Verloren in einer (mindestens) halbierten Realität. Statistiken über fehlende Schulabschlüsse bei Flüchtlingen und Inhalte jenseits der Überschriften

Die echten Zahlen – so der Aufmacher der BILD-Zeitung am 22. August 2017. Offensichtlich, so die Botschaft, wurden wir bislang über irgendeine Wahrheit getäuscht mit falschen Zahlen und nun erfahren wir endlich, wie es wirklich ist. 59 Prozent der Flüchtlinge 
haben keinen Schulabschluss – so kann man es in der Online-Ausgabe der Zeitung lesen. Ergänzt wird das dann durch den Seriösität vermittelnden Zusatz: Bundesinstitut rechnet offizielle Zahlen auch.“ Wenn das keine Nachricht ist: »Die Anzahl der arbeitssuchenden Flüchtlinge ohne Schulabschluss ist weit höher als bisher offiziell angegeben. Ausgerechnet eine Bundesbehörde hat die Daten der Bundesagentur für Arbeit kritisch überprüft … Pikant: Das BIBB hatte Zahlen einer anderen Bundesbehörde nachgerechnet – der Bundesagentur für Arbeit (BA).« Da stellt sich natürlich die Frage, was denn bislang hinsichtlich des Merkmals „kein Schulabschluss“ angegeben wurde. Schaut man in die BA-Statistik, dann wird man hier die folgenden Zahlen für den Juli 2017 finden: Insgesamt geht es um 492.043 Personen im Kontext von Fluchtmigration, darunter aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, Irak, Somalia oder Eritrea. Von diesen werden 168.828 Personen „ohne Hauptschulabschluss ausgewiesen, was einem Anteil von nur 34 Prozent entsprechen würde – deutlich weniger als die von den BILD-Zeitung genannten 59 Prozent.

Wie kann es zu solchen Abweichungen kommen? Die BILD-Zeitung klärt uns auf – als ob sie eine geheime Statistik-Verschlierungssache aufgedeckt hat:

»Das BIBB hatte Zahlen einer anderen Bundesbehörde nachgerechnet – der Bundesagentur für Arbeit (BA). In deren Statistik zu den Bildungsabschlüssen der knapp 500.000 arbeitssuchenden Migranten fiel auf, dass rund 25 Prozent der Personen keine Angaben gemacht hatten.

Das BIBB hält es für „nicht unwahrscheinlich“, dass die Betroffenen die Angabe verweigerten, weil sie in Wahrheit keinen Abschluss haben. Daraufhin wurden sie vom BIBB der Gruppe derer ohne Schulabschluss zugerechnet. Ergebnis: Im Schnitt 59 Prozent der Arbeitssuchenden aus den wichtigsten Asylländern haben keinen Schulabschluss.«

Ganz offensichtlich bezieht sich die BILD-Zeitung auf diese Veröffentlichung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB):

Friedel Schier (2017): Welche schulische Vorbildung bringen Geflüchtete für die Berufsausbildung mit?, Bonn 2017

An dieser Stelle hat sich eine interessante Kontroverse entzündet. So versuchte sich der Bayerische Rundfunk als „Faktenchecker“ und widersprach der BILD-Zeitung, die ja behauptet, das BIBB habe nachgerechnet: »Stimmt nicht, heißt es dazu auf Anfrage des Bayerischen Rundfunks beim BIBB. Es sei nicht Aufgabe des BIBB, Zahlen der Bundesagentur nachzurechnen, und weiter: „Die Aussage ’59 % der Flüchtlinge haben keinen Schulabschluss‘ wurde seitens des BIBB nicht getroffen, da sie sachlich nicht richtig ist.“ (Bundesinstitut für Berufsbildung).« Das kann man dem Beitrag Wie viele Flüchtlinge sind ohne Schulabschluss? entnehmen.

Hier muss man allerdings kurz innehalten und einen Blick werfen in die Original-Veröffentlichung des BIBB. Und dort findet man dann tatsächlich diese Formulierung: »Wenn man in der BA-Statistik die Zahl der Personen ohne Abschluss zu den Personen ohne Angaben hinzurechnet, was aufgrund der besonderen Situation der Personen und des Fluchthintergrundes nicht unwahrscheinlich ist, verfügen gut 50 % der Schutzberechtigten über keine (abgeschlossene) Schulbildung.« Insofern hat die BILD-Zeitung an dieser Stelle nicht falsch berichtet.

Die Kritik aus den Reihen des Bayerischen Rundfunks wollte die BILD-Zeitung nicht auf sich sitzen lassen und auf Twitter entwickelte sich ein heftiger Schlagabtausch – vgl. dazu den Artikel Bild-Chef Reichelt vs. die Faktenchecker vom BR: das Problem mit einer Flüchtlings-Überschrift: »Bild-Chef Julian Reichelt und Bild-Politikchef Nikolaus Blome wehren sich öffentlich auf Twitter gegen einen Bericht des „Faktenfuchs“ vom Bayerischen Rundfunk. Die Faktenchecker hatten den Bild-Aufmacher vom Dienstag („So viele Flüchtlinge haben keinen Schulabschluss“) kritisiert. Schaut man sich die Fakten an, haben beide Parteien in gewisser Weise recht. Die Bild-Schlagzeile bleibt für sich genommen aber hoch problematisch.«

Zurück zu den „Faktencheckern“ des Bayerischen Rundfunks: Sie haben ja beim BIBB nachgefragt und von dort dann diese Erläuterungen erhalten:

»Das BIBB rät in seiner schriftlichen Stellungnahme an den BR zur Vorsicht mit der Statistik. Die zugrunde gelegten Zahlen beziehen sich nämlich demnach gar nicht auf alle Flüchtlinge, wie man aufgrund der Überschrift in der „Bild“ glauben könnte, sondern lediglich auf diejenigen Flüchtlinge, die noch Arbeit suchen. Das heißt: Alle Flüchtlinge, die schon Arbeit gefunden haben – zum Beispiel weil sie eine gute Ausbildung haben – kommen in der Rechnung mit den genannten 59 Prozent ohne Schulabschluss gar nicht vor.

Die ursprünglichen Zahlen sind auch differenzierter. 121.458 Arbeitssuchende machten KEINE Angaben zu ihrer schulischen Vorbildung. Also wurden sie bei den Zahlen in der „Bild“ kurzerhand als Flüchtlinge ohne Schulabschluss gerechnet. Doch wenn jemand keine Angaben gemacht hat, muss das nicht zwangsläufig heißen, dass er keinen Schulabschluss hat.«

An diesem Punkt setzt auch die rechnerisch fundierte Wortmeldung von Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) vom 22.08.2017 an: BILD und die Flüchtlinge ohne Schulabschluss. Die Darstellung in der Abbildung basiert auf seinen Berechnungen in Abgrenzung zu den von der BILD-Zeitung ausgewiesenen Anteilswerten. Während BILD alle ohne einen Hauptschulabschluss mit allen Personen, für die „keine Angabe“ ausgewiesen wird, addiert und dann durch alle Arbeitsuchenden geteilt hat, geht Schröder hin und dividiert die Personen ohne Hauptschulabschluss durch die Personen insgesamt abzüglich derjenigen, bei denen „keine Angabe“ notiert ist. Dadurch erhält man das richtige Anteilsverhältnis bezogen auf die, für die konkrete Angaben vorliegen.

Und auch das IAB der Bundesagentur für Arbeit hat sich explizit zu der Kontroverse zu Wort gemeldet, unter dieser Überschrift: Annähernd zwei Drittel der Geflüchteten haben einen Schulabschluss – eine Überschrift, die nun ganz anders daherkommt als das, was BILD berichtet hat. Auch hier wird auf die bereits angesprochene methodische Schwachstelle hingewiesen, dass es viele Gründe gibt, warum in der BA-Statistik keine Angaben zum Schulabschluss vorliegen und man die dort eingeordneten Personen nicht automatisch der Gruppe ohne Schulabschluss zuschlagen kann und darf.

