Ach, der „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften. Same procedure every Oktober eines Jahres. Alle warten gespannt, wer es denn diesmal sein wird. Und manche hoffen für sich selbst seit Jahren auf den Anruf aus Stockholm. Und manche, die es trifft, sind dann wirklich überrascht, weil das, wofür sie geehrt werden, schon ziemlich lange zurückliegt. Auch wenn es manchen weh tun mag – es muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem Preis eigentlich um eine Art Fake-Preis handelt, denn der noble Alfred würde sich im Grab umdrehen, wenn er das könnte und mitbekommen würde, welches Kuckuckskind sich da in sein Preisträger-Nest geschmuggelt hat.
Dass man da gerne rein will, ist verständlich: Der Nobelpreis ist eine seit 1901 jährlich vergebene Auszeichnung, die Alfred Nobel (1833–1896) gestiftet hat. In seinem Testament legte er fest, dass mit seinem Vermögen eine Stiftung gegründet werden sollte, deren Zinsen „als Preis denen zugeteilt werden, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Das Geld sollte zu fünf gleichen Teilen auf die Gebiete Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und für Friedensbemühungen verteilt werden. Da wollen die Ökonomen natürlich nicht fehlen – nur: sie waren schlichtweg nicht vorgesehen. Die Großnichten und -neffen von Alfred Nobel berichten, dass er die Wirtschaftswissenschaften verabscheut habe. „Ich habe keine Ausbildung in Ökonomie und hasse sie aus tiefstem Herzen“, heißt es in einem Brief von Nobel, so Patrick Bernau in seinem 2016 veröffentlichten Artikel Ein Preis verändert die Welt.
Aber wieso gibt es dann einen solchen „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften? Dazu Bernau in seinem Artikel: »Der Chef der schwedischen Notenbank, Per Åsbrink, hatte einen Machtkampf gegen das Finanzministerium verloren. Nur mit Erlaubnis der Regierung durfte er noch die Zinsen erhöhen, und die Erlaubnis gab es selten. Zu selten, wie Åsbrink fand. Er strebte nach Unabhängigkeit. Ein Mittel: Ein großes Fest zum 300. Geburtstag seiner Reichsbank – und auf diesem Fest verkündete er eine Überraschung: den neuen Nobelpreis für Ökonomik, gestiftet von seiner Notenbank, der schwedischen Reichsbank. Die Zustimmung des Ministerpräsidenten hatte er. Auch das Schwedische Parlament gab nachträglich grünes Licht – so beschreiben es die Historiker Avner Offer und Gabriel Söderberg in einem … Buch über den Preis („The Nobel Factor“) … Ein paar Tage vor der Ankündigung des Preises wurde das damalige Oberhaupt der Familie, Nobel-Nichte Marta, gefragt. Sie stimmte zu. Eine Bedingung stellte sie: Der Wirtschaftspreis müsse einen etwas anderen Namen tragen als die übrigen Preise: „Preis der Schwedischen Reichsbank in Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel“ – im Gegenzug wird der Preis von der Nobel-Stiftung verwaltet und von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften vergeben, so wie auch die Nobelpreise für Physik und Chemie.«
Ach die Ökonomen – da kennen sie sich aus: Alles hat seinen Preis, wird der eine oder andere denken.
Wie dem auch sei – heute wurden die Preisträger des Jahres 2019 der Öffentlichkeit bekannt gegeben: Der wirtschaftswissenschaftliche „Nobelpreis“ geht zu drei gleichen Teilen an Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer, die alle in den USA lehren und forschen. Interessant ist die Begründung, warum man diese drei Ökonomen ausgezeichnet hat: „für ihren experimentellen Ansatz zur Linderung der globalen Armut“. Unter der Überschrift Their research is helping us fight poverty begründet das Auswahlkomitee seine Entscheidung so: »The research conducted by this year’s Laureates has considerably improved our ability to fight global poverty. In just two decades, their new experiment-based approach has transformed development economics, which is now a flourishing field of research.«
Und etwas ausführlicher: »Despite recent dramatic improvements, one of humanity’s most urgent issues is the reduction of global poverty, in all its forms. More than 700 million people still subsist on extremely low incomes. Every year, around five million children under the age of five still die of diseases that could often have been prevented or cured with inexpensive treatments. Half of the world’s children still leave school without basic literacy and numeracy skills.
