der Sozialrechtler Felix Welti von der Universität Kassel erstellt und das offensichtlich schon vor einem Jahr abgeschlossen und jetzt im Rahmen des parlamentarischen Abends der Öffentlichkeit vorgestellt wurde:

Felix Welti: Die Sonderregelung der Pflegeversicherung in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen nach §§ 36 Abs. 1 Satz 2, 43a Sozialgesetzbuch (SGB) Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung – und die Einschränkung des Wahlrechts zwischen Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nach § 55 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) und der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Gutachten für den Landeswohlfahrtsverband Hessen. September 2015

Der Rechtswissenschaftler kommt zu dem Schluss, dass gleich mehrere Regelungen des SGB XI und XII gegen das grundgesetzlich garantierte Benachteiligungsverbot, den allgemeinen Gleichheitssatz und das Recht auf Freizügigkeit verstoßen. Darüber hinaus sieht er das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Diskriminierungsverbot, das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft und das Recht auf Gesundheit verletzt. All das steht im Widerspruch zu den politischen Absichten, behinderte Menschen so weit wie möglich gleichzustellen.
Eine Zusammenfassung des Gutachtens und die Position der BAGüS und der kommunalen Spitzenverbände findet man in dieser Zusammenstellung der BAGüS.
Um wie viele Menschen geht es hier eigentlich? Dazu die BAGüS in ihrer Pressemitteilung:

»Von deutschlandweit ca. 200.000 Menschen mit Behinderung in stationären Wohneinrichtungen sind derzeit ca. 80.000 auch pflegebedürftig, erhalten aber nur die gedeckelte Leistung der Pflegeversicherung. Ab 01.01.2017 wird diese Zahl durch den neuen Pflegebegriff auf ca. 140.000 steigen.«

Das ist alles schon mehr als fragwürdig. Aber es könnte noch schlimmer kommen – wieder einmal im Rahmen einer Reformgesetzgebung, mit der ja eigentlich die Zustände, folgt man dem alten Verständnis von Reformen, verbessert werden sollen:

»Bundestag und Bundesrat beraten derzeit das Gesetz zur Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz – BTHG) und das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), mit dem der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff auch in der Sozialhilfe eingeführt werden soll. Vorgesehen ist, dass beide Gesetze bis zum Jahresende 2016 verabschiedet werden.
Die bisher bekannten Gesetzentwürfe sehen aber nicht nur ein Festhalten an der diskriminierenden Regelung des Paragrafen 43a SGB XI vor, schlimmer noch: Es muss eine Ausweitung des Anwendungsbereiches auf ambulante Wohngruppen für Menschen mit Behinderung befürchtet werden.«

Das wäre mehr als eine Verschlimmbesserung der gegenwärtigen Problematik.

Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die Bestimmungen so zu ändern, dass auch Menschen mit Behinderung, egal wo sie leben, einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung haben. Der Gesetzgeber sollte die laufenden Gesetzgebungsverfahren nutzen, um die seit Jahrzehnten bestehende Benachteiligung pflegebedürftiger Menschen mit Behinderungen endlich aufzuheben.

Offensichtlich muss man hier Druck machen und es bleibt zu hoffen, dass der folgende Ankündigung auch Taten folgen werden:

»Die rheinland-pfälzische Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler erklärte auf der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) zum Thema „Alle Menschen sind vor dem Recht gleich“, dass sich die Koalitionspartner in Rheinland-Pfalz darauf verständigt haben, zu prüfen, ob § 43a Sozialgesetzbuch (SGB) XI mit seinen korrespondierenden Regelungen im Recht der Pflegeversicherung (SGB XI) und der Eingliederungshilfe (SGB XII) verfassungskonform ist. „Wir werden prüfen, ob diese Regelungen der Verfassung widersprechen und würden dann auch nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht gehen“, betonte die Ministerin.«

Die rheinland-pfälzische Ministerin wird zudem mit diesen Worten zitiert: »Es ist … ärgerlich, dass die Bundesregierung mit dem vorgelegten Gesetzesentwurf versucht, die offenkundig verfassungsrechtlich bedenkliche Regelung auch für Wohngemeinschaften zu erweitern. Diesem sozialpolitischen Roll-Back werden sich die Länder widersetzen“, so Bätzing-Lichtenthäler.«

Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen werden passend gemacht: Für den Mindestlohn keine Arbeitnehmer, für die Statistik sehr wohl

Mit Beginn dieses Jahres haben wir gelernt: Es gibt eine gesetzliche Lohnuntergrenze, den Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde, für alle Arbeitnehmer. Nun ja, für fast alle. Also ein paar sind ausgenommen oder bekommen erst etwas später die 8,50 Euro auf die Hand. Aber grundsätzlich für alle. Vor diesem Hintergrund wird man aufmerksam, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird: Urteil: Kein Mindestlohn für behinderte Menschen in Behindertenwerkstatt. Oder dieser Bericht hier: Beschäftigte in Behinderten-Werkstätten sind grds. keine Arbeitnehmer – Kein Mindestlohnanspruch. Ausgangspunkt beider Artikel ist eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel (Arbeitsgericht Kiel 19.6.2015, 2 Ca 165 a/15). Die Kernaussage des Urteils: »Behinderte Menschen können für ihre Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte nicht den gesetzlichen Mindestlohn beanspruchen. Denn diesen können nur Arbeitnehmer, nicht aber arbeitnehmerähnliche Beschäftigte verlangen, entschied das Arbeitsgericht Kiel in einem aktuell veröffentlichten Urteil vom 19. Juni 2015.«

Auf der anderen Seite wurden die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen – immerhin sprechen wir hier deutschlandweit von mehr als 300.000 Menschen – im vergangenen Jahr explizit als „sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in die Statistik mit aufgenommen und haben dadurch (zusammen mit mehr als 30.000 Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder etwa Berufsbildungswerken beschäftigt sind, sowie knapp 80.000 meist junge Leute, die ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr oder einen Bundesfreiwilligendienst leisten) die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 350.000 Personen nach oben gehoben. Wie praktisch, denn: »Ohne die zusätzlichen Personengruppen wäre nach dem neuen Konzept die sozialversicherte Beschäftigung absolut sogar um 67.000 Personen gesunken. Nun aber wird das Beschäftigungsniveau rein rechnerisch um 347.000 Personen höher ausfallen«, so der DGB im vergangenen Jahr: Geänderte BA-Statistik: Plötzlich 414.000 Beschäftigte mehr.  Dazu auch die methodischen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Aber werfen wir zuerst einen Blick auf das neue Urteil den Nicht-Mindestlohnanspruch der Beschäftigten in einer Werkstatt für behinderte Menschen betreffend. Die dem Verfahren zugrundeliegende Fallkonstellation erläutert der Sozialverband VdK in seinem Artikel so:

»Geklagt hatte ein unter Betreuung stehender Schwerbehinderter, der in einer Werkstatt für Behinderte im Gemüseanbau und der Verpackung tätig war. Außerdem belieferte er zweimal wöchentlich Kunden auf einer festen Fahrtour mit Lebensmittelkisten. Laut Werkstattvertrag erhielt er zuletzt für eine 38,5-Stunden-Woche eine Nettovergütung in Höhe von monatlich 216,75 Euro. Der Kreis Rendsburg Eckernförde hat als Träger der Eingliederungshilfe die Kosten für die teilstationäre Betreuung des Klägers in der Werkstatt übernommen.
Der Kläger meinte, dass die Vergütung viel zu gering sei. Wegen seiner Leistungsfähigkeit und seiner positiven Persönlichkeitsentwicklung habe sich das arbeitnehmerähnliche Arbeitsverhältnis in ein reguläres Arbeitnehmerverhältnis umgewandelt. Er habe letztlich aber nur einen sittenwidrigen Stundenlohn von 1,49 Euro erhalten.
Für das Jahr 2014 müsse ihm daher ein „angemessener Lohn“ von mindestens sechs Euro gezahlt werden. Ab Januar 2015 greife der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro.
Doch das Arbeitsgericht urteilte, dass dem Schwerbehinderten weder für 2014 eine „angemessene Vergütung“ noch ab 2015 der gesetzliche Mindestlohn zustehe. Eine „angemessene Vergütung“ könne nach dem Gesetz nur verlangt werden, wenn die Entlohnung im Vertrag nicht geregelt oder sittenwidrig ist.
Hier sei der Werkstattvertrag nicht sittenwidrig. Die darin enthaltene Vergütung orientiere sich an den gesetzlichen Bestimmungen für in einer anerkannten Werkstat tätige behinderte Menschen.«