»Die Ursachen, warum keine Angaben zu den Schulabschlüssen vorliegen, sind vielfältig: fehlende oder nicht vollständige Angaben der Arbeitsuchenden, fehlende Zertifikate und andere Dokumente, Probleme der Zuordnung aufgrund unvollkommener Informationen über im Ausland erworbene Abschlüsse, ö. Ä. Im Durchschnitt liegen für gut 11 Prozent der Arbeitsuchenden keine Angaben zu den Schulabschlüssen vor, bei ausländischen Staatsbürgern ist der Anteil deutlich höher. Vor diesem Hintergrund ist die Schlussfolgerung, dass Personen, für die keine Angaben zu den Schulabschlüssen vorliegen, über keine Schulabschlüsse verfügen, nicht korrekt.«

Hinzu kommt:

»Darüber hinaus bezieht sich die zitierte Statistik der BA nur auf die arbeitsuchenden Geflüchteten, nicht auf die Geflüchteten insgesamt. Da die erwerbstätigen Geflüchteten im Durchschnitt besser als die als arbeitsuchend registrierten Geflüchteten qualifiziert sind, ergibt sich folglich ein verzerrtes Bild, das die tatsächliche Qualifikation der Geflüchteten unterschätzt.«

Und dann zitieren sie eine andere Quelle mit anderen Ergebnissen zum Thema Schulabschlüsse: »In einer repräsentativen Erhebung … (IAB, BAMF, SOEP) geben 64 Prozent der Geflüchteten an, einen mittleren oder weiterführenden Schulabschluss zu besitzen.« Etwas genauer erfahren wir:

»Ein repräsentatives Bild über die Schulbildung der Geflüchteten lässt sich aus der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten ableiten. Die erste Welle dieser Erhebung umfasst 4.816 Geflüchtete im Alter von 18 Jahren und älter, die vom 1.1.2013 bis zum 31.1.2016 nach Deutschland zugezogen sind und im zweiten Halbjahr 2016 befragt wurden. Nach den Ergebnissen dieser Befragung verfügen 64 Prozent der erwachsenen Geflüchteten, die Angaben zu ihrer Schulbildung gemacht haben, über eine abgeschlossene Schulbildung. 25 Prozent haben mittlere, 35 Prozent weiterführende und 4 Prozent sonstige Schulabschlüsse erworben.

Es haben allerdings knapp 8 Prozent der Befragten keine Angaben zu ihrem Schulbesuch und -abschlüssen gemacht. Selbst unter der extrem unwahrscheinlichen Annahme, dass in dieser Gruppe niemand einen Schulabschluss erworben hat, beliefe sich der Anteil der Personen mit abgeschlossener Schulbildung in der Grundgesamtheit der erwachsenen Geflüchteten immer noch auf 59 Prozent. Es ist folglich sehr wahrscheinlich, dass zwischen 60 Prozent und zwei Dritteln der Geflüchteten einen Schulabschluss erworben haben.«

Nun mag der eine oder andere etwas verwirrt auf der Strecke bleiben – aber man kann und muss das hinsichtlich einer immer notwendigen Einordnung und Bewertung in einen realistischen Kontext stellen, der zudem verzerrt sein kann und ist durch bestimmte mitlaufende Interessen.

Man kann bilanzieren, dass die Überschrift auf der Titelseite der BILD-Zeitung schlichtweg falsch ist, aber seine Funktion sicher erfüllt hat: Es soll hängen bleiben, dass „die“ meisten Flüchtlinge nicht mal einen Schulabschluss haben. Auch wenn das ein genauerer Blick auf die Daten und deren Hintergründen wie hier gezeigt gar nicht hergibt.

Auf der anderen Seite könnte man der gleichsam entgegengesetzten Überschrift des IAB, dass zwei Drittel der Geflüchteten einen Schulabschluss haben, ebenfalls kritisch begegnen und darauf hinweisen, dass die sich auf eine Befragung ausgewählter Flüchtlinge in der zweiten Jahreshälfte handelt, die – bei aller Anerkenntnis der Forschungsleistung – immer und bei diesem Personenkreis sicher ziemlich stark mit Unsicherheit behaftet ist was die behauptete Repräsentativität angeht.

Aber selbst wenn wir die deutlich höheren Werte, die vom IAB in die Debatte geworfen werden, akzeptieren, muss man inhaltlich weitergehen und Anschlussfragen hinsichtlich solcher Bilanzierungen stellen:

»Insgesamt zeichnet sich also eine Polarisierung in der Schulbildung ab: vergleichsweise hohe Anteile von Personen, die weiterführende Schulen abgeschlossen oder besucht haben, stehen ebenfalls hohen Anteilen gegenüber, die nur eine Grundschule oder gar keine Schule besucht haben.«

Das wird vom IAB auch getan: »Auch bei denjenigen, die mittlere oder weiterführende Schulen besucht haben, muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund von Unterschieden in der Qualität und Struktur der Bildungssysteme Defizite bestehen, die eine besondere Förderung, etwa beim Übergang in Ausbildung und Hochschulbildung, erforderlich machen.«

Das ist der eine Punkt: Selbst die Angabe eines (formalen) Schulbildungsabschlusses suggeriert möglicherweise eine Vergleichbarkeit, die es so nicht geben kann. Logischerweise muss sich die Schulbildung im Irak oder in Syrien unterscheiden von der in Deutschland. Selbst und gerade eine absolvierte Hochschulausbildung bedeutet gerade nicht, dass man sich in einem ganz anders strukturierten Land wie Deutschland auf einem vergleichbaren Niveau bewegen kann.

Das gilt noch mehr für den – ob explizit oder implizit – in den Raum gestellten „Vorwurf“, viele Geflüchtete hätten ja noch nicht einmal eine Schulbildung. Es handelt sich hier in vielen Fällen um Menschen, die aus Kriegs- bzw. Bürgerkriegsländern geflüchtet sind (was auch in sicher nicht wenigen Fällen erklären mag, warum die keine ordnungsgemäße Dokumentation einer eventuell vorhandenen Schulbildung im Gepäck haben, weil das sicher nicht auf der Prioritätenliste mitzunehmender Sachen oben stand oder stehen konnte).

Möglicherweise schwingen bei dem einen oder anderen Enttäuschungen mit, dass es eben oftmals nicht „Fachkräfte“ gewesen sind, die im Zuge der Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland gekommen sind. Die Flüchtlingszuwanderung ist aber eben auch keine (gewesen), die nach diesem Kriterium selektiert hat, wie das beispielsweise bei gesteuerten Zuwanderungssystemen wie in Kanada der Fall ist. Das muss man eben unterscheiden, wenn man die Angekommenen beurteilt. Aber wenn man einem in den vergangenen Jahren in Afghanistan aufgewachsenen Menschen, der keine Schulbildung erfahren konnte in seinem Herkunftsland, hier bei uns aufnimmt, dann darf man sich nicht der Einsicht verschließen, dass es sehr langwierig und in nicht wenigen Fällen auch fast unmöglich sein wird, alle in unser System zu integrieren und ihnen zu einer Erwerbsarbeit zu verhelfen, die sie von den Infusionströpfen der Transferleistungen unabhängig werden lassen. Das bedeutet, dass viele der Flüchtlinge und ihre Angehörigen auf viele Jahre im Grundsicherungssystem verbleiben werden. Das nicht offen auszusprechen, befördert nur diejenigen, die gegen Flüchtlinge agitieren und Stimmung machen.

Der eigentliche Punkt ist dennoch und unausweichlich die Frage, wie man mit diesen Menschen umgeht, wenn man ihnen – und sei es auf Zeit begrenzt – den Aufenthalt in Deutschland zugesteht. Sprachkurse, Bildung und Ausbildung sowie Beschäftigung als notwendige Investitionen sind dann die mehr als naheliegenden Schlussfolgerungen, die man ziehen muss, selbst wenn einem diese Zuwanderung nicht gefällt. Gleichsam aus eigenem Interesse für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und dass da einiges schwer im Argen liegt, ist für jeden unvoreingenommenen Beobachter offensichtlich. Aber die unterlassenen Aktivitäten in diesem Bereich werden sich bitter rächen. Das aber ist ein neues Fass, das aufgemacht werden müsste, derzeit aber irgendwie kaum bis gar nicht mehr in der politischen Debatte auftaucht.