This year’s Laureates have introduced a new approach to obtaining reliable answers about the best ways to fight global poverty. In brief, it involves dividing this issue into smaller, more manageable, questions – for example, the most effective interventions for improving educational outcomes or child health. They have shown that these smaller, more precise, questions are often best answered via carefully designed experiments among the people who are most affected.«
Die Verleihung dieses international große Beachtung findenden Preises findet natürlich nicht im aseptischen Raum irgendwelcher Gelehrter statt, sondern hat immer auch zwei zentrale Funktionen:
➔ Zum einen wird ein Signal an die Wirtschaftswissenschaften als Disziplin gesendet, beispielsweise durch die Hervorhebung bestimmte Methoden oder methodischer Ansätze. Das kann man in diesem Jahr hervorragend studieren anhand der drei Preisträger und der Auswahlentscheidung für sie: Besonders herausgestellt wird ihr methodischer Ansatz, mithilfe von „randomized controlled trials (RCTs)“. Die randomisierte kontrollierte Studie ist in der medizinischen Forschung das aus methodischer Sicht beste Studiendesign, um bei einer eindeutigen Fragestellung eine eindeutige Aussage zu erhalten und die Kausalität zu belegen. Deshalb spricht man auch immer wieder vom „Goldstandard“ der Wirkungsforschung. Dabei arbeitet man mit einer Versuchs- und einer Kontrollgruppe, beispielsweise bei Medikamententests. Aber damit beschäftigen sich doch die drei Preisträger nicht. Sondern mit Entwicklungsökonomie und der möglichst evidenzbasierten Gestaltung von Entwicklungshilfe. Und deshalb haben sie den experimentellen RCT-Ansatz übertragen auf Fragen der Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern.
➔ Zum anderen aber werden mit den Nobelpreisen immer auch zeitgeistige Botschaften ausgesendet, was bzw. welche Themenfelder besondere Beachtung finden sollen. Dazu als Beispiel der Hinweis auf die Preisträger des Jahres 2018. Der ging an William Nordhaus und Paul Romer, für ihre Forschungen zu Klimawandel und technischen Innovationen. Und damals hieß es: »William D. Nordhaus and Paul M. Romer have designed methods for addressing some of our time’s most basic and pressing questions about how we create long-term sustained and sustainable economic growth.« Natürlich war ein Aspekt der Auswahl auch, sich anschlussfähig zu machen an eine weite Teile der Gesellschaft beschäftigende Debatte, im vergangenen Jahr an die über den Klimawandel. Und dass in diesem Jahr ökonomische „Armutsforscher“ geehrt werden, muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass mit Blick auf das Thema „global Armut“ in den zurückliegenden Jahren ohne Zweifel große Fortschritte für viele Menschen auf unserem Globus erreicht werden konnten. Durch die Folgen der Globalisierung – die in den alten Industrieländern oftmals als Problem wahrgenommen und diskutiert werden und die ja auch für viele ehemals ordentlich vergütete Arbeitnehmern in den Herzkammern der Industrie mehr als negativ sind – konnten aber beispielsweise in Asien unzählige Menschen aus einem Leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze (von derzeit 1,90 US-Dollar pro Tag) nach oben gezogen werden. Derzeit allerdings mehren sich immer mehr Stimmen, die von einem Rückschritt bei der Globalisierung oder sogar von einem Trend der Deglobalisierung sprechen.
Was haben die drei denn nun wirklich beigetragen zum wissenschaftlichen Fortschritt, wird der eine oder andere fragen. Schauen wir also etwas genauer hin, um dann abschließend auch die kritischen Stimmen zu hören.