Aber was ist mit dem gesetzlichen Mindestlohn ab dem 1. Januar 2015 für alle Arbeitnehmer mit Ausnahme derjenigen, die explizit ausgenommen worden sind (wozu die WbM-Beschäftigten erst einmal nicht gehören)? Dazu wieder der VdK:

»Der Kläger sei auch kein Arbeitnehmer. „Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu“, stellte das Arbeitsgericht klar.
Nur weil der Kläger ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeitsleistung erbringt, bestehe noch kein Arbeitsverhältnis. Außerdem sei bei dem Schwerbehinderten eine sozialversicherungsrechtliche Erwerbsunfähigkeit festgestellt worden. Der Bericht der Werkstatt über die Entwicklung des Klägers zeige zudem, dass dieser weiterhin auf Förderung angewiesen sei. Dies spreche gegen eine „wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses“, urteilte das Arbeitsgericht.«

Um es juristisch noch genauer zu fassen, lohnt ein Blick in die Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel, denn die rekurriert auf eine Unterscheidung zwischen einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis iSd. §§ 136 ff. SGB IX und einem Arbeitsverhältnis. Und das geht dann so:

»Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu. Eine Werkstatt für behinderte Menschen ist gemäß § 136 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das selbige. Sie stellt ein Angebot für behinderte Menschen dar, die aufgrund ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, diese dennoch zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis zu beschäftigen … Dabei ist der Umstand, dass ein schwerbehinderter Mensch ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbringt, kein Kennzeichen für ein Arbeitsverhältnis, sondern Aufnahmevoraussetzung für die Werkstatt nach § 136 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Ein Arbeitsverhältnis liegt erst dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch wie ein Arbeitnehmer auch in quantitativer Hinsicht wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbringt, also der Hauptzweck seiner Beschäftigung das Erbringen wirtschaftlich verwertbarer Leistung ist und nicht der vorgenannte Zweck des § 136 Abs. 1 SGB IX im Vordergrund steht.«

Zugegeben – schwere Kost. Aber die Richter setzen noch einen drauf:

»… gegen eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses spricht neben der sozialversicherungsrechtlich festgestellten Erwerbsunfähigkeit auch ausdrücklich der aktualisierte Entwicklungsbericht, wonach der Kläger gerade der weiteren arbeitspädagogischen Begleitung und Förderung bedarf.«

Die Sondersituation ergibt sich also aus Sicht der Richter aus der „sozialversicherungsrechtlich restgestellten Erwerbsunfähigkeit“ – der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle sogleich aber daran denken, dass doch arbeitsmarktstatistisch genau diese Menschen seit 2014 zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gezählt werden. Ja, so ist das. Man kann sich seinen Teil denken.

Die Grundproblematik wurde in diesem Blog bereits am 25.10.2014 aufgerufen mit dem Beitrag Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen und Bundesfreiwillige als Budgetbremse für die Rentner? Ein Exkurs über die faktische Kraft der Statistik in der realen Sozialpolitik. Damals ging es darum, dass die Rentenerhöhung 2015 für die gut 20 Millionen Rentner niedriger ausfallen musste aufgrund der Aufblähung der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zudem noch – Beschäftigte in WfbMs und Buftis – mit sehr niedrigen Einkommen in die Statistik eingeflossen sind.

Fazit:  Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese (im Jahr 2014) zusätzlich rund 400.000 Personen als sozialversicherungspflichtig beschäftigt gelten, nicht nur irgendwie als erwerbstätig, was ja auch Selbständige, geringfügig Beschäftigte oder Beamte sind. Also irgendwie „richtige“ Arbeitnehmer. So werden sie auch gezählt. Aber beim Mindestlohn gilt das dann wieder nicht, dann sind sie keine „richtigen“ Arbeitnehmer. Das Thema und die dahinter liegende Problematik ist nicht  trivial. Dazu beispielsweise die Veröffentlichung Zwischen Entgelt und Geltung: Zur Problematik von Lohnsystemen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung von Caroline Richter und Alexander Bendel aus dem August 2014. Ihre Zusammenfassung verdeutlicht bereits das Minenfeld, in dem wir uns hier bewegen:

»Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) ermöglichen Beschäftigung zu einem der Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis, so schreibt es § 136 Abs. 1 S. 1 im Sozialgesetzbuch (SGB) IX bereits seit 2001 vor. Während das „Ob“ der leistungsgerechten Ent­geltgestaltung gesetzlich vorgegeben ist, muss das „Wie“ hingegen durch die Werkstätten selbst konkretisiert und bemessen werden. Der rechtliche Rahmen gibt lediglich vor, dass das Entgelt der Beschäftigten – neben einem festgelegten Grundbetrag – auf Basis der individuellen Leistung, Menge und Güte der erbrachten Arbeit zu entrichten ist (§ 138 Abs. 2 S. 2 SGB IX). In den vergangenen 13 Jahren wurden bundesweit in mehr als 700 WfbM geeignete Ansätze zur Bemessung individueller Arbeitsleistung und zur Gestaltung geeigneter Entgeltordnungen gesucht, die Ergebnisse aber kaum thematisiert. Die Suche nach Orientierung bleibt vakant und wird durch aktuelle Entwicklungen brisanter: Wie kann die individuelle Arbeitsleistung, Arbeitsmenge und Arbeitsgüte in einem Tätigkeitsfeld bemessen werden, in dem der rehabilitative Auftrag wichtiger als die ökonomische Rationalität ist?«

Am ausgestreckten Arm verhungern lassen – nach diesem Motto scheint das Bundesarbeitsministerium zu agieren, egal, was das Bundessozialgericht so urteilt

Das Bundessozialgericht urteilt – ja und? Man muss ja nun wirklich nicht alles umsetzen, was die Robenträger so entscheiden. So oder ähnlich kann und muss man das Verhalten der Bundesregierung zusammenfassen, hinsichtlich behinderter Menschen, die bei ihren Eltern oder in Wohngruppen leben. Denen verweigert man weiterhin den vollen Sozialhilfesatz. Vgl. dazu den Artikel Vorenthaltene Selbständigkeit. Worum geht es?

»79 Euro pro Monat sind für Mittellose viel Geld. Für dieses Plus, den Unterschiedsbetrag zwischen Regelbedarfsstufe drei (320 Euro) und eins (399 Euro) bei der Sozialhilfe, haben sich erwerbsunfähige Behinderte in drei Verfahren erfolgreich durch die Instanzen gekämpft. Das Bundessozialgericht (BSG) sprach Betroffenen in einem Grundsatzurteil vom 23. Juli 2014 den vollen Sozialhilfesatz für Alleinstehende zu, auch wenn sie im Haushalt der Eltern oder in Wohngemeinschaften leben. Nur so sei der Gleichheitsgrundsatz gewahrt.«

Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vgl. auch die Pressemitteilung des Gerichts: Sozialhilfe für volljährige behinderte Menschen, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nach Regelbedarfsstufe 1 (100 %), dort gibt es auch die Links zu den drei Urteilen vom 23.07.2014, B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 12/13 R sowie B 8 SO 31/12 R.

Und was ist jetzt das Problem?

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bleibt trotz der Entscheidungen des BSG hart und speist die meist dauerhaft auf staatliche Leistungen Angewiesenen bis heute mit 20 Prozent weniger ab. Wie kann das passieren?

Im November 2014 forderte das BMAS in einem Rundschreiben an kommunale Spitzenverbände und den Bundesrechnungshof die Grundsicherungsämter dazu auf, trotz neuer Rechtslage an der alten Regelung festzuhalten. Widersprüche seien im Einzelfall zu prüfen, heißt es darin weiter. Bei Ablehnung könnten die Betroffenen mit ihrer Behörde vereinbaren, die Verfahren bis auf weiteres ruhend zu stellen. Ansonsten würden sie für beendet erklärt, negative Bescheide seien nicht mehr anfechtbar. Sein Vorgehen begründete das BMAS mit einer »unsicheren Rechtsgrundlage aufgrund fehlender Entscheidungsgründe«, so Bonath in ihrem Artikel.
Doch die hat das BSG nunmehr nachgereicht, also müsste doch jetzt wenigstens eine Anpassung der Umsetzungspraxis an die Rechtslage erfolgen, sollte man meinen. Wieder weit gefehlt.