In diesem Kontext sei abschließend auf eine neue Studie hingewiesen, die genau darauf einen kritischen Blick wirft:

Jörg Bogumil, Jonas Hafner und André Kastilan (2017): Städte und Gemeinden in der Flüchtlingspolitik. Welche Probleme gibt es – und wie kann man sie lösen? Studie im Auftrag der Stiftung Mercator, Essen 2017

Martin Korte hat seinen Artikel über diese neue Untersuchung so überschrieben: Studie: Träge Bürokratie bremst Integration von Flüchtlingen und eine gute Zusammenfassung geliefert.
Die mangelhafte Zusammenarbeit von Verwaltungen und Behörden bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms behindert die Integration und verschlingt unnötig viel Zeit und Geld. Die Studie fordert die Bundesregierung auf, die Zuständigkeiten im Bereich Asyl und Integration neu zu ordnen.

»Bogumil untersuchte das Verwaltungshandeln der Kommunen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/2016 und stützte sich dabei vor allem auf Erkenntnisse der Städte Arnsberg und Bochum. „Wir haben ein Kompetenz- und Organisationsversagen festgestellt“ … „Dass daraus kein Staatsversagen geworden ist, verdanken wir den Kommunen, die mit Flexibilität und Improvisationskunst auf die Probleme reagiert haben.“«

Die Politik müsse vor allem das Zuständigkeits-Durcheinander im Bereich Asyl und Integration beenden. „Jeder macht das vermeintlich Richtige, aber niemand ist für den Gesamtprozess verantwortlich“, kritisierte Bogumil. Dazu als Beispiel die Sprachkurse:

»Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) organisiere den ersten Sprachkurs über seine Außenstellen, stimme sich dann aber nicht mehr mit den Anbietern vor Ort über Folgekurse ab. Ob Flüchtlinge weiter Deutsch lernen könnten, bliebe häufig deshalb dem Zufall überlassen. Beispiel Zeugnisse: Alle ausländischen Abschlüsse unterhalb des Gymnasiums werden von der Bezirksregierung Köln begutachtet. Weil die aber nicht genug Personal habe, dauere eine Beurteilung bis zu sechs Monaten. „Bürokratie bremst Integration“, sage Bogumil.«

Eine der Forderungen von Bogumil et al. betrifft einen Bereich, der auch schon in diesem Blog immer wieder angesprochen wurde:

»Das Asylbewerberleistungsgesetz solle abgeschafft werden. „Die aktuelle Regelung zum Leistungsbezug durch Geflüchtete bedeutet einen enormen Verwaltungsaufwand, obwohl tatsächlich nur sehr geringe Leistungsunterschiede bestehen“, so Bogumil. Eine generelle Öffnung von Hartz IV für Asylbewerber würde Abhilfe schaffen.«

Denn im Hartz IV-Bezug landen die meisten von ihnen sowieso. Dann kann man das dahinter stehende System auch von Anfang an mit der Aufgabe betreuen und darüber eine Gesamtverantwortung herstellen – aber natürlich nur, wenn man gleichzeitig die Jobcenter nicht nur quantitativ-personell, sondern auch qualitativ ausgestattet und entwickelt hätte oder das tun würde.

In der Bogumil-Studie wird konstatiert, dass die Kommunen Fehler ausbaden müssen, die Bund und Länder zu verantworten haben. »Doppelarbeit und mangelhafte Kommunikation sind die wichtigsten Defizite, die Bogumil ermittelt hat. Er kritisiert vor allem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Weil es nicht effizient arbeite, sei es dafür verantwortlich, dass zahlreiche Syrer vor den Verwaltungsgerichten mit ihren Klagen gegen abgelehnte Asylbescheide erfolgreich seien.«
Und eine solche Diagnose sollte nachdenklich stimmen; „Wir haben eine Misstrauensverwaltung“, sagt Bogumil. „Sie beruht einzig und allein darauf, Missbrauch zu entdecken und nicht zu helfen.“ Die Bürokratie fresse Zeit und Geld. Und sie belaste nicht nur die Flüchtlinge selbst, sondern auch ehrenamtliche Helfer, die angesichts zahlreicher verfahrenstechnischer Stolpersteine am Sinn ihrer Tätigkeit zweifelten.«

Ein vor Jahren abgelehnter Asylbewerber wird vom Bundessozialgericht auf das „unabweisbar Gebotene“ begrenzt – und was das mit anderen Menschen zu tun haben könnte

Das Bundessozialgericht (BSG) hat über diese Entscheidung informiert: Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich, so ist die Pressemitteilung dazu überschrieben.

Zum Sachverhalt und der Begründung des BSG kann man dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren entnehmen:
»Eine Behörde darf einem Ausländer Leistungen kürzen, wenn er nicht bei seiner Abschiebung mitwirkt: Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat am Freitag eine entsprechende Klage eines 49-Jährigen aus Kamerun abgewiesen. Die einschlägige Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sei verfassungsrechtlich unbedenklich, so das Gericht. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen (Urt. v. 12.05.2017, Az. B7 AY 1/16R).
Streitpunkt war § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Dieser sieht die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt.

Der Asylantrag des Kameruners war 2004 abgelehnt worden, eine Abschiebung scheiterte allein an seinem fehlenden Pass. Seine Hilfe bei der Beschaffung eines neuen Ausweises verweigerte der 49-Jährige aus dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz, obwohl die Ausländerbehörde ihn 19-mal dazu aufforderte. Sie beschränkte ihre Leistungen deswegen auf das Bereitstellen einer Unterkunft sowie Gutscheine für Kleidung und Essen. Eine Bargeld-Zahlung in Höhe von knapp 130 Euro monatlich strich sie aber. Vor dem Sozialgericht (SG) Cottbus war der Mann gescheitert.«

Zur Begründung hat das BSG ausgeführt:

»Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hindere den Gesetzgeber nicht daran, die Leistungen an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, so die Kasseler Richter. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG knüpfe die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne.

Auch dass der Kameruner über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hatte, sei verfassungsrechtlich unbedenklich, da er sich sich stets darüber bewusst gewesen sei, wie er die Leistungsabsenkung hätte verhindern beziehungsweise beenden können. Er sei regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden.«

Nun werden viele Menschen mit Blick auf den konkreten Sachverhalt des bereits im Jahr 2002 nach Deutschland gekommenen abgelehnten Asylbewerbers und seine Weigerung, durch aktive Beeilung an der Identitätsklärung an seiner dann realisierbaren Abschiebung mitzuwirken, aus dem Bauch heraus Zustimmung äußern – es kann doch nicht angehen, sich wie in diesem Fall jahrelang an der Nase herumführen zu lassen. Das ist durchaus verständlich.

Auf der anderen Seite öffnet sich hier und mit der Entscheidung des BSG ein Strauß an nicht trivialen sozialpolitischen Grundsatzfragen, die auch ganz anderen Bereiche und Menschen betreffen könnten.