Lassen wir doch am besten die Preisträgerin Esther Duflo zu Wort kommen – übrigens erst die zweite Frau, die den „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften bekommen hat; vor ihr wurde 2009 Elinor Ostrom (gemeinsam mit Oliver E. Williamson) ausgezeichnet. Die 2012 verstorbene Elinor Ostrom war übrigens gar keine Ökonomin im engeren disziplinären Sinne, sondern Politikwissenschaftlerin. In ihren Arbeiten hat sie sich mit Problemen kollektiven Handelns bei knappen natürlichen Ressourcen, die gemeinschaftlich genutzt werden (Allmenden), beschäftigt (vgl. dazu beispielsweise Hans G. Nutzinger (2010): Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften für Elinor Ostrom: Ein Überblick über ihr ökonomisches Hauptwerk). Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat Esther Duflo 2015 den A.SK Social Science Award verliehen. Anlässlich der Preisverleihung berichtete Gabriele Kammerer unter der Überschrift Konkrete Daten statt Intuition von einem typischen Beispiel, an dem man die Fragestellungen und den methodischen Ansatz von Duflo und ihren Mitstreitern gut erkennen kann:
»Millionen Menschen, vor allem in Afrika, sterben an Malaria. Moskitonetze senken die Erkrankungsrate drastisch; wenn genügend Menschen nachts unter einem solchen Netz schlafen, ließe sich die Krankheit sogar aus einzelnen Gegenden ganz vertreiben. Warum tun das so viele Familien nicht? Können sie sich die Netze nicht leisten? Sollten sie sie also geschenkt bekommen, wie manche Entwicklungshelfer sagen? Oder schätzen sie die Hilfsmittel dann nicht wert, gebrauchen sie gar als Hochzeitsschleier oder Fischernetze, wie andere Experten warnen?
Von Mutmaßungen oder auch gefühlten Erfahrungswerten hält Esther Duflo nicht viel. „Unsere Intuition hilft nicht weiter. Wir brauchen Daten“, sagt die Ökonomin. Und die schafft sie: In rund 30 Krankenhäusern ließ sie Moskitonetze an Schwangere verteilen, manche kostenlos, andere für einen niedrigen Preis. In einem zweiten Schritt wurden Gutscheine mit unterschiedlich hohen Rabattwerten auf Märkten verteilt. Das Feldexperiment zeigte ein klares Ergebnis: Die Netze wurden in allen Gruppen ungefähr gleich häufig genutzt. Sie können also ohne Schaden verschenkt werden; es braucht keinen Preis, um Akzeptanz zu schaffen.«
Und Kammerer brachte damals auf den Punkt, was heute mit dem Nobelpreis geehrt wurde: „Randomistas“ werden unter Ökonomen spöttisch die Vertreter dieses innovativen Ansatzes genannt, nach dem englischen Namen der Methode: Randomized Controlled Trial. Esther Duflo, die am Massachusetts Institute of Technology lehrt, hat Zufallsexperimente mit Kontrollgruppen, bekannt aus der Arzneimittelforschung, zum Kerninstrument ihrer Forschung gemacht. Und damit der Randdisziplin Entwicklungsökonomie ganz neue Aufmerksamkeit verschafft.
Gemeinsam mit ihrem heute ebenfalls ausgezeichneten Kollegen Abhijit Banerjee – seit 2015 sind die beiden auch verheiratet – hat Esther Duflo 2003 das Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab gegründet, ein Netzwerk von fast 100 Ökonomen in über 50 Ländern.
