Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich! (Art. 3, Abs. 1 GG).
Wenn eine Vereinigung von „Kostenträgern“ in unserem – zugegeben höchst komplexen, verschachtelten – Sozialsystem dieses Postulat des Grundgesetzes als Überschrift für die Einladung zu einem parlamentarischen Abend in Berlin wählen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder will man so allgemein wie nur irgendwie möglich bleiben – oder aber es geht um die Adressierung eines eklatanten Problems und man will darauf hinweisen, dass etwas gegen die (eigentlich) unumstößlichen verfassungsrechtlichen Anforderungen verstößt.
Um die letzte Variante geht es hier. Und um die Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Träger der Sozialhilfe (BAGüS). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss aller 23 überörtlichen Träger der Sozialhilfe in Deutschland. Je nach Landesrecht sind überörtliche Träger der Sozialhilfe entweder die Bundesländer selbst oder höhere Kommunalverbände wie etwa die Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR), der Landeswohlfahrtsverband Hessen oder der Kommunale Sozialverband Sachsen.
Diese Bundesarbeitsgemeinschaft hatte zu ihrem ersten Parlamentarischen Abend in Berlin geladen. Und dabei ein wirklich mehr als heikles Thema aufgerufen: Bekanntlich ist die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung, die eben nicht die gesamten Pflegekosten abdeckt, sondern nur einen Teil davon. Die Höhe der Leistungen ist festgelegt und unterscheidet zum einen nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit, zum anderen nach der Versorgungsform, also stationär oder ambulant. Aber – das wissen viele nicht – gibt es solche und andere stationäre Pflegefälle, jedenfalls unter Berücksichtigung des § 43a SGB XI und die Unterschiede zwischen den Leistungen auf der einen und auf der anderen Seite sind schon mehr als eklatant:
»Die geltende Gesetzesregelung diskriminiert Menschen mit Behinderung, die in stationären Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe leben, indem sie die Zuwendungen pauschal auf 266 Euro pro Monat festschreibt.
Zum Vergleich: Behinderte Menschen mit der Pflegstufe II beziehen, wenn sie nicht in so einer stationären Wohneinrichtung, sondern in einem Pflegeheim leben, Leistungen in Höhe von 1.330 Euro. Das ist das Fünffache des im § 43a SGB XI festgeschriebenen Betrages.«
Das steht nach Auffassung der BAGüS im klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention und verstößt darüber hinaus gegen das Diskriminierungsverbot Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes.
Um diese rechtliche Einordnung auch fundiert belegen zu können, wurde vom Landeswohlfahrtsverband Hessen ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das der Sozialrechtler Felix Welti von der Universität Kassel erstellt und das offensichtlich schon vor einem Jahr abgeschlossen und jetzt im Rahmen des parlamentarischen Abends der Öffentlichkeit vorgestellt wurde:
Felix Welti: Die Sonderregelung der Pflegeversicherung in Wohneinrichtungen für behinderte Menschen nach §§ 36 Abs. 1 Satz 2, 43a Sozialgesetzbuch (SGB) Elftes Buch (XI) – Soziale Pflegeversicherung – und die Einschränkung des Wahlrechts zwischen Behinderteneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen nach § 55 Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz (GG) und der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Gutachten für den Landeswohlfahrtsverband Hessen. September 2015
»Von deutschlandweit ca. 200.000 Menschen mit Behinderung in stationären Wohneinrichtungen sind derzeit ca. 80.000 auch pflegebedürftig, erhalten aber nur die gedeckelte Leistung der Pflegeversicherung. Ab 01.01.2017 wird diese Zahl durch den neuen Pflegebegriff auf ca. 140.000 steigen.«
Das ist alles schon mehr als fragwürdig. Aber es könnte noch schlimmer kommen – wieder einmal im Rahmen einer Reformgesetzgebung, mit der ja eigentlich die Zustände, folgt man dem alten Verständnis von Reformen, verbessert werden sollen:
»Bundestag und Bundesrat beraten derzeit das Gesetz zur Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz – BTHG) und das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), mit dem der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff auch in der Sozialhilfe eingeführt werden soll. Vorgesehen ist, dass beide Gesetze bis zum Jahresende 2016 verabschiedet werden.
Die bisher bekannten Gesetzentwürfe sehen aber nicht nur ein Festhalten an der diskriminierenden Regelung des Paragrafen 43a SGB XI vor, schlimmer noch: Es muss eine Ausweitung des Anwendungsbereiches auf ambulante Wohngruppen für Menschen mit Behinderung befürchtet werden.«
Das wäre mehr als eine Verschlimmbesserung der gegenwärtigen Problematik.
Der Gesetzgeber ist aufgerufen, die Bestimmungen so zu ändern, dass auch Menschen mit Behinderung, egal wo sie leben, einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung haben. Der Gesetzgeber sollte die laufenden Gesetzgebungsverfahren nutzen, um die seit Jahrzehnten bestehende Benachteiligung pflegebedürftiger Menschen mit Behinderungen endlich aufzuheben.
Offensichtlich muss man hier Druck machen und es bleibt zu hoffen, dass der folgende Ankündigung auch Taten folgen werden:
»Die rheinland-pfälzische Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler erklärte auf der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) zum Thema „Alle Menschen sind vor dem Recht gleich“, dass sich die Koalitionspartner in Rheinland-Pfalz darauf verständigt haben, zu prüfen, ob § 43a Sozialgesetzbuch (SGB) XI mit seinen korrespondierenden Regelungen im Recht der Pflegeversicherung (SGB XI) und der Eingliederungshilfe (SGB XII) verfassungskonform ist. „Wir werden prüfen, ob diese Regelungen der Verfassung widersprechen und würden dann auch nach Karlsruhe vor das Bundesverfassungsgericht gehen“, betonte die Ministerin.«