In dem Artikel Aus­länder muss bei Abschiebung koope­rieren wird Matthias Lehnert, Rechtsanwalt bei einer Kanzlei für Aufenthaltsrecht in Berlin, zitiert:

„Die Verfassungsmäßigkeit des § 1a Abs. 2 Satz 2 des Asylbewerberleistungsgesetz ist heiß umstritten. Denn bereits 2012 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Asylbewerbern auch Leistungen zum Erhalt eines menschenwürdigen Existenzminimums zustehen.“

Und weiter:

»Er hofft, dass die BSG-Entscheidung … vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben wird. In Karlsruhe sei eindeutig entschieden worden, dass Asylbewerberleistungen im Wesentlichen nicht von solchen abweichen dürfen, die nach den Sozialgesetzbüchern II und XII gezahlt werden – und zwar bedingungslos. „Dazu gehört auch ein Anteil für die Teilhabe am sozialen Leben. Den Erhalt der vollen Leistung an eine Mitwirkungspflicht zu knüpfen, wie es nun das Bundessozialgericht getan hat, halte ich nicht für gangbar“, sagt Lehnert.«

Er spricht hier die Entscheidung des BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 an. Darin wurde festgestellt, dass die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes evident unzureichend war, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist. In den Leitsätzen des Urteils aus dem Jahr 2012 finden sich diese Ausführungen:

»Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.«

Und in der Entscheidung findet man diesen Passus: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen … Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Christian Rath versucht in seinem Kommentar zur BSG-Entscheidung unter der Überschrift Zulässiges Druckmittel eine Differenzierung: »Vermutlich wird das Bundesverfassungsgericht unterscheiden: Es ist unzulässig, das Existenzminimum zu verweigern, wenn dies nur der Abschreckung von anderen dient. Dagegen dürfte die Kürzung als Sanktion im konkreten Fall zulässig sein, wenn der Betroffene sie durch Beachtung seiner gesetzlichen Pflichten jederzeit abwenden kann. Und natürlich macht es auch einen Unterschied, wenn der Betroffene ohne Gefahr in seine Heimat zurückkehren könnte. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts ist deshalb im Ergebnis richtig.« Und er schiebt eine politische Einschätzung hinterher: »Der völlige Verzicht auf Abschiebungen ist keine … Alternative. Er mag zwar in einer sehr kleinen Minderheit der Bevölkerung populär sein, würde aber bald dazu führen, dass die Aufnahme von Flüchtlingen ganz in Frage gestellt wird.«

Aber zurück zu der Frage, wo und warum das Urteil ausstrahlen könnte in andere sozialpolitische Bereiche: Das Bundessozialgericht stellt in seiner neuen Entscheidung darauf ab, dass es um eine aus seiner Sicht erreichbare Verhaltensänderung geht, mit der man die Sanktion wieder auflösen kann, also durch Mitwirkung, die bislang verweigert worden ist. In den Worten des BSG: »Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann.«

Und an dieser Stelle wird eine verfassungsrechtliche Fragestellung aufgeworfen, die möglicherweise auch ausstrahlen könnte in andere strittige Bereiche aus der Welt der Grundsicherung, beispielsweise das in Karlsruhe anhängige Verfahren gegen die Sanktionen im SGB II. Dies betrifft vor allem die vom BSG herausgestellte Begründung, die „Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern könne“, zu knüpfen. Denkbare Analogien zur ausstehenden Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der im erneuten Vorlagebeschluss des SG Gotha vom 02.08.2016 zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im SGB II liegen auf der Hand (vgl. zu diesem Komplex auch den Beitrag Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor vom 2. August 2016).

Bedenkenswert ist in diesem Kontext die vom BSG hervorgehobene Formulierung: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen.« Auch bei den Sanktionen im SGB II geht es um „Mitwirkungspflichten“, beispielsweise Termine im Jobcenter einzuhalten, bei deren Nichteinhaltung Sanktionen verhängt werden, die – so die vergleichbare Logik des BSG – durch das Verhalten des Leistungsempfängers beeinflusst werden können. Möglicherweise wird das auch im BVerfG-Verfahren eine Rolle spielen.

Nicht, dass das auch zwingend ist, aber man sollte das auf dem Schirm haben.

Man könnte natürlich mit Blick auf die neue Entscheidung des BSG und mit Blick auf das Sanktionsverfahren beim BVerfG auch die Ableitung wagen, dass dann aber zumindest die „Vollsanktionierten“ im SGB II, denen also 100 Prozent gekürzt werden, darauf hoffen dürfen, das ihnen dann auch wenigstens das „unabweisbar Gebotene“ gewährt werden muss. Denn warum sollten die schlechter behandelt werden als ein seit vielen Jahren abgelehnter Asylbewerber? Man sieht, es öffnet sich ein großer Raum der offenen Fragen. Aber es gibt ja die Hoffnung, dass das BVerfG im Laufe dieses Jahres zu einer Entscheidung kommen wird. Dann werden wir weitersehen.

Foto: © Stefan Sell

Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen: „Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor“. Doch, die gibt es – und sie bestätigen die Skepsis gegenüber den „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“

Ein wichtiges Instrumentarium für die parlamentarische Opposition ist das Fragerecht, beispielsweise in Form von kleinen Anfragen an die Bundesregierung. Und die muss die umfänglich und ohne Vorhalten von Informationen beantworten.

Nun würde die Regierung gerne manche Dinge, die ihr nicht in den Kram passen, gerne zurückhalten oder darauf verweisen, man verfüge über keine Informationen. Was aber nicht in Ordnung und ein unakzeptabler Verstoß gegen die parlamentarischen Sitten wäre. Vielleicht aber lässt man auch Anfragen beantworten von Referenten, die möglicherweise weniger durch Qualifikation, sondern aufgrund des richtigen Parteibuchs ausgesucht worden sind – auch das kann erklären helfen, ist aber ebenfalls nicht in Ordnung, denn wenigstens der Fachbeamtenapparat eines Ministeriums sollte funktionieren.

Eine lange Vorrede, um auf diesen konkreten Fall zu kommen: Bereits am 12. Juni 2016 wurde hier gepostet: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? Darin wurde im Kontext des damals in der Niederkunft befindlichen Integrationsgesetzes das Bundesarbeitsministerium zitiert: »Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt.« 100.000 „Ein-Euro-Jobs“ (in diesem Fall aber sogar noch reduziert auf 80 Cent) nur für Asylbewerber zwischen Ankommen und Anerkennung als Asylberechtigte (dann sind sie nämlich im Hartz IV-System)? Das hat schon quantitativ überrascht.

Und nicht nur hinsichtlich der geplanten Größenordnung (die mehr als ambitioniert daherkam, wenn man berücksichtigt, dass es im ganzen Hartz IV-System bundesweit nur noch knapp über 80.000 Arbeitsgelegenheiten, so heißen die „Ein-Euro-Jobs“ richtigerweise, gibt). Sondern auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung. Damals wurde der Zweifel so formuliert:

»Das nun überrascht den einen oder anderen, vor allem aber den sachkundigen Beobachter der arbeitsmarktpolitischen Landschaft, denn die „Arbeitsgelegenheiten“ – im SGB II die letztendlich einzige verbliebene Form der öffentlich geförderten Beschäftigung – haben von ihrer Anlage bzw. ihrem vom Gesetzgeber gewollten Zuschnitt nun eher nicht die Aufgabe, dem deutschen Arbeitsmarkt irgendwie nahezukommen, sondern aufgrund der förderrechtlichen Anforderungen (vgl. hierzu § 16d SGB II, nach dessen Absatz 1 erwerbsfähige Leistungsberechtigte in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden können, »wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind.«) müssen sie sogar möglichst weit weg sein von dem, was in der „normalen“ Wirklichkeit des Arbeitsmarktes passiert, damit sie nicht gegen die Wettbewerbsneutralität (§ 16d Abs. 4 SGB II) verstoßen.«

Und weiter:

»Das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ ist nun, dass die
a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.«

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund der Arbeitsgelegenheiten ist die Erwartung des BMAS, die geplanten 100.000 Plätze würden „erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt“ ermöglichen, nur als weltfremd zu bezeichnen.
Die neuen Arbeitsgelegenheiten eigener Art, wie sie mit dem Integrationsgesetz geplant und der Öffentlichkeit lauthals verkündet wurden, machen überhaupt keinen Sinn. Da werden 100.000 Plätze geplant, die man eigentlich nicht oder nur mit einer sehr kleinen Zahl besetzen kann. Darauf wurde bereits in diesen beiden Blog-Beiträgen kritisch hingewiesen: Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte vom 13. Februar 2016 sowie Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? vom 23. März 2016.

Sage also keiner, man wäre nicht gewarnt gewesen.

Nun hat in der Zwischenzeit, nachdem das Programm angelaufen ist, die grüne Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer eine Anfrage zur Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens an die Bundesregierung gestellt. Und sie hat eine Antwort bekommen:

Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen – Aktueller Stand, Probleme, Perspektiven. Antwort der Bundesregierung, BT-Drucksache 18/11039 vom 31.01.2017

Und was die Abgeordnete da serviert bekommen hat, findet sich in solchen Schlagzeilen wieder: Kaum Interesse an Ein-Euro-Jobs für Asylbewerber, schreibt beispielsweise Dietrich Creutzburg in der Online-Ausgabe der FAZ: »300 Millionen Euro lässt sich der Bund sein neues Förderprogramm kosten. Doch das läuft schleppend an.« So kann man das sagen.