Als Duflo 2015 vom WZB geehrt wurde, hielt sie eine Dankesrede: „Wir können die Armut besiegen“. Dort findet man die folgenden Erläuterungen: »Wir versuchen, die Effektivität des Kampfs gegen Armut zu verbessern, indem wir sicherstellen, dass politische Maßnahmen auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt sind.« Das hört sich mehr als ambitioniert an. Und sogleich hebt sie den methodischen Ansatz hervor, der ihr bisheriges Werk geprägt hat: »Mit randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) lassen sich die Auswirkungen von Sozialprogrammen gründlich evaluieren. Nach dem Vorbild klinischer Versuche in der Medizin funktionieren sie folgendermaßen: Man wählt eine Gruppe möglicher Unterstützungsempfänger (zum Beispiel Einzelpersonen, Schulen, Ortschaften) aus und wählt innerhalb dieser Gruppe nach dem Zufallsprinzip aus, wer an dem geplanten Programm teilnimmt, oder wer an welcher Version des Programms teilnimmt. So kann man die kausalen Effekte der Intervention einschätzen, die im Gegensatz zu anderen Ansätzen nicht durch die unterschiedliche Auswahl der Begünstigten oder Nicht-Begünstigten verfälscht wird.«
Interessante ist auch ihre Sichtweise auf den Tatbestand, warum es so viel „schlechte“ bzw. besser: erfolglose Entwicklungspolitik gibt: »Der Grund dafür ist, dass politische Führer, gute wie schlechte, in der Regel keine Ahnung haben, was getan werden kann oder getan werden muss, und sich von ihren Vermutungen leiten lassen. Wir verweisen auf das Problem der „drei i“: ideology (Ideologie), ignorance (Ignoranz) und inertia (Trägheit). Programme, die den Armen helfen sollen, sind ideologisch motiviert und werden ohne Kenntnis der Lebensumstände der Armen entwickelt. Wenn sie einmal umgesetzt worden sind, überleben sie aufgrund von Trägheit, wie ineffektiv sie auch sein mögen.«
Ein weiteres Beispiel für ihre Arbeit kann man diesem 2012 veröffentlichten Interview Esther Duflo: „Die Armut kann besiegt werden“ entnehmen:
»Als enorm effektiv hat sich etwa die Bekämpfung von Wurmkrankheiten bei Kleinkindern herausgestellt. Zwei Wurmtabletten im Jahr kosten nur 50 Cent pro Kind, haben aber gigantische Auswirkungen. Weil die Kinder weniger krank sind, wird ihr körperlicher Zustand generell besser. Wie kräftig ein Mensch wird, entscheidet sich in der frühen Kindheit. Außerdem fehlen sie weniger oft in der Schule, sie fallen nicht zurück. Wurmbehandelte Kinder verdienen später nachweislich viel mehr, weil sie eine bessere Ausgangsbasis haben.«
Und dieses Zitat verdeutlicht ihre eigene Positionierung sehr gut: »Oft werden nur die großen Fragen diskutiert: Braucht es mehr Geld, wie es linke Ökonomen sagen, oder gar keines mehr, weil sich die Armen ohnehin nur selbst helfen können, wie es die rechte Seite behauptet. Das ist eine Illusion, wir haben da eine sehr romantische Vorstellung von der Welt. Dabei übersehen wir die kleinen Dinge, die wirklich helfen.«
Benjamin Bidder fokussiert in seinem Beitrag Radikale Realisten ebenfalls auf den methodischer Ansatz der drei Preisträger: »Der Wirtschaftsnobelpreis ging meist an Schöpfer komplexer Theorien. Nun werden Verfechter einer extremen Methode geehrt: Im Kampf gegen die Armut setzen sie auf Experimente in Entwicklungsländern.« Auch Bidder weist darauf hin, dass das RCT-gestützte Vorgehen teils bemerkenswerte Ergebnisse liefert:
»Im indischen Bundesstaat Rajasthan … stieg die Impfrate von 6 auf 38 Prozent bei Kindern. Der Grund war einfach: Nach dem Arztbesuch bekam jede Mutter eine Essensration Linsen geschenkt. Eigentlich steht deren Preis von 50 Cent in keinem Verhältnis zum Nutzen, den ein Kind durch eine Impfung hat. Doch so ticken viele Menschen nun einmal. Der handfeste Vorteil jetzt ist oft wichtiger, als das abstrakte Gute in ferner Zukunft. Praktischer Nebeneffekt: Die Linsen sind viel günstiger, als aufwendige Informations- und Aufklärungsprogramme über die Vorteile des Impfens.«
Duflo und Banerjees Buch „Poor Economics“ ist 2011 erschienen – das ist praktisch gestern in der Welt der Wirtschaftsforschung. Und sie haben kein mehr oder weniger beeindruckendes Theoriegebäude gezimmert. Ganz offensichtlich bezieht sich die heutige Auszeichnung auf den methodischen Ansatz und das (scheinbar) pragmatische und an der kleinteiligen Lebenspraxis der Menschen orientierte Vorgehen der Forscher.
