Nichts weniger als die Linderung der globalen Armut durch ziemlich kleine Sachen, die aber experimentell „evidenzbasiert“? Anmerkungen zum „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften 2019

Ach, der „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften. Same procedure every Oktober eines Jahres. Alle warten gespannt, wer es denn diesmal sein wird. Und manche hoffen für sich selbst seit Jahren auf den Anruf aus Stockholm. Und manche, die es trifft, sind dann wirklich überrascht, weil das, wofür sie geehrt werden, schon ziemlich lange zurückliegt. Auch wenn es manchen weh tun mag – es muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem Preis eigentlich um eine Art Fake-Preis handelt, denn der noble Alfred würde sich im Grab umdrehen, wenn er das könnte und mitbekommen würde, welches Kuckuckskind sich da in sein Preisträger-Nest geschmuggelt hat.

Dass man da gerne rein will, ist verständlich: Der Nobelpreis ist eine seit 1901 jährlich vergebene Auszeichnung, die Alfred Nobel (1833–1896) gestiftet hat. In seinem Testament legte er fest, dass mit seinem Vermögen eine Stiftung gegründet werden sollte, deren Zinsen „als Preis denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Das Geld sollte zu fünf gleichen Teilen auf die Gebiete Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und für Friedensbemühungen verteilt werden. Da wollen die Ökonomen natürlich nicht fehlen – nur: sie waren schlichtweg nicht vorgesehen. Die Großnichten und -neffen von Alfred Nobel berichten, dass er die Wirtschaftswissenschaften verabscheut habe. „Ich habe keine Ausbildung in Ökonomie und hasse sie aus tiefstem Herzen“, heißt es in einem Brief von Nobel, so Patrick Bernau in seinem 2016 veröffentlichten Artikel Ein Preis verändert die Welt.

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Tödliche Ungleichheit: Männlich, arbeitslos, zwischen 30 und 59 Jahre alt. Dann ist das Sterberisiko acht Mal höher als das von Männern am oberen Ende

Viele kennen die Jubelmeldungen über eine stetig steigende Lebenserwartung. Und weil wir angeblich alle immer älter werden, kommen sofort interessierte Kreise ans Tageslicht, die uns verkaufen wollen, dass vor diesem Hintergrund einer weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters zum einen unumgänglich sei, zum anderen aber auch unproblematisch, siehe gleichzeitig die steigende Lebenserwartung. Das wurde und muss äußerst kritisch bewertet werden, denn hier wird wie so oft mit Durchschnittswerten operiert, die möglicherweise mehr verdecken als sie uns weiterhelfen. Denn schaut man sich beispielsweise die Streuung der Lebenserwartungswerte an, dann wird schnell erkennbar, dass es eine erhebliche und zugleich sozial höchst selektive Spannbreite gibt. Vereinfacht gesagt: Arm stirbt (deutlich) früher und Wohlstand bzw. Reichtum führen natürlich nicht für alle, aber eben für viele auf der (materiellen) Sonnenseite des Lebens zu einem deutlich längeren Leben.

»Diese Grafik zeigt das Sterberisiko unter den Einflussfaktoren Einkommensniveau und Bildungsstand für Männer und Frauen in Ost- und Westdeutschland. Dabei ergeben sich 20 unterschiedliche Einkommens- und Bildungsgruppen, die alle zum Referenzwert 1, der Gruppe mit der höchsten Bildung und dem höchsten Einkommen ins Verhältnis gesetzt werden. In Ostdeutschland zählen 14 Prozent der Männer zur Gruppe mit dem niedrigsten Einkommen und der niedrigsten Bildung. Im Vergleich zur Gruppe Männer mit dem höchsten Einkommen und der höchsten Bildung, haben sie ein achtfaches Risiko zu sterben.« Quelle: MPIDR, 08.10.2019

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Auch in Österreich: Ein ärmeres ist ein kürzeres Leben

Man kennt das Argument aus der rentenpolitischen Debatte in Deutschland: Da „wir“ doch alle immer älter werden, müsse man auch das Renteneintrittsalter anpassen, sprich erhöhen. Und das wäre ja auch keine Verschlechterung, denn „wir“ gewinnen ja auch zusätzliche Lebensjahre im Alter. Nun ist das bekanntlich so eine Sache mit dem „wir“ und vor allem den Durchschnitten, denn auch der – in der Vergangenheit tatsächlich beobachtbare – Anstieg der Lebenserwartung ist ein Durchschnittswert über alle. Und ohne Kenntnis der Streuung kann so ein Durchschnitt mehr vernebeln als zur Aufklärung beitragen.