Seit August 2016 wurden von Ländern und Kommunen nur 18.959 Plätze beantragt; genehmigt und damit grundsätzlich verfügbar waren bis Mitte Januar 13.000 Plätze, wird aus der Antwort der Bundesregierung zitiert. Und weiter erfahren wir: Wie viele Asylbewerber tatsächlich schon einen solchen Ein-Euro-Job angetreten haben, ist indes unklar. Und die Verursacherin wird dann so zitiert:

»Für die Abgeordnete Brigitte Pothmer, Arbeitsmarktfachfrau der Grünen, zeigt die Bilanz, dass das Programm von vornherein schlecht durchdacht gewesen sei. Nahles habe „offensichtlich voll am Bedarf vorbeigeplant“. Ärgerlich sei, dass es nicht einmal eine Statistik über die Zahl der Teilnehmer oder gar deren Nationalität gebe. Pothmer rät dazu, das Programm am besten einzustellen. Statt dafür jährlich 300 Millionen Euro „zu blockieren, sollte Ministerin Nahles die nicht benötigten Mittel sinnvoller in Sprachkurse, Qualifizierungen und betriebliche Maßnahmen investieren“, forderte sie.«

Genauer hat sich O-Ton Arbeitsmarkt die Antwort angeschaut und die Befunde in diesem Artikel veröffentlicht: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen: „Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor“. Dort findet man diesen Hinweis:

»Wie viele der beantragten Plätze auch tatsächlich an Flüchtlinge vergeben wurden, dazu schweigt die Bundesregierung. Sie habe „keine Erkenntnisse dazu, wie viele Asylsuchende bisher eine Flüchtlingsintegrationsmaßnahme begonnen haben. Derartige teilnehmerbezogene Daten werden von der Bundesagentur für Arbeit (BA), die das Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ im Auftrag der Bundesregierung durchführt, nicht erfasst.«

Das überrascht dann doch, denn O-Ton Arbeitsmarkt hat schon im November letzten Jahres eine Auswertung der BA auch über die bisher besetzten Plätze erhalten. Bundesweit waren zu diesem Zeitpunkt rund 4.400 von etwa 12.000 beantragten Plätzen besetzt, bei deutlichen Unterschieden zwischen den Bundesländern. Baden-Württemberg und Niedersachsen hatten im November die Hälfte ihrer eingeplanten Stellen besetzt, Thüringen erreichte 43 Prozent, Nordrhein-Westfalen 39 Prozent und Bayern 34. Die übrigen Länder hatten erst (teils deutlich) weniger als ein Drittel der beantragten Stellen besetzt, Bremen und Berlin konnten noch keine der beantragten Stellen besetzen.
Auf Nachfrage bei der BA erklärt diese dementsprechend auch, dass sie sehr wohl Informationen über die besetzten Plätze habe. Diese Daten seien in der Auswertung für die kleine Anfrage enthalten. Rund 12.500 der 13.000 genehmigten Plätze seien besetzt. Warum die Bundesregierung diese Informationen in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage nicht nutzt, ist fraglich.
Und dass das Programm vor sich hinstottert, kann man auch erklären, wenn man genau hinschaut, wie das in dem Beitrag auf O-Ton Arbeitsmarkt gemacht wurde:
Die Zielgruppe der Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen mit einer maximalen Dauer von sechs Monaten sind Volljährige mit guter Bleibeperspektive, über deren Asylantrag noch nicht entschieden ist. Die FIM sind damit „Warte-Ein-Euro-Jobs“ für die Zeit zwischen Antrag und endgültigem Bescheid und damit für einen Zeitraum, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMAF) immer mehr verkürzen soll und will.

Genau das könnte einer der Gründe für das zurückhaltende Interesse sein. Unter den Ländern, die bisher keine oder nur wenige FIM besetzt beziehungsweise beantragt haben, sind auch die Länder mit den kürzesten Bearbeitungsdauern wie das Saarland und Sachsen-Anhalt. Hier könnte es sich schlicht nicht lohnen, einem Flüchtling mit guter Bleibeperspektive eine FIM anzubieten. Anerkannten Flüchtlingen stehen im Übrigen alle regulären arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen offen, darunter auch die herkömmlichen Ein-Euro-Jobs.
Und zum Abschluss sei an das erinnert, was in diesem Blog bereits im Juni 2016 als Empfehlung ausgesprochen wurde:
»Eigentlich liegt ein grundlegender Lösungsansatz auf der Hand, der aber noch nicht einmal diskutiert wird. Am Ende landen die meisten Flüchtlinge alle im Hartz IV-System, also im Rechtskreis des SGB II, außer sie können sich als anerkannte Asylbewerber auf dem Arbeitsmarkt alleine finanzieren, was einigen, sicher in den nächsten Jahren aber nicht vielen gelingen wird. Warum also nicht die Jobcenter von Anfang an für die arbeitsmarktliche Betreuung und Begleitung der Flüchtlinge zuständig machen? Das wäre konsequent und man vermeidet die zahlreichen Probleme, die sich allein aus dem Rechtskreiswechsel und der heute schon vorhandenen und nun auch noch auszubauenden Teil-Zuständigkeit der BA mit ihren Arbeitsagenturen ergeben.
Wenn man das verbinden würde mit einer radikalen Instrumentenreform im SGB II, die es den Jobcentern endlich ermöglichen würde, das sinnvolle Arsenal an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen flexibel und ohne die hypertrophierten förderrechtlichen Begrenzungen und den vielen hyperkomplexen Sonderprogrammen für extrem selektiv definierte „Zielgruppen“, die wir heute haben, umzusetzen, dann wäre eine deutliche Verbesserung erreichbar.«
Daran hat sich nichts geändert. Und leider wird in diesem Bereich ja auch nie jemand in Haftung genommen für den offensichtlichen Unsinn, den man verzapft hat. Und man kann noch nicht einmal sagen, man habe das ja nicht ahnen können.

Zwischen Quantität und Qualität. Organisationen fordern in einem gemeinsamen Memorandum faire und sorgfältige Asylverfahren

Es kommen deutlich weniger Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland (durch). Noch vor einigen Monaten war das ganz anders. In der damaligen Dauer-Medienberichterstattung ging es auch immer um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dessen offensichtliche Überlastung bei der Bearbeitung der Asylanträge. Wenn schon die Erfassung der Flüchtlinge zeitweilig nicht mehr sichergestellt werden konnte, überrascht es nicht, dass viele Menschen monatelang warten mussten, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können und dann nochmals eine lange Zeit ins Land ging, bis eine Entscheidung getroffen wurde bzw. wird. Mittlerweile normalisieren sich die Systeme und man könnte annehmen, dass das auch für die Asylverfahren der Fall ist. Und das sollte ja auch der Fall sein, dieses Versprechen personifiziert der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, dem zusätzlich die Leitung des BAMF übertragen wurde, um genau diesen Zustand herbeizuführen – bewusst auf seinen Nimbus als Effizienzmaschine setzend. Nun haben wir das Ende des Jahres 2016 erreicht, in dem es eine vergleichsweise sehr überschaubare Zahl an Neu-Ankömmlingen gegeben hat, so dass sich auf der Asylverfahrensseite eine Menge entspannt haben müsste. Dennoch sind noch hunderttausende Asylverfahren offen und hinzu kommen dann solche Botschaften: »Deutsche Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen haben am Mittwoch in Berlin an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) appelliert, faire Asylverfahren für Flüchtlinge in Deutschland sicherzustellen«, berichtet Ralf Pauli in seinem Artikel Verbände fordern faire Asylverfahren. »Zeitdruck, politische Vorgaben, unerfahrene Mitarbeiter: Die Qualität der Asylverfahren ist für Pro Asyl, Diakonie & Co nicht mehr hinnehmbar.«

Die Organisationen, die sich mit einem gemeinsamen Memorandum zu Wort gemeldet haben, weisen auf „strukturelle Fehlentwicklungen“ hin, die mit den politischen Rahmenbedingungen zusammen hängen. Was genau ist damit gemeint?

So seien Tausende „Anhörer“ und „Entscheider“ neu eingestellt, aber nur in zwei oder drei Wochen ausgebildet worden. Zudem stünden BAMF-Mitarbeiter unter Druck, eine hohe Zahl von Asylentscheidungen zu liefern. Das hängt auch damit zusammen, dass die Bugwelle der vielen Flüchtlinge aus der Vergangenheit erst mit einer teilweise monatelangen Zeitverzögerung im Asylverfahrenssystem aufschlägt und dort den vorhandenen Antragsstau weiter bestückt. Im Jahr 2015 ist die Zahl der Erstanträge auf 441.000 gestiegen. 2016 wurden bis September sogar 643.000 Asylanträge gestellt. Mehr als eine halbe Million Anträge sind noch nicht entschieden.

Mit Frank-Jürgen Weise als neuen BAMF-Chef sei eine „andere Denke“ in die Nürnberger Zentrale eingekehrt, wird Katharina Stamm von der Diakonie Deutschland in dem Artikel von Ralf Pauli zitiert. Die neu eingerichteten Entscheidungszentren hätten Vorgaben, eine bestimmte Zahl an Asylanträgen pro Tag zu entscheiden. Dies führe „in vielen Fällen“ zu eklatanten Fehlentscheidungen.
In dem Artikel wird versucht, das Problem an einem Beispiel zu verdeutlichen:

»So haben beispielsweise eine von den Taliban bedrohte Afghanin und deren Familie bei einer Anhörung bei der BAMF-Außenstelle Ingelheim/Bingen ihre Fluchtgründe dargelegt und wurden abgelehnt. „Aus dem Sachantrag der Antragsteller ergibt sich weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung, noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal“, hieß es in der Begründung.
Die zwölf Verbände – darunter auch Amnesty International, der Deutsche Anwaltsverein oder die Caritas – kritisieren, dass der Bescheid aus reinen „Textbausteinen“ zur angeblich sicheren Lage vor Ort bestehe, die die individuelle Gefahrensituation für das afghanische Ehepaar vor Ort schlicht ignoriere und relevante Sachverhalte fehlerhaft darstelle. So wird die Hebamme als Sunnitin und Tadschikin bezeichnet, obwohl sie Schiitin und Hazara ist.
Die Taliban hatten die geflüchtete Hebamme beschuldigt, absichtlich eine Totgeburt bei der Frau ihres lokalen Anführers herbeigeführt zu haben. Auch ihr Mann wurde bedroht, weil er für die afghanische Polizei gearbeitet hat. All dies hat die Afghanin dem Anhörer erzählt. Dennoch wurde die Einzelfallgeschichte in der Entscheidung nicht berücksichtigt.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das ein typisches Einzelbeispiel sei, bei dem der Mitarbeiter des BAMF eben schlecht gearbeitet hat. Aber so einfach kann man es sich nicht machen, denn die Organisationen – darauf wurde bereits hingewiesen – machen den Vorwurf, dass es um „strukturelle Fehlentwicklungen“ geht, die hier nur beispielhaft erkennbar werden. Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, versucht das so einzuordnen: Das Ergebnis der Nicht-Berücksichtigung des Einzelfalls bettet sich in eine Praxis ein, dass Anhörer und Entscheider nicht mehr wie früher üblich ein und dieselbe Person seien. »Unter dem BAMF-Chef Weise sei die Trennung nun flächendeckend. So könne auch eine sorgfältige Anhörung zu fehlerhaften Entscheidungen führen.«

Das wird einen nicht wirklich überraschen, wenn man weiß, wie Weise in der BA die maßgeblich von Unternehmensberatern entworfenen Modelle einer Arbeitsteilung (im Sinne einer Zerlegung einzelner Arbeitsprozesse) mit dem Ziel, mehr in weniger Zeit machen zu können, umgesetzt hat. Mit durchaus vergleichbaren Qualitätsproblemen gerade im Bereich der Arbeitsvermittlung.

Die Organisationen beklagen weitere Missstände im Asylverfahren: »So werden Dolmetscher mit 25 Euro die Stunde gering vergütet, gleichzeitig aber werde deren Leistung ungenügend kontrolliert. Zudem erheben BAMF-MitarbeiterInnen im Asylverfahren keine Beweismittel und beraten AsylbewerberInnen mangelhaft über deren Rechte und Pflichten. Auch fehle es an BAMF-internen Beschwerde- und Kontrollmechanismen.«

Nun könnte auch hier ein Einwand lauten, dass das eben eine Kritik sei, die von „interessierter Seite“ an das BAMF gerichtet wird. Aber selbst aus dem BAMF kommen entsprechende Belege, so schon in dem Artikel Bamf-Experten entsetzt über mangelhafte Qualitätskontrolle:

»Fachleute des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kritisieren … in einem internen Papier die mangelhafte Qualitätssicherung der Asylverfahren. Im vergangenen Jahr habe das hierfür zuständige Referat bei gerade mal ein Prozent der 282.700 Asylentscheidungen stichprobenartig überprüfen können, ob die jeweilige Entscheidung korrekt war … Die Beschleunigung der Verfahren und die große Zahl neuer, unerfahrener Mitarbeiter in der Behörde könnten nun zu einer „signifikanten Ausweitung“ von Problemen führen. Um nicht zu einer reinen „Alibifunktion“ zu verkommen, müsse die Qualitätssicherung dringend aufgestockt und verbessert werden.«

Da muss der Blog-Beitrag Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Spannungsfeld von Bürokratie, Weises betriebswirtschaftlicher Weltsicht und menschlichen Schicksalen vom 3. Juli 2016 wieder aufgerufen werden, denn dort wurde bereits ausgeführt:

Es »geht hier um eine Behörde mit ihren Besonderheiten, die nicht nur, aber eben auch damit zu tun haben, dass es gerade nicht um die Optimierung oder Effizienzsteigerung bei der Verteilung von Paketen oder der Beschleunigung von Tötungsprozessen in Schlachthöfen geht, sondern um die Frage, ob einem Menschen Asyl gewährt wird oder nicht, ob jemand geduldet werden muss, weil die eigentlich anstehende „Rückführung“ möglicherweise den Tod für den Betroffenen bedeuten könnte. Oder weil das Herkunftsland ihn nicht (mehr) haben will.
Und das BAMF ist eingeklemmt in einen letztendlich nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Masse und Einzelfall. Die notwendigerweise (eigentlich) gegebene Orientierung auf das Individuum mit seiner Geschichte und den im Regelfall nur in formalen Bruchstücken (wenn überhaupt) vorliegenden Identitäten bedingen etwas, was der Todfeind aller industriellen, auf einen Standard normierten Hochleistungsprozesse per se ist: einen erheblichen Zeitbedarf bei der Abklärung der fragmentierten Existenz und ihrer (Nicht-)Ansprüche, die Möglichkeit einer fundierten Prüfung der Umstände, die ausführliche Begründung der Entscheidung, die Gewährleistung eines rechtsstaatlich garantierten Überprüfungsanspruchs des für die Betroffenen existenziellen Urteils.«

Das Memorandum der zwölf Verbände und Organisationen kann man sich hier im Original anschauen:

Amnesty International et al. (Hrsg.) (2016): Memorandum für faire und sorgfältige Asylverfahren in Deutschland. Standards zur Gewährleistung der asylrechtlichen Verfahrensgarantien, November 2016

Die Forderungen, was aus Sicht der Organisationen zu tun wäre, finden sich auf den Seiten 33 ff. des Memorandums. Sie beziehen sich auf die Anhörung, den Bescheid und die Rahmenbedingungen der Arbeit im BAMF.

Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Forderungen und Handlungsempfehlungen auch nur ansatzweise umgesetzt werden, ist nicht wirklich hoch anzusetzen, denn zum einen geht es auf der politischen Ebene vor allem darum, den Antragsstau so schnell wie möglich aufzulösen und die Fälle vom Tisch zu bekommen, andererseits ist die Institution BAMF schon damit konfrontiert, dass seitens der Politik  die Wahrnehmung transportiert wird, nun sind doch die ganzen Stellen, die man dem BAMF bewilligt hat, eigentlich wieder einsparfähig, weil doch die Flüchtlings- und Asylzahlen so stark zurückgegangen sind. Die damit verbundene Unsicherheit innerhalb des Apparats trägt sicher nicht dazu bei, dass die Qualität der Arbeit deutlich gesteigert wird.

Flüchtlingshelfer im Niemandsland zwischen euphorischer Willkommenskultur und verunsicherungsbedingter Ablehnung. Und die Flüchtlinge selbst?

Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn man schreibt, dass die Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung über die Folgen der starken Zuwanderung vor allem von Flüchtlingen erheblich zugenommen hat. Umfrageergebnisse belegen die Bedeutung, die mittlerweile das Thema Zuwanderung und Integration bekommen hat – völlig gegenläufig zu den Sorgen über andere Themen wie Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Stabilität. Vor allem die Angst vor Arbeitslosigkeit hat in den vergangenen Jahren dramatisch abgenommen (vgl. die Abbildung mit dem Verlauf der Werte von 2006 bis heute). Seit 2015 explodieren hingegen die Werte, die eine Sorge um Zuwanderung und Integration anzeigen. Und es ist sicherlich ebenfalls keine Übertreibung, dass das Merkel’sche „Wir schaffen das“-Postulat mittlerweile nicht nur seine Strahlkraft, sondern auch die Mehrheit verloren hat. Es ist naheliegend, dass die Frage nach den Flüchtlingshelfern auch in dem angedeuteten Kontext einer deutlichen Stimmungsverschiebung in der Bevölkerung gestellt und behandelt werden muss. Wir erinnern uns alle an den Spätsommer einer hoch emotionalisierten „Willkommenskultur“ im vergangenen Jahr, in der an Bahnhöfen ankommenden Flüchtlinge klatschend in Empfang genommen worden sind. Das nun hat sich geändert und damit auch das Umfeld, in dem sich die vielen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren bzw. engagiert haben.

Vor diesem Hintergrund scheint eine solche Meldung der Bertelsmann-Stiftung eine gewisse Entspannung zu signalisieren: Trotz Anschlagsserie: freiwillige Flüchtlingshelfer lassen nicht nach, so hat die Stiftung den Bericht über eine neue Studie überschrieben. Die Bedeutung der Rolle der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer ist offensichtlich, so die Bertelsmann-Stiftung:

»Die engagierten Helfer in Deutschland übernehmen in der Flüchtlingsarbeit unter anderem Aufgaben, die normalerweise der Staat leisten müsste, wie zum Beispiel die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Wohnraum. Weiterhin besonders wichtig bleibt ihr Einsatz als Brücke zwischen den Geflüchteten und den Behörden. So übernehmen sie wichtige Lotsen-Funktionen: begleiten Geflüchtete bei Behördengängen, bei ersten Schritten in Schulen und Praktika oder führen frühzeitige Sprachförderung unabhängig vom Status der Flüchtlinge durch. Die Helfer sorgen dafür, dass geflüchtete Menschen Angebote zur Integration überhaupt wahrnehmen können.«

Die von Ulrike Hamann, Serhat Karakayali, Leif Jannis Höfler, Mira Wallis erstellte Studie Koordinationsmodelle und Herausforderungen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe in den Kommunen wurde vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt. Dabei sind in 17 Kommunen deutschlandweit 25 qualitative Interviews geführt, sowie ein Workshop mit ehrenamtlichen und hauptamtlichen Koordinatoren umgesetzt worden. Die Erhebung fand zwischen Januar und März 2016 statt. Es handelt sich also um eine qualitative Studie, die keinesfalls repräsentative Aussagen über „die“ Flüchtlingshelfer erlaubt.

Die Bertelsmann-Stiftung bilanziert wichtige Ergebnisse der Studie:
Die Forscher haben in der Studie drei Formen der Zusammenarbeit zwischen den Städten und den Initiativen vor Ort identifiziert:

1. Nach dem ersten Modell übernehmen vor allem einzelne Menschen ehrenamtlich die Koordination in den Städten oder Stadtteilen. Ihre Aufgaben reichen von der Einführung neuer Engagierter in die Initiativen über die Vermittlung konkreter Hilfsangebote bis zur Beantragung von Fördermitteln. Diese Koordination zwischen Behörden und Geflüchteten ist oft ein Vollzeitjob. Der Vorteil: Der Koordinator weiß genau, was Geflüchtete und Engagierte brauchen. Der Nachteil: Schnell kann es hierbei zu einer Überlastung einzelner Personen kommen.

2. Beim zweiten Modell handelt es sich um eine Netzwerk-Koordination. Hierbei gibt es keinen einzelnen, zentralen Akteur, sondern die Aktiven treffen ihre Entscheidungen an runden Tischen. Der Vorteil: Die Netzwerk-Koordination ermöglicht Austausch auf Augenhöhe. Der Nachteil: Es gibt keinen zentralen Ansprechpartner. Entscheidungen brauchen viel Zeit und Geduld. Hinzu kommt, dass die Augenhöhe zwischen Freiwilligen und Behörden-Mitarbeitern selten erreicht wird. Vor allem Engagierte, aber auch Geflüchtete erleben ihre Teilnahme deswegen nicht selten als Alibi, da die entgültige Entscheidung meist doch in den Behörden getroffen wird.
3. Das dritte Modell bildet die zentrale Koordinationsstelle in der Kommunalverwaltung. Hier gibt es einen hauptamtlichen Ansprechpartner, dem entsprechende Kompetenzen und Mittel zur Verfügung stehen. Seine Hauptaufgaben: Bedarfe und Angebote zusammenbringen, Informationen bündeln, Fördermittel, Austausch und Fortbildungen organisieren. Damit die Arbeit der zentralen Koordinierungsstelle wirkt, muss sie unabhängig arbeiten können und von den Initiativen akzeptiert sein. Außerdem sollte sie auf die Unterstützung der Initiativen ausgerichtet sein.Die Forscher weisen in ihren Empfehlungen zur Koordination der Flüchtlingshilfe  (S. 54 ff. der Studie) darauf hin, dass man diese drei Formen nicht separat voneinander betrachten sollte, da sie – idealerweise – alle miteinander verwoben sind bzw. sein sollten, decken sie doch unterschiedliche Bedarfe ab:

»Wir haben in den Kommunen drei Typen der Koordination ehrenamtlichen Engagements festgestellt: die zentrale Koordination, die Netzwerk-Koordination und die Initiativen-Koordination. Die drei Typen sind auf verschiedenen Ebenen anzutreffen und sind ergänzend zu verstehen. Das bedeutet, dass eine Kommune, in der alle drei Typen vorhanden sind, eine besonders gute Zusammenarbeit auf den unterschiedlichen Ebenen des Engagements erreichen kann. Während die Initiativen-Koordination den engen Kontakt zu Engagierten und Geflüchteten hat, kann die zentrale Koordination Spendenangebote koordinieren und Qualifikation für Freiwillige organisieren. Damit die Arbeit rund um das Ankommen der Flüchtlinge gut funktioniert, ist eine netzwerkartige Koordination vonnöten, die alle Akteure in regelmäßigen Abständen zum Austausch zusammenbringt.«

Mit Blick auf eine Stabilisierung der Flüchtlingshelfer-Arbeit wird auf die Koordinationsaufgabe abgestellt: »Die Koordinationsarbeit für die Initiativen-Koordination überschreitet den zeitlichen Umfang des typischen Ehrenamts. Durch einen Zeitaufwand von bis zu 40 Stunden kann diese Aufgabe auf lange Sicht nicht ehrenamtlich durchgeführt werden. Um Kontinuität zu gewährleisten, sollten Finanzierungsmöglichkeiten für diese zeitaufwändigen Arbeiten gefunden werden … Für eine nachhaltige Zusammenarbeit von Kommunen und freiwilligen Initiativen ist es sinnvoll, eine ausreichende Stellenanzahl zu schaffen und die Koordinatorinnen und Koordinatoren tarifgerecht zu bezahlen.«

Man kann erkennen, dass wir uns offensichtlich in einer aus anderen Handlungsfeldern gut bekannten und nicht unproblematischen Übergangsphase befinden, die man als einerseits notwendige, aber andererseits durchaus auch kritisch bewertbare „Professionalisierung“ der Flüchtlingshilfe bezeichnen kann.