Kritische Stimmen zu der Preisverleihung an Banerjee, Duflo, and Kremer
2013 wurde das Buch Kampf gegen die Armut von Esther Duflo im Suhrkamp-Verlag publiziert. In einer Rezension – Wirksamkeit der Armutsbekämpfung auf dem Prüfstand – weist Gerhard Klas auf eine „Schlagseite“ bei Duflo hin: Sie setzt oft auf Disziplinierung. „Der gesellschaftliche Nutzen der Impfung ist größer als der private. Von daher ist es notwendig, die Individuen zu einer Handlung zu ermutigen oder zu zwingen, aus der sie keinen großen Nutzen ziehen, von der aber die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit profitiert“, so zitiert er Duflo selbst. »Duflos Lösungsstrategien setzen auch in anderen Bereichen immer am vermeintlich individuellen Fehlverhalten der Armen an.« Und Gerhard Klas legt den Finger auf eine offensichtliche Wunde:
»Die makroökonomischen Rahmenbedingungen und damit die strukturellen Ursachen der Armut sind bei Duflo hingegen kein Gegenstand der Analyse. Etwa dass Regierungen Nahrungsmittelsubventionen, Bildungs- und Gesundheitsetats zusammenstreichen oder massiv Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entlassen, um ihren Schuldendienst an Banken abzuleisten. So will Duflo hohe Fehlzeiten von Lehrern in Kenia, die wegen ihrer schlechten Bezahlung nebenher in anderen Jobs arbeiten müssen, nicht etwa durch eine Lohnerhöhung bekämpfen. Vielmehr setzt sie auf befristete Arbeitsverträge, um die Motivation der Lehrer zu steigern.«
In den beiden Sektoren Bildung und Gesundheit »setzt sie „auf die Dynamik der freien Marktkräfte“, die von Fall zu Fall mit staatlichen Mitteln subventioniert werden sollen und öffentlichen Einrichtungen in der Regel vorzuziehen seien.«
Sein Fazit: »Es ist nichts dagegen einzuwenden, die Wirksamkeit der Armutsbekämpfung genauer zu untersuchen. Das kann aber nur zielführend sein, wenn auch die strukturellen Ursachen der Armut ins Visier genommen werden.«
Das methodische Vorgehen ist unter Forschern „nicht unumstritten“, wie Benjamin Bidder in seinem Artikel berichtet. Einige Kritiker stören sich an der Herangehensweise der „randomized controlled trials“, die Experimente degradierten Bedürftige zu Versuchskaninchen. Und Bidder führt einen Kritiker ins Feld, der auch seines Zeichens Nobelpreisträger der Ökonomenzunft ist: Angus Deaton:
»Den britisch-amerikanischen Ökonomen Angus Deaton – 2015 selbst mit dem Nobelpreis für seine Armutsforschung ausgezeichnet – stört etwas anderes. Er hat sich einen akademischen Schlagabtausch mit Banerjee geliefert. Deaton warnt vor einer „Sakralisierung“ der RCTs, obwohl die Stichproben oft zu klein seien für verlässliche wissenschaftliche Aussagen. Man müsse der Methode „den Heiligenschein nehmen“ und sie als „ein menschliches Ding ansehen, mit all ihren Fehlern“.«
Mehr als deutlich hat sich der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring zu Wort gemeldet: Warum die experimentelle Entwicklungsökonomik den Nobelpreis nicht verdient, so hat er seinen Blog-Beitrag überschrieben. Er fährt gleich am Anfang schweres Geschütz auf: »Das Auswahlkomitee der Schwedischen Akademie der Wissenschaften für den Ökonomie-Nobelpreis ist seinem Faible für neoliberale, Chicago-Style Ökonomik treu geblieben.« Seiner Wahrnehmung nach werden hier Forscher ausgezeichnet, denen es darum gehe, »Entwicklungspolitik, die darauf abzielt, Volkswirtschaften zu entwickeln, zu ersetzen durch Maßnahmen, die die Produktivität von Individuen erhöhen.«