Und das es hier erhebliche Unterschiede gibt, wurde in früheren Beiträgen gezeigt, so beispielsweise am 5. März 2016 unter der Überschrift Alles ist ungleich verteilt. Auch die statistische Erwartung eines immer länger werdenden Lebens und mit Blick auf die rentenpolitischen Ableitungen aus „der“ steigenden Lebenserwartung in dem Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert am 22. April 2016.

Einer der Befunde für die manifeste Ungleichheit zwischen oben und unten: Armutsgefährdete Männer haben eine um 10 Jahre kürzere Lebenserwartung als die aus der Oberschicht.

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Die (bislang) steigende Lebenserwartung als fragwürdiges Schreckgespenst für das Gesundheitswesen. Und die enorme Bedeutung der Ungleichheit

Hinsichtlich der demografischen Entwicklung sind drei Einflussfaktoren von besonderer Relevanz: die Geburtenrate, der Wanderungssaldo und die Entwicklung der Lebenserwartung. Und immer wieder wird gerade mit Blick auf die Gesundheits- und Pflegeausgabenentwicklung davon gesprochen, dass die steigende Lebenserwartung hier ein Problem an sich darstellen würde. Das klingt überzeugend, man kann das aber auch anders sehen, wie beispielsweise Bernd Hontschik in seinem Artikel Das Märchen von den teuren Alten: »Die Gesellschaft wird älter und dem Gesundheitswesen droht die Kostenexplosion. Klingt einleuchtend, ist aber falsch.«

»Der medizinische Fortschritt mache die Medizin immer teurer, deswegen könne er nicht mehr allen zugutekommen. Man werde rationieren, prio­risieren und zuteilen müssen. Und dann ist da außerdem auch noch die immer weiter steigende Lebenserwartung, die immer größer werdende Zahl alter Menschen. Älter ist kränker ist teurer, so lautet die Schreckensformel. Aber stimmt das eigentlich alles?« So seine Fragestellung.

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Ausbeutung als risikoloses Geschäftsmodell. Von Menschen, ihren Rechten und Arbeitsmigranten

Zuerst der Blick von ganz oben: Weltweit leben nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 164 Millionen Arbeitsmigranten in fremden Ländern. Ihre Zahl sei zwischen 2013 und 2017 um neun Prozent gestiegen, berichtete die Organisation, die im Auftrag der Vereinten Nationen soziale Gerechtigkeit und die Rechte von Arbeitnehmern fördern soll. Das und mehr kann man diesem Artikel entnehmen: Zahl der Arbeitsmigranten steigt auf 164 Millionen. Nun gibt es solche und andere: Dazu gehören Saisonarbeiter, die etwa als Erntehelfer Geld verdienen, Fachkräfte wie Pflegepersonal oder IT-Spezialisten, aber auch Flüchtlinge sowie Menschen, die sich illegal in Gastländern aufhalten, werden von der ILO mitgezählt Vgl. ausführlicher dazu ILO Global Estimates on International Migrant Workers. Results and Methodology, 2018). Darunter sind Arbeitsmigranten, denen es materiell gut geht, die gerade wegen der höheren Löhne und anderer Arbeitsbedingungen in ein anderes Land gegangen sind oder dort Geschäfte machen. Aber unter den vielen anderen gibt es zahlreiche Ausbeutungsfälle.

Das klingt immer so abstrakt. An dieser Stelle kann man beispielsweise eine Reportage von Hannes Lintschnig und Stefan Schultz empfehlen, die der Ausbeutung ein Gesicht und eine Geschichte und Gefühle gibt: Verloren in Europa: »Als Bulgariens Wirtschaft abstürzt, zieht Stanimir Panow nach Hamburg-Wilhelmsburg. Er hofft auf ein besseres Leben, doch er landet auf dem sogenannten Arbeiterstrich – in einem System der Ausbeutung, von dem deutsche Verbraucher massiv profitieren.«

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