Das Ministerium unter Führung von Andrea Nahles (SPD) hält trotz der Urteile des BSG am verminderten Regelsatz für Behinderte fest, die bei den Eltern oder in Wohngruppen leben. Die Urteilsgründe würden nun erst einmal »umfassend bewertet«, so wird der BMAS-Sprecher Dominik Ehrentraut in dem Artikel zitiert. Erst nach dieser umfassenden Prüfung wird sich das Ministerium zum weiteren Umgang äußern. Und damit gleich klar wird, dass das dauern kann: »Das Ministerium hege gar verfassungsrechtliche Zweifel an der Entscheidung des obersten Sozialgerichts.« Der Ministeriumssprecher weiter: „Insofern besteht weiterhin eine unsichere Rechtsgrundlage“. Und dann noch ein „netter“ Rat an die Betroffenen: Es obliege den Bedürftigen, Bescheiden zu widersprechen oder Überprüfungsanträge zu stellen.

Wie man so was nennt? Am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Die Lebenshilfe, so Bonath in ihrem Artikel, rät dazu, weiterhin Bescheiden zu widersprechen, gegebenenfalls Untätigkeitsklagen einzureichen. Das koste alles »Zeit und Nerven«. Und das nur, weil man offensichtlich an höchster Stelle eine rechtlich gebotene Klarstellung verschleppen will. Es wäre hilfreich gewesen, wenn das BSG die Entscheidung gleich an das Bundesverfassungsgericht weitergereicht hätte, so hängt jetzt alles irgendwie in einem Niemandsland fest.

3,40 Euro Stundenlohn sind sittenwidrig. Und wer so was macht als Arbeitgeber, handelt „subjektiv verwerflich“. Genau so ist das

Der heutige Tag eignet sich doch hervorragend für eine „frohe“ Botschaft:
3,40 Euro Stundenlohn ist sittenwidrig, melden viele Zeitungen mit Bezug auf ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf. Das ist doch mal eine Ansage.

Das Landesarbeitsgericht hat dazu eine Pressemitteilung herausgegeben – Sittenwidrige Vergütung für Schulbusbegleiterin -, der wir den Sachverhalt entnehmen können, um den es hier geht.

»Die Klägerin war bei der Beklagten vom 10.02.2012 bis zum 31.10.2012 als Busbegleitung beschäftigt. Ihre Aufgabe bestand darin, während einer morgendlichen Tour gemeinsam mit einer Busfahrerin geistig und körperlich behinderte Schüler an verschiedenen Zustiegspunkten abzuholen und zur Schule zu bringen. Nachmittags waren die Schüler nach Beendigung des Unterrichts wieder abzuholen und nach Hause zu fahren. Die Klägerin erhielt hierfür zwei Tourpauschalen pro Arbeitstag in Höhe von jeweils 7,50 Euro. Das Arbeitsentgelt erhielt die Klägerin nur bei erbrachter Arbeitsleistung. Entgeltfortzahlung für Feiertage und Arbeitsunfähigkeit erhielt sie nicht. Bezahlter Erholungsurlaub wurde nicht gewährt.«

Das fand die Klägerin nicht nur nicht in Ordnung, sondern ein sittenwidriges Verhalten des Arbeitgebers: »Die Klägerin verlangt eine Vergütung gemäß dem Tarifstundenlohn für das private Omnibusgewerbe in Nordrhein-Westfalen von 9,76 Euro brutto, weil die ihr gezahlte Vergütung sittenwidrig sei.«

Das Gericht hat sich beraten und ist zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen:

»Der tatsächliche Stundenverdienst der Klägerin an Einsatztagen von 3,40 Euro war sittenwidrig niedrig. Der objektive Wert der Arbeitsleistung betrug 9,76 Euro brutto pro Stunde. Das allgemeine Lohnniveau wird durch den Tarifstundenlohn des privaten Omnibusgewerbes in Nordrhein-Westfalen bestimmt, weil mehr als 50 % der Arbeitgeber kraft Mitgliedschaft im tarifschließenden Arbeitgeberverband organisiert sind. Die subjektive Verwerflichkeit ist gegeben.«

Über die „subjektive Verwerflichkeit“ sollte sich der eine oder andere Anbieter solcher Dienstleistungen Gedanken machen – gerade auch wohlfahrtsverbandliche Anbieter, denn von denen werden hier und da ähnlich niedrige Vergütungen gerade im Bereich der Behindertentransporte berichtet. Also geht in euch und beseitigt die „subjektive Verwerflichkeit“, ansonsten müssen das andere machen.
Für die Klägerin hat das Urteil ganz handfeste Konsequenzen:

»Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hat der Klägerin weitere 3.982,12 Euro brutto an Vergütung und 369,00 Euro brutto Urlaubsabgeltung zugesprochen. Der der Klägerin gezahlte Lohn von 15,00 Euro pro Arbeitstag (zwei Tourpauschalen), war sittenwidrig niedrig, weil die Klägerin täglich eine Arbeitsleistung von 4 Stunden und 25 Minuten erbrachte.«

Allerdings ist das erst einmal ein Weihnachtsgeschenk unter Vorbehalt, denn der letzte Satz der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts lautet:
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Dann wollen wir mal hoffen, dass es die Diagnose einer „subjektiven Verwerflichkeit“ auch nach oben schafft, wenn denn das betroffene Unternehmen diesen Weg beschreiten sollte.

„Inklusion“ jenseits der Sonntagsreden und des Koalitionsvertrages. Aus der kleinteiligen Realität einer gelingenden Umsetzung von Teilhabe an Arbeit für Menschen mit Behinderung

Eines der großen Themen dieser Tage und der vor uns liegenden Jahre ist bzw. sollte sein: Inklusion. Denn seit knapp vier Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland rechtskräftig. Seitdem haben Menschen mit Behinderung Recht auf Selbstbestimmung, gesellschaftliche Teilhabe, Chancengleichheit und Barrierefreiheit. Viel wurde und wird dazu geschrieben und man kann die kommenden Jahre ohne Probleme von einer Tagung zur anderen nomadisieren, wo es um die Frage geht, wie man eine „inklusive Gesellschaft“ hinbekommt. Seltener oder gar nicht (gerne) wird darüber gesprochen, ob dieser Entwicklungssprung überhaupt gelingen kann, ohne wirklich fundamentale, das heißt revolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft durchzusetzen. Wer an dieser Stelle eine gewisse grundsätzliche Skepsis raushört, liegt richtig – und das gerade vor dem Hintergrund, dass Inklusion hier für absolut wegweisend angesehen wird. Wer es lieber ganz egoistisch braucht: Man möge sich klar werden über die Tatsache, dass es hier nicht (nur) um den Einsatz für irgendeine „Zielgruppe“ behinderter Menschen geht, die wir bislang ganz erfolgreich in Sondereinrichtungen untergebracht, damit nicht selten aber auch aus dem Wahrnehmungsstrom der gesellschaftlichen „Mitte“ entfernt und an den Rand geschoben haben, sondern dass wir alle jederzeit nur einen Augenschlag von einer möglicherweise schwersten Behinderung entfernt vor uns hin leben.

Allerdings können wir ja mal einen Test machen, ob „Inklusion“ bereits im gesellschaftspolitischen Mainstream angekommen ist, denn dann müsste es beispielsweise – bietet sich aktuell an – im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD prominent verankert sein. Also habe ich mir einmal dieses Vertragswerk genauer angeschaut – und seht: Inklusion als Terminus taucht viermal im Koalitionsvertrag auf, allerdings weniger als Terminus fundamentalis, sondern in kleingeschredderten bzw. blumig-verheißungsvollen Varianten. Hier die vier Fundstellen in einer Übersicht:

1.) S. 30/31 zum Thema „Bildungsforschung“: »Die empirische Bildungsforschung liefert wichtige Erkenntnisse über Bildungsverläufe und die Wirksamkeit von Maßnahmen. Neue Schwerpunkte wollen wir in den nächsten Jahren in den Bereichen der Inklusion im Bildungssystem sowie der beruflichen Bildung und der Frage von Übergängen setzen.«

2.) S. 110/111 zum Thema „Inklusiven Arbeitsmarkt stärken“: »Zentrales Element der sozialen Inklusion ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen die Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt begleiten und so die Beschäftigungssituation nachhaltig verbessern. Dazu gehört auch die Anerkennung und Stärkung des ehrenamtlichen Engagements der Schwerbehindertenvertretungen. In den Jobcentern muss ausreichend qualifiziertes Personal vorhanden sein, um die Belange von Menschen mit Behinderungen zu erkennen, fachkundig zu beraten und zu vermitteln. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sollen sensibilisiert werden, um das Potential von Menschen mit Behinderungen zu erkennen und sie zu beschäftigen. Gemeinsam mit den Sozialpartnern werden wir u. a. im Rahmen der Inklusionsinitiative für Ausbildung und Beschäftigung die Ansrengungen für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung erhöhen. Wir wollen den Übergang zwischen Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und dem ersten Arbeitsmarkt erleichtern, Rückkehrrechte garantieren und die Erfahrungen mit dem „Budget für Arbeit“ einbeziehen.«

3.) S. 129 zum Thema „Kulturförderung“: »
Die Koalition bekennt sich zu dem Ziel, jedem Einzelnen unabhängig von seiner sozialen Lage und ethnischen Herkunft gleiche kulturelle Teilhabe in allen Lebensphasen zu ermöglichen. Kultur für alle umfasst Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit sowie interkulturelle Öffnung. Diese Grundsätze sind auch auf die vom Bund geförderten Einrichtungen und Programme zu übertragen.«

4.) S. 138 zum Thema „Sport“: »Wir sorgen auch in Zukunft für eine verlässliche Finanzierung des erfolgreichen Programms „Integration durch Sport“. Im Nationalen Aktionsplan Integration muss der Sport weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen und bei der Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention wird der Inklusionsgedanke bei der Sportförderung des Bundes konsequent ausgebaut.«

Das war’s. Haut einen nicht gerade vom inklusiven Hocker.

Aus sozialpolitischer Sicht besonders interessant natürlich der Passus zum „Inklusive Arbeitsmarkt stärken“ auf S. 110/111 des Koalitionsvertrages. Hierzu könnte man jetzt eine Menge an Daten und Studien vortragen, die eine Menge Wasser in den wenigen Wein kippen.

Aber das wird hier gerade nicht gemacht – sondern der Blick soll (wie bei der Inklusion von den Beeinträchtigungen hin zu den Potenzialen und Stärken) an dieser Stelle von dem, was nicht funktioniert zu den Fällen, wo es funktioniert, gelenkt werden. Hierzu zwei Unternehmensbeispiele aus Berlin, wo seit elf Jahren Auszeichnungen an Unternehmen vergeben werden, bislang unter dem Namen Integrationspreis, nunmehr „Berliner Inklusionspreis 2013“ genannt, die gute Beispiele für die Ermöglichung von Teilhabe an Arbeit für Menschen mit einer Behinderung abgeben.
„Hier wird nicht nach dem Staat gerufen. Und es geht auch nicht um die ,Leuchttürme‘ großer Konzerne. Dies ist gelebte Inklusion.“ Mit diesen Worten wird Ursula Engeln-Kefer zitiert, langjährige Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und heute Mitglied im Sozialpolitischen Ausschuss des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), die in diesem Jahr die Festrede gehalten hat. 43 Unternehmen hatten sich um die Auszeichnung beworben, darunter 16 kleine und 13 mittelständische Firmen. In der Kategorie „Kleinunternehmen“ siegte die Malerei Nitze, bei den Mittelständlern die Wäscherei Niderkrone. Bei den Großunternehmen kamen die Berliner Wasserbetriebe auf den ersten Platz.

Der Artikel „Team mit vielen Farben“ porträtiert den Preisträger in der Kategorie „Kleinunternehmen“: »Seit 20 Jahren beschäftigt die Malerei Nitze in Berlin-Kaulsdorf Menschen mit Handicap. Auch wenn der Arbeitsalltag seine Tücken hat: Auf ihre Fachkenntnisse will der Chef nicht verzichten.« Der Unternehmensbeschreibung kann man auch Elemente entnehmen, die immer wieder auftauchen, wenn man sich Betriebe anschaut, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen:

»Seit zwanzig Jahren sind Mitarbeiter mit Behinderung in dem Kaulsdorfer Betrieb beschäftigt. 1992 gründeten Jens Nitzes Eltern Sonnhild und Klaus das Unternehmen, bereits ein Jahr später wurde ein erster gehörloser Kollege eingestellt. Womöglich spielte damals eine Rolle, dass die Eltern selbst unter körperlichen Einschränkungen litten und somit aus persönlicher Betroffenheit aufgeschlossen dafür waren, auch Mitarbeitern mit Handicap eine Chance zu geben. Seit jener Zeit sind Kollegen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen zum festen Teil der Belegschaft geworden.«

Der Chef des Malereibetriebs, Jens Nitze, ist voll des Lobes für seine behinderten Mitarbeiter. Motivation und Verlässlichkeit, so seine Erfahrung über all die Jahre, seien überdurchschnittlich. Mitunter spürt er auch eine gewisse Dankbarkeit, dass er gerade ihnen das Vertrauen schenkte.
Und immer wieder der Aspekt einer persönlichen Betroffenheit bzw. Erfahrungsebene: »Dass niemand eine Garantie hat, sein Leben lang uneingeschränkt und mit voller Tatkraft arbeiten zu können, hat Jens Nitze in der jüngeren Vergangenheit am eigenen Leib erlebt. 2009 wurde bei ihm ein Gehirntumor festgestellt. Eine Diagnose, die ihm und seiner Familie zunächst den Boden unter Füßen wegriss. Doch Nitze überstand die komplizierte Operation, kämpfte sich anschließend in achtmonatiger Reha zurück ins (Berufs-)Leben. Seither zählt er mit einem Behinderungsgrad von 60 Prozent selbst zu den aktuell sieben behinderten Mitarbeitern unter den insgesamt achtzehn Beschäftigten des Betriebs.«

Vergleichbar die Erkenntnisse, die man aus dem Porträt des Preisträgers in der Kategorie „Mittelständler“ ableiten kann: „Der Artikel „Die perfekte Falte“ beschreibt die Wäscherei Niderkrone: »Reinigen, bügeln, zusammenlegen: Bei makelloser Tischwäsche kommt es auf Details an. Die Firma Niderkrone beschäftigt Spezialisten, die auf dem Jobmarkt häufig durchs Raster fallen.« Verantwortlich ist hier Ilknur Kilic-Özcan, Geschäftsführerin der Wäscherei Niderkrone. Mittlerweile »arbeiten neun Gehörlose in der Wäscherei, auch Schwerhörige aus der Türkei und Rumänien. 2014 will Kilic-Özcan nicht nur in eine größere Halle ziehen, sondern weitere Menschen mit Behinderung einstellen. Am liebsten will sie auch selbst ausbilden. „Wenn alles klappt, können wir bald jungen Gehörlosen eine Chance geben und sie langfristig an den Betrieb binden.“« Und auch trifft man wieder auf die bereits angesprochene Komponente der persönlichen Erfahrung bzw. Betroffenheit:

»Ein Schicksalsschlag hat Ilknur Kilic-Özcan zur Unternehmerin gemacht, die Menschen mit Handicap fördert. Das Kind einer engen Freundin kam schwerbehindert zur Welt. Die 38-Jährige bewunderte den Mut, die Zuversicht der Freundin. Doch immer wieder fragte sie sich: Was soll aus dem Kind einmal werden? „Der Kleine hat mich aufmerksam werden lassen“, sagt sie.«

Immer wieder kann und muss man erkennen, dass ganz viel davon abhängt, was auf der persönlichen Ebene abläuft. Diese Dimension liegt quer zu abstrakten Plänen und Aktionsprogrammen und Modellförderungen. Sie ist viel heterogener, individueller – aber letztendlich auch ein entscheidender Gelingensfaktor. Dazu passt dann auch die abschließende Bilanzierung der Festrednerin bei der Preisverleihung des „Berliner Inklusionspreises 2013“:

„Es muss ein Paradigmenwechsel in den Köpfen und Herzen auf allen Seiten stattfinden“, so Ursula Engelen-Kefer in ihrer Festrede.

Wohl wahr und was für ein weiter Weg, der da vor uns liegt.