»Wer heute als Entwicklungsökonom erfolgreich sein möchte, sollte tunlichst mit „randomisierten Kontrollversuchen“ (RCTs) arbeiten … Ein Netzwerk aus Instituten hat sich RCTs verschrieben. Philanthropen aus dem Silicon Valley, die großen Wert auf erkennbaren Nutzen geförderter Projekte legen, geben Geld – allen voran die Stiftung des Microsoft-Gründers Bill Gates. Daneben ist die Weltbank ein großer intellektueller und finanzieller Förderer … Die Bank widmete ihren gesamten Weltentwicklungsbericht 2015 dieser Forschungsrichtung.«
Und Norbert Häring weist auch darauf hin, dass man in Europa (bislang) keinen Siegeszug der Methodik erkennen kann: »In Europa haben RCTs nicht die gleiche Begeisterung ausgelöst wie in den USA. Die staatliche deutsche Entwicklungshilfeorganisation GIZ sah sich schon 2012 genötigt zu erklären, warum man auch künftig RCTs nicht zur Richtschnur für die eigene Arbeit machen werde. Die Methode eigne sich nur für einen schmalen Anwendungsbereich, und oft sei fraglich, ob sich die Ergebnisse verallgemeinern lassen.«
»Florent Bedecarrats, Isabelle Guérin und François Roubaud von der staatlichen französischen Entwicklungsagentur Agence Française de Développement (AFD) werfen in einem jüngst vorgelegten Papier prominenten RCT-Ökonomen Hybris vor. Anwendbar sei die Technik nur auf spezifische lokale Projekte von oft geringer Bedeutung. Dennoch würden sie als Goldstandard gehandelt, an dem sich alle anderen Ansätze messen müssten.« Häring bezieht sich hier offensichtlich auf den Artikel All that Glitters is not Gold. The Political Economy of Randomized Evaluations in Development: The Political Economy of Randomized Evaluations in Development, der 2017 im Journal „Development and Change“ veröffentlicht wurde.
Und Häring zitiert einen weiteren Kritiker: »Auch Jeffrey Hammer, der 25 Jahre für die Weltbank gearbeitet hat und nun an der Elite-Uni Princeton lehrt, kritisiert die neue Lieblingsmethode seines Ex-Arbeitgebers mit deutlichen Worten. Es gebe eine ungerechtfertigte Fokussierung auf „private Güter“, also solche, bei denen man eine Kontrollgruppe ausschließen kann. Dabei komme es bei der Entwicklungspolitik stärker auf öffentliche, von allen nutzbare Güter an, wie etwa eine gute Infrastruktur oder ein funktionierendes Rechtssystem.«
Man sieht, die Auseinandersetzung mit den diesjährigen Preisträgern des „Nobelpreisimitats“ verdeutlicht einmal mehr, dass die Wirtschaftswissenschaften eine der Sozialwissenschaften sind und neben den anderen stehen, die auch wichtige und manchmal sogar gewichtigere Beiträge zu den Problemen der realen Welt leisten. Wenn es schon keinen „Nobelpreis“ für Sozialwissenschaften gibt (und angesichts der gegebenen Komplexität und zugleich der teilweise völlig differierenden Sichtweisen auf unsere Welt vielleicht auch nicht geben kann), dann sollte man das mit dem Preis vielleicht einfach mal lassen. Oder aber man argumentiert, dass es doch immer wieder schön ist, sich einmal im Jahr über Würdenträger der ökonomischen Fakultät beeindruckt oder entsetzt zu zeigen. Je nachdem, wer es denn geworden ist.