Zuerst der Blick von ganz oben: Weltweit leben nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 164 Millionen Arbeitsmigranten in fremden Ländern. Ihre Zahl sei zwischen 2013 und 2017 um neun Prozent gestiegen, berichtete die Organisation, die im Auftrag der Vereinten Nationen soziale Gerechtigkeit und die Rechte von Arbeitnehmern fördern soll. Das und mehr kann man diesem Artikel entnehmen: Zahl der Arbeitsmigranten steigt auf 164 Millionen. Nun gibt es solche und andere: Dazu gehören Saisonarbeiter, die etwa als Erntehelfer Geld verdienen, Fachkräfte wie Pflegepersonal oder IT-Spezialisten, aber auch Flüchtlinge sowie Menschen, die sich illegal in Gastländern aufhalten, werden von der ILO mitgezählt Vgl. ausführlicher dazu ILO Global Estimates on International Migrant Workers. Results and Methodology, 2018). Darunter sind Arbeitsmigranten, denen es materiell gut geht, die gerade wegen der höheren Löhne und anderer Arbeitsbedingungen in ein anderes Land gegangen sind oder dort Geschäfte machen. Aber unter den vielen anderen gibt es zahlreiche Ausbeutungsfälle.
Das klingt immer so abstrakt. An dieser Stelle kann man beispielsweise eine Reportage von Hannes Lintschnig und Stefan Schultz empfehlen, die der Ausbeutung ein Gesicht und eine Geschichte und Gefühle gibt: Verloren in Europa: »Als Bulgariens Wirtschaft abstürzt, zieht Stanimir Panow nach Hamburg-Wilhelmsburg. Er hofft auf ein besseres Leben, doch er landet auf dem sogenannten Arbeiterstrich – in einem System der Ausbeutung, von dem deutsche Verbraucher massiv profitieren.«
Dass Arbeitsausbeutung in krassen Formen auch bei uns möglich und an der Tagesordnung ist, hat neben den enormen Anreizen für Unternehmen, die eine gewisse Risikoneigung haben, auch damit zu tun, dass es einen eklatanten Mangel an (abschreckenden) Kontrollen und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Betriebe gibt. Das wurde gerade in diesen Tagen wieder einmal diskutiert rund um das Thema Lkw-Fahrer auf den europäischen Straßen und deren teilweise desaströsen Arbeits- und Lebensbedingungen. Vgl. dazu den Beitrag Das „Nomadentum“ der Lkw-Fahrer auf den europäischen Straßen wird endlich beendet. Wirklich? vom 5. Dezember 2018. In Ergänzung zu den Ausführungen dort vgl. auch dieses Interview mit einem Rechtsanwalt, der selbst zehn Jahre lang als Trucker gearbeitet hat: „Die braten ihr Kotelett auf dem Tank“. Bei ihm findet sich mehrfach der Hinweis: es fehlen vorne und hinten Kontrollen.
In diesem Zusammenhang muss man dann auch diese Überschrift einordnen, die das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) über seine Pressemitteilung zum 3. Bericht über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland gesetzt hat: „Ausbeutung ist ein risikoloses Geschäft“. Dort findet man diese Hinweise:
»Ausbeutung von Arbeitsmigranten – kaum Möglichkeiten, den Lohn einzuklagen
Das Menschenrechtsinstitut hat die Situation von Migranten und Migrantinnen untersucht, die von ihren Arbeitgebern ausgebeutet wurden. Interviews mit Betroffenen aus EU-Ländern und Drittstaaten wie Pakistan, Palästina, Syrien, Argentinien, Ecuador oder Peru machen deutlich: Viele erhalten weit weniger als den Mindestlohn, oder der Lohn wird ihnen gänzlich vorenthalten. Zudem führen Arbeitgeber häufig keine Sozialabgaben ab. Unbezahlte Überstunden sind an der Tagesordnung, oft sind die Beschäftigten mit Drohungen und Gewalt konfrontiert. „Schwere Arbeitsausbeutung ist aktuell ein risikoloses Geschäft. Diese Menschen haben faktisch kaum eine Möglichkeit, ihre Lohnansprüche gerichtlich durchzusetzen“, bemängelte Rudolf. Sie befinden sich in einem Teufelskreis: Durch die äußerst prekären Lebensumstände sind sie von Obdachlosigkeit bedroht und gezwungen, immer wieder schlechte Jobs ohne Absicherung anzunehmen. Fälle von schwerer Arbeitsausbeutung sind aus vielen Branchen, beispielweise der fleischverarbeitenden Industrie, dem Transportwesen oder der häuslichen Pflege bekannt. Fehlende Sprach- und Rechtskenntnis, Abhängigkeit vom Arbeitgeber, fehlende Beweismittel sowie ein erschwerter Zugang zu Beratung führen zu einer strukturellen Unterlegenheit der Betroffenen gegenüber ihren Arbeitgebern, die derzeit in den arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht behoben werden kann.«
»Lohnenthaltung, Überstunden, Gewalt: Das Deutsche Institut für Menschenrechte bemängelt die Situation von Arbeitsmigranten in Deutschland. Sie seien besonders schutzlos«, so dieser Bericht über den neuen Bericht des DIMR: „Schwere Arbeitsausbeutung ist aktuell ein risikoloses Geschäft“. »Von 33 Betroffenen, die das Institut befragte, schafften es nur zwölf, ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht einzuleiten. Acht von ihnen waren erfolgreