Wenn die Leistungen einer Teilkaskoversicherung für bestimmte Menschen mit Behinderungen kleingeschreddert werden, obgleich doch alle Menschen gleich sein sollten

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! (Art. 3, Abs. 1 GG).

Wenn eine Vereinigung von „Kostenträgern“ in unserem – zugegeben höchst komplexen, verschachtelten – Sozialsystem dieses Postulat des Grundgesetzes als Überschrift für die Einladung zu einem parlamentarischen Abend in Berlin wählen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder will man so allgemein wie nur irgendwie möglich bleiben – oder aber es geht um die Adressierung eines eklatanten Problems und man will darauf hinweisen, dass etwas gegen die (eigentlich) unumstößlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen verstößt.

Um die letzte Variante geht es hier. Und um die Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Träger der Sozialhilfe (BAGüS). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss aller 23 überörtlichen Träger der Sozialhilfe in Deutschland. Je nach Landesrecht sind überörtliche Träger der Sozialhilfe entweder die Bundesländer selbst oder höhere Kommunalverbände wie etwa die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR), der Landeswohlfahrtsverband Hessen oder der Kommunale Sozialverband Sachsen.

Diese Bundesarbeitsgemeinschaft hatte zu ihrem ersten Parlamentarischen Abend in Berlin geladen. Und dabei ein wirklich mehr als heikles Thema aufgerufen: Bekanntlich ist die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung, die eben nicht die gesamten Pflegekosten abdeckt, sondern nur einen Teil davon. Die Höhe der Leistungen ist festgelegt und unterscheidet zum einen nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit, zum anderen nach der Versorgungsform, also stationär oder ambulant. Aber – das wissen viele nicht – gibt es solche und andere stationäre Pflegefälle, jedenfalls unter Berücksichtigung des § 43a SGB XI und die Unterschiede zwischen den Leistungen auf der einen und auf der anderen Seite sind schon mehr als eklatant:

»Die geltende Gesetzesregelung diskriminiert Menschen mit Behinderung, die in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, indem sie die Zuwendungen pauschal auf 266 Euro pro Monat festschreibt.
Zum Vergleich: Behinderte Menschen mit der Pflegstufe II beziehen, wenn sie nicht in so einer stationären Wohneinrichtung, sondern in einem Pflegeheim leben, Leistungen in Höhe von 1.330 Euro. Das ist das Fünffache des im § 43a SGB XI festgeschriebenen Betrages.«

Das steht nach Auffassung der BAGüS im klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und verstößt darüber hinaus gegen das Diskriminierungsverbot Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes.

Um diese rechtliche Einordnung auch fundiert belegen zu können, wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das der Sozialrechtler Felix Welti von der Universität Kassel erstellt und das offensichtlich schon vor einem Jahr abgeschlossen und jetzt im Rahmen des parlamentarischen Abends der Öffentlichkeit vorgestellt wurde:

Felix Welti: Die Sonderregelung der Pflegeversicherung in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen nach §§ 36 Abs. 1 Satz 2, 43a Sozialgesetzbuch (SGB) Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung – und die Einschränkung des Wahlrechts zwischen Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nach § 55 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) und der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Gutachten für den Landeswohlfahrtsverband Hessen. September 2015

Der Rechtswissenschaftler kommt zu dem Schluss, dass gleich mehrere Regelungen des SGB XI und XII gegen das grundgesetzlich garantierte Benachteiligungsverbot, den allgemeinen Gleichheitssatz und das Recht auf Freizügigkeit verstoßen. Darüber hinaus sieht er das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Diskriminierungsverbot, das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft und das Recht auf Gesundheit verletzt. All das steht im Widerspruch zu den politischen Absichten, behinderte Menschen so weit wie möglich gleichzustellen.
Eine Zusammenfassung des Gutachtens und die Position der BAGüS und der kommunalen Spitzenverbände findet man in dieser Zusammenstellung der BAGüS.
Um wie viele Menschen geht es hier eigentlich? Dazu die BAGüS in ihrer Pressemitteilung:

»Von deutschlandweit ca. 200.000 Menschen mit Behinderung in stationären Wohneinrichtungen sind derzeit ca. 80.000 auch pflegebedürftig, erhalten aber nur die gedeckelte Leistung der Pflegeversicherung. Ab 01.01.2017 wird diese Zahl durch den neuen Pflegebegriff auf ca. 140.000 steigen.«

Das ist alles schon mehr als fragwürdig. Aber es könnte noch schlimmer kommen – wieder einmal im Rahmen einer Reformgesetzgebung, mit der ja eigentlich die Zustände, folgt man dem alten Verständnis von Reformen, verbessert werden sollen:

»Bundestag und Bundesrat beraten derzeit das Gesetz zur Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz – BTHG) und das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), mit dem der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff auch in der Sozialhilfe eingeführt werden soll. Vorgesehen ist, dass beide Gesetze bis zum Jahresende 2016 verabschiedet werden.
Die bisher bekannten Gesetzentwürfe sehen aber nicht nur ein Festhalten an der diskriminierenden Regelung des Paragrafen 43a SGB XI vor, schlimmer noch: Es muss eine Ausweitung des Anwendungsbereiches auf ambulante Wohngruppen für Menschen mit Behinderung befürchtet werden.«

Das wäre mehr als eine Verschlimmbesserung der gegenwärtigen Problematik.

Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die Bestimmungen so zu ändern, dass auch Menschen mit Behinderung, egal wo sie leben, einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung haben. Der Gesetzgeber sollte die laufenden Gesetzgebungsverfahren nutzen, um die seit Jahrzehnten bestehende Benachteiligung pflegebedürftiger Menschen mit Behinderungen endlich aufzuheben.

Offensichtlich muss man hier Druck machen und es bleibt zu hoffen, dass der folgende Ankündigung auch Taten folgen werden:

»Die rheinland-pfälzische Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler erklärte auf der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) zum Thema „Alle Menschen sind vor dem Recht gleich“, dass sich die Koalitionspartner in Rheinland-Pfalz darauf verständigt haben, zu prüfen, ob § 43a Sozialgesetzbuch (SGB) XI mit seinen korrespondierenden Regelungen im Recht der Pflegeversicherung (SGB XI) und der Eingliederungshilfe (SGB XII) verfassungskonform ist. „Wir werden prüfen, ob diese Regelungen der Verfassung widersprechen und würden dann auch nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht gehen“, betonte die Ministerin.«

Die rheinland-pfälzische Ministerin wird zudem mit diesen Worten zitiert: »Es ist … ärgerlich, dass die Bundesregierung mit dem vorgelegten Gesetzesentwurf versucht, die offenkundig verfassungsrechtlich bedenkliche Regelung auch für Wohngemeinschaften zu erweitern. Diesem sozialpolitischen Roll-Back werden sich die Länder widersetzen“, so Bätzing-Lichtenthäler.«

Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen werden passend gemacht: Für den Mindestlohn keine Arbeitnehmer, für die Statistik sehr wohl

Mit Beginn dieses Jahres haben wir gelernt: Es gibt eine gesetzliche Lohnuntergrenze, den Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde, für alle Arbeitnehmer. Nun ja, für fast alle. Also ein paar sind ausgenommen oder bekommen erst etwas später die 8,50 Euro auf die Hand. Aber grundsätzlich für alle. Vor diesem Hintergrund wird man aufmerksam, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird: Urteil: Kein Mindestlohn für behinderte Menschen in Behindertenwerkstatt. Oder dieser Bericht hier: Beschäftigte in Behinderten-Werkstätten sind grds. keine Arbeitnehmer – Kein Mindestlohnanspruch. Ausgangspunkt beider Artikel ist eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel (Arbeitsgericht Kiel 19.6.2015, 2 Ca 165 a/15). Die Kernaussage des Urteils: »Behinderte Menschen können für ihre Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte nicht den gesetzlichen Mindestlohn beanspruchen. Denn diesen können nur Arbeitnehmer, nicht aber arbeitnehmerähnliche Beschäftigte verlangen, entschied das Arbeitsgericht Kiel in einem aktuell veröffentlichten Urteil vom 19. Juni 2015.«

Auf der anderen Seite wurden die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen – immerhin sprechen wir hier deutschlandweit von mehr als 300.000 Menschen – im vergangenen Jahr explizit als „sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in die Statistik mit aufgenommen und haben dadurch (zusammen mit mehr als 30.000 Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder etwa Berufsbildungswerken beschäftigt sind, sowie knapp 80.000 meist junge Leute, die ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr oder einen Bundesfreiwilligendienst leisten) die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 350.000 Personen nach oben gehoben. Wie praktisch, denn: »Ohne die zusätzlichen Personengruppen wäre nach dem neuen Konzept die sozialversicherte Beschäftigung absolut sogar um 67.000 Personen gesunken. Nun aber wird das Beschäftigungsniveau rein rechnerisch um 347.000 Personen höher ausfallen«, so der DGB im vergangenen Jahr: Geänderte BA-Statistik: Plötzlich 414.000 Beschäftigte mehr.  Dazu auch die methodischen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Aber werfen wir zuerst einen Blick auf das neue Urteil den Nicht-Mindestlohnanspruch der Beschäftigten in einer Werkstatt für behinderte Menschen betreffend. Die dem Verfahren zugrundeliegende Fallkonstellation erläutert der Sozialverband VdK in seinem Artikel so:

»Geklagt hatte ein unter Betreuung stehender Schwerbehinderter, der in einer Werkstatt für Behinderte im Gemüseanbau und der Verpackung tätig war. Außerdem belieferte er zweimal wöchentlich Kunden auf einer festen Fahrtour mit Lebensmittelkisten. Laut Werkstattvertrag erhielt er zuletzt für eine 38,5-Stunden-Woche eine Nettovergütung in Höhe von monatlich 216,75 Euro. Der Kreis Rendsburg Eckernförde hat als Träger der Eingliederungshilfe die Kosten für die teilstationäre Betreuung des Klägers in der Werkstatt übernommen.
Der Kläger meinte, dass die Vergütung viel zu gering sei. Wegen seiner Leistungsfähigkeit und seiner positiven Persönlichkeitsentwicklung habe sich das arbeitnehmerähnliche Arbeitsverhältnis in ein reguläres Arbeitnehmerverhältnis umgewandelt. Er habe letztlich aber nur einen sittenwidrigen Stundenlohn von 1,49 Euro erhalten.
Für das Jahr 2014 müsse ihm daher ein „angemessener Lohn“ von mindestens sechs Euro gezahlt werden. Ab Januar 2015 greife der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro.
Doch das Arbeitsgericht urteilte, dass dem Schwerbehinderten weder für 2014 eine „angemessene Vergütung“ noch ab 2015 der gesetzliche Mindestlohn zustehe. Eine „angemessene Vergütung“ könne nach dem Gesetz nur verlangt werden, wenn die Entlohnung im Vertrag nicht geregelt oder sittenwidrig ist.
Hier sei der Werkstattvertrag nicht sittenwidrig. Die darin enthaltene Vergütung orientiere sich an den gesetzlichen Bestimmungen für in einer anerkannten Werkstat tätige behinderte Menschen.«

Aber was ist mit dem gesetzlichen Mindestlohn ab dem 1. Januar 2015 für alle Arbeitnehmer mit Ausnahme derjenigen, die explizit ausgenommen worden sind (wozu die WbM-Beschäftigten erst einmal nicht gehören)? Dazu wieder der VdK:

»Der Kläger sei auch kein Arbeitnehmer. „Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu“, stellte das Arbeitsgericht klar.
Nur weil der Kläger ein Mindestmaß an verwertbarer Arbeitsleistung erbringt, bestehe noch kein Arbeitsverhältnis. Außerdem sei bei dem Schwerbehinderten eine sozialversicherungsrechtliche Erwerbsunfähigkeit festgestellt worden. Der Bericht der Werkstatt über die Entwicklung des Klägers zeige zudem, dass dieser weiterhin auf Förderung angewiesen sei. Dies spreche gegen eine „wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses“, urteilte das Arbeitsgericht.«

Um es juristisch noch genauer zu fassen, lohnt ein Blick in die Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel, denn die rekurriert auf eine Unterscheidung zwischen einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis iSd. §§ 136 ff. SGB IX und einem Arbeitsverhältnis. Und das geht dann so:

»Im Gegensatz zu einem Arbeitsverhältnis, welches ein Austauschverhältnis zwischen weisungsgebundener Arbeit und Vergütung ist, kommt in einem Werkstattverhältnis als maßgeblicher zusätzlicher Aspekt noch die Betreuung und Anleitung des schwerbehinderten Menschen hinzu. Eine Werkstatt für behinderte Menschen ist gemäß § 136 Abs. 1 S. 1 SGB IX eine Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das selbige. Sie stellt ein Angebot für behinderte Menschen dar, die aufgrund ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, diese dennoch zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis zu beschäftigen … Dabei ist der Umstand, dass ein schwerbehinderter Mensch ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbringt, kein Kennzeichen für ein Arbeitsverhältnis, sondern Aufnahmevoraussetzung für die Werkstatt nach § 136 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Ein Arbeitsverhältnis liegt erst dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch wie ein Arbeitnehmer auch in quantitativer Hinsicht wirtschaftlich verwertbare Leistungen erbringt, also der Hauptzweck seiner Beschäftigung das Erbringen wirtschaftlich verwertbarer Leistung ist und nicht der vorgenannte Zweck des § 136 Abs. 1 SGB IX im Vordergrund steht.«

Zugegeben – schwere Kost. Aber die Richter setzen noch einen drauf:

»… gegen eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses spricht neben der sozialversicherungsrechtlich festgestellten Erwerbsunfähigkeit auch ausdrücklich der aktualisierte Entwicklungsbericht, wonach der Kläger gerade der weiteren arbeitspädagogischen Begleitung und Förderung bedarf.«

Die Sondersituation ergibt sich also aus Sicht der Richter aus der „sozialversicherungsrechtlich restgestellten Erwerbsunfähigkeit“ – der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle sogleich aber daran denken, dass doch arbeitsmarktstatistisch genau diese Menschen seit 2014 zu den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gezählt werden. Ja, so ist das. Man kann sich seinen Teil denken.

Die Grundproblematik wurde in diesem Blog bereits am 25.10.2014 aufgerufen mit dem Beitrag Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen und Bundesfreiwillige als Budgetbremse für die Rentner? Ein Exkurs über die faktische Kraft der Statistik in der realen Sozialpolitik. Damals ging es darum, dass die Rentenerhöhung 2015 für die gut 20 Millionen Rentner niedriger ausfallen musste aufgrund der Aufblähung der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die zudem noch – Beschäftigte in WfbMs und Buftis – mit sehr niedrigen Einkommen in die Statistik eingeflossen sind.

Fazit:  Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese (im Jahr 2014) zusätzlich rund 400.000 Personen als sozialversicherungspflichtig beschäftigt gelten, nicht nur irgendwie als erwerbstätig, was ja auch Selbständige, geringfügig Beschäftigte oder Beamte sind. Also irgendwie „richtige“ Arbeitnehmer. So werden sie auch gezählt. Aber beim Mindestlohn gilt das dann wieder nicht, dann sind sie keine „richtigen“ Arbeitnehmer. Das Thema und die dahinter liegende Problematik ist nicht  trivial. Dazu beispielsweise die Veröffentlichung Zwischen Entgelt und Geltung: Zur Problematik von Lohnsystemen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung von Caroline Richter und Alexander Bendel aus dem August 2014. Ihre Zusammenfassung verdeutlicht bereits das Minenfeld, in dem wir uns hier bewegen:

»Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) ermöglichen Beschäftigung zu einem der Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis, so schreibt es § 136 Abs. 1 S. 1 im Sozialgesetzbuch (SGB) IX bereits seit 2001 vor. Während das „Ob“ der leistungsgerechten Ent­geltgestaltung gesetzlich vorgegeben ist, muss das „Wie“ hingegen durch die Werkstätten selbst konkretisiert und bemessen werden. Der rechtliche Rahmen gibt lediglich vor, dass das Entgelt der Beschäftigten – neben einem festgelegten Grundbetrag – auf Basis der individuellen Leistung, Menge und Güte der erbrachten Arbeit zu entrichten ist (§ 138 Abs. 2 S. 2 SGB IX). In den vergangenen 13 Jahren wurden bundesweit in mehr als 700 WfbM geeignete Ansätze zur Bemessung individueller Arbeitsleistung und zur Gestaltung geeigneter Entgeltordnungen gesucht, die Ergebnisse aber kaum thematisiert. Die Suche nach Orientierung bleibt vakant und wird durch aktuelle Entwicklungen brisanter: Wie kann die individuelle Arbeitsleistung, Arbeitsmenge und Arbeitsgüte in einem Tätigkeitsfeld bemessen werden, in dem der rehabilitative Auftrag wichtiger als die ökonomische Rationalität ist?«

Am ausgestreckten Arm verhungern lassen – nach diesem Motto scheint das Bundesarbeitsministerium zu agieren, egal, was das Bundessozialgericht so urteilt

Das Bundessozialgericht urteilt – ja und? Man muss ja nun wirklich nicht alles umsetzen, was die Robenträger so entscheiden. So oder ähnlich kann und muss man das Verhalten der Bundesregierung zusammenfassen, hinsichtlich behinderter Menschen, die bei ihren Eltern oder in Wohngruppen leben. Denen verweigert man weiterhin den vollen Sozialhilfesatz. Vgl. dazu den Artikel Vorenthaltene Selbständigkeit. Worum geht es?

»79 Euro pro Monat sind für Mittellose viel Geld. Für dieses Plus, den Unterschiedsbetrag zwischen Regelbedarfsstufe drei (320 Euro) und eins (399 Euro) bei der Sozialhilfe, haben sich erwerbsunfähige Behinderte in drei Verfahren erfolgreich durch die Instanzen gekämpft. Das Bundessozialgericht (BSG) sprach Betroffenen in einem Grundsatzurteil vom 23. Juli 2014 den vollen Sozialhilfesatz für Alleinstehende zu, auch wenn sie im Haushalt der Eltern oder in Wohngemeinschaften leben. Nur so sei der Gleichheitsgrundsatz gewahrt.«

Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vgl. auch die Pressemitteilung des Gerichts: Sozialhilfe für volljährige behinderte Menschen, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nach Regelbedarfsstufe 1 (100 %), dort gibt es auch die Links zu den drei Urteilen vom 23.07.2014, B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 12/13 R sowie B 8 SO 31/12 R.

Und was ist jetzt das Problem?

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bleibt trotz der Entscheidungen des BSG hart und speist die meist dauerhaft auf staatliche Leistungen Angewiesenen bis heute mit 20 Prozent weniger ab. Wie kann das passieren?

Im November 2014 forderte das BMAS in einem Rundschreiben an kommunale Spitzenverbände und den Bundesrechnungshof die Grundsicherungsämter dazu auf, trotz neuer Rechtslage an der alten Regelung festzuhalten. Widersprüche seien im Einzelfall zu prüfen, heißt es darin weiter. Bei Ablehnung könnten die Betroffenen mit ihrer Behörde vereinbaren, die Verfahren bis auf weiteres ruhend zu stellen. Ansonsten würden sie für beendet erklärt, negative Bescheide seien nicht mehr anfechtbar. Sein Vorgehen begründete das BMAS mit einer »unsicheren Rechtsgrundlage aufgrund fehlender Entscheidungsgründe«, so Bonath in ihrem Artikel.
Doch die hat das BSG nunmehr nachgereicht, also müsste doch jetzt wenigstens eine Anpassung der Umsetzungspraxis an die Rechtslage erfolgen, sollte man meinen. Wieder weit gefehlt.

Das Ministerium unter Führung von Andrea Nahles (SPD) hält trotz der Urteile des BSG am verminderten Regelsatz für Behinderte fest, die bei den Eltern oder in Wohngruppen leben. Die Urteilsgründe würden nun erst einmal »umfassend bewertet«, so wird der BMAS-Sprecher Dominik Ehrentraut in dem Artikel zitiert. Erst nach dieser umfassenden Prüfung wird sich das Ministerium zum weiteren Umgang äußern. Und damit gleich klar wird, dass das dauern kann: »Das Ministerium hege gar verfassungsrechtliche Zweifel an der Entscheidung des obersten Sozialgerichts.« Der Ministeriumssprecher weiter: „Insofern besteht weiterhin eine unsichere Rechtsgrundlage“. Und dann noch ein „netter“ Rat an die Betroffenen: Es obliege den Bedürftigen, Bescheiden zu widersprechen oder Überprüfungsanträge zu stellen.

Wie man so was nennt? Am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Die Lebenshilfe, so Bonath in ihrem Artikel, rät dazu, weiterhin Bescheiden zu widersprechen, gegebenenfalls Untätigkeitsklagen einzureichen. Das koste alles »Zeit und Nerven«. Und das nur, weil man offensichtlich an höchster Stelle eine rechtlich gebotene Klarstellung verschleppen will. Es wäre hilfreich gewesen, wenn das BSG die Entscheidung gleich an das Bundesverfassungsgericht weitergereicht hätte, so hängt jetzt alles irgendwie in einem Niemandsland fest.