Damit verbunden ist ein höchst ambivalenter Sachverhalt. Diese Ambivalenz kann man daran festmachen, dass wir es am Anfang mit einem rein ehrenamtlichen Hilfeimpuls zu tun hatten (und weiter haben), der aber im Laufe der Zeit durch das Hilfe- und Helferwachstum wie auch durch Erfahrungseffekte immer stärker in Richtung Strukturierung, Ausdifferenzierung und Hierarchiebildung getrieben wird. In deren Logik macht dann eine Stabilisierung der ehrenamtlichen Arbeit durch die von den Forschern vorgeschlagenen Maßnahmen einer durch Hauptberufliche zu leistenden Unterstützung sowie „natürlich“ auch – ob explizit benannt oder implizit mitlaufend – einer Lenkung und Steuerung der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer durchaus Sinn. Auf der anderen Seite löst das bei einem Teil der ehrenamtlich Engagierten Abwehr- und Rückzugsreaktionen aus, da eine solche Einbindung ihrem Selbstverständnis zuwiderläuft.

Auch wenn die Bertelsmann-Stiftung aus der von ihr in Auftrag gegebenen Studie die beruhigend daherkommende Schlussfolgerung zieht, dass die freiwilligen Flüchtlingshelfer nicht nachlassen, sollte man den offensichtlich ablaufenden Stimmungsumschwung in weiten Teilen der Bevölkerung (und die sich verändernde Berichterstattung in den Medien) nicht unterschätzen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement, das eben nicht mehr unbedingt von einer breiten Zustimmungs- und Sympathiewelle getragen wird. Insofern – so meine These – bleibt die Frage offen, ob die im Ergebnis tatsächlich so wichtige Hilfe auch auf längere Sicht stabilisiert werden kann. Dazu würde man sich mehr Forschungsbefunde wünschen über die Motivationslagen der Flüchtlingshelfer, um mögliche Reaktionen auf das sich verändernde Umfeld einschätzen zu können.

Ergänzend zu den Ergebnissen der BIM-Studie kann man auf eine weitere – ebenfalls qualitativ angelegte – Studie verweisen, die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlicht wurde: Geflüchtete Menschen in Deutschland: Eine qualitative Befragung, so ist die Arbeit von Herbert Brücker et al. überschrieben.

Die Studie stellt hoch relevante Fragen: »Warum mussten die in den letzten drei Jahren nach Deutschland gekommenen Geflüchteten ihre Heimat verlassen, welche Erfahrungen haben sie auf der Flucht gemacht und warum haben sie Deutschland als Zielland ausgewählt? Was bringen sie im Hinblick auf Bildung, Ausbildung und andere Fähigkeiten mit? Welche Einstellungen, Werte und Vorstellungen von einem Leben in Deutschland haben sie? Welche Voraussetzungen haben sie für eine Integration in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft und auf welche Hürden treffen sie?«

Auch bei dieser Studie haben wir es mit einem qualitativen Design zu tun: Im Rahmen dieser Studie wurden 123 Flüchtlinge und 26 Experten aus der Flüchtlingsarbeit in eineinhalb- bis zweistündigen Interviews befragt.

Die Bedeutung dieser Untersuchung ist eine doppelte: Erstmals geht es tatsächlich um die Geflüchteten, die mit der Einwanderungswelle seit September in Deutschland ankamen. Und zum anderen bereiten das BAMF, das IAB und das DIW damit eine größere Erhebung vor, die noch kommen soll.

Anna Steiner hat ihren Artikel über die Studie überschrieben mit Warum Flüchtlinge nach Deutschland kommen – und was sie können:

»Die Fluchtursachen sind je nach Herkunftsland sehr verschieden. Während die Befragten aus Syrien, Irak, Pakistan und Afghanistan mehrheitlich angaben, vor den Repressalien verschiedener radikalislamischer Gruppierungen – wie beispielsweise dem sogenannten Islamischen Staat – geflohen zu sein, nannten Flüchtlinge aus den Balkanstaaten vor allem die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und Diskriminierung von Minderheiten als Fluchtgrund … Etwa die Hälfte der befragten Flüchtlinge hatte sich Deutschland bereits vor Beginn der Flucht als Zielland ausgesucht … Auch die hier vermutete Chance auf eine Zukunft lockte einen großen Teil der Flüchtlinge hierher … Für die Bildung und Arbeitserfahrung der Asylbewerber ist vor allem die Situation in ihren Herkunftsländern entscheidend … Wo bis vor Kurzem der Schulbesuch, ein Studium oder ein regelmäßiger, gesicherter Erwerb möglich waren, fallen die Bildungsbiografien besser aus. Menschen aus Ländern, die aus langjährigen Krisenregionen geflohen sind, stehen im Vergleich wesentlich schlechter da … Bei genauerer Betrachtung wird … deutlich, dass das Bildungsniveau von ethnischen und religiösen Minderheiten in den jeweiligen Ländern – wie den Jesiden aus Syrien oder den Roma vom Balkan – deutlich geringer ausfällt. Ihnen wurde in ihrer Heimat der Zugang zur Bildung verwehrt oder zumindest nur eingeschränkt ermöglicht. Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan oder auch Eritrea befinden sich hingegen oft schon in zweiter Generation auf der Flucht. Sie haben sich daher schwer getan, eine Bildungsbiografie ohne große Lücken aufzubauen. Die Folgen sind – besonders auch für die Integration in Deutschland – drastisch: Analphabetismus und das Fehlen jeglicher Allgemeinbildung sind weit verbreitet.«

Insgesamt deuten auch diese Befunde darauf hin, dass wir von einer Polarisierung dergestalt ausgehen können und müssen, dass einer großen Gruppe mit (formal) höheren Bildungsabschlüssen eine noch größere Gruppe mit niedrigem oder gar keinem Schulabschluss gegenübersteht.

Viele derjenigen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, werden hier bleiben (dürfen) und wachsen jetzt von wenigen Ausnahmen abgesehen in das Hartz IV-System hinein. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben und das auch nicht verschweigen: die meisten Flüchtlinge werden über eine längere Zeit, wenn nicht auf absehbare Dauer, von Transferleistungen des Staates abhängig sein. Insofern gilt hier natürlich auch und gerade für die Jobcenter, die dann für die Regelbetreuung der Menschen zuständig sind, dass es notwendig sein wird, für nachhaltige Integrationsversuche in den Arbeitsmarkt einen weitaus intensiveren Blick auf die Vielgestaltigkeit der Motive, ethnischen und kulturellen Hintergründe zu werfen bzw. einen solchen ermöglicht zu bekommen. Logischerweise „ticken“ viele derjenigen, die aus anderen kulturellen und auch religiösen Zusammenhängen gekommen sind, anders als beispielsweise die „normale“ Hartz IV-Klientel, mit deren Heterogenität viele Jobcenter oftmals bereits überfordert erscheinen.

Die Forschung steckt hier offensichtlich auch noch in den Kinderschuhen, wie die hier vorgestellten Beispiele zeigen. Ein nicht auflösbares Dilemma besteht natürlich darin, dass Forschung schlichtweg Zeit benötigt, die Menschen aber schon im Land sind und die Akteure vor Ort nicht warten können (bzw. das nicht tun sollten), bis wir mehr wissen als heute. Insofern wird das Steuern im Nebel des Nicht-Wissens und das Ausprobieren an der Tagesordnung bleiben müssen. Bleibt die Hoffnung, dass man von Tag zu Tag besser wird.

Statista-Infografik: Sorge um Zuwanderung und Integration auf Höchstwert, 26.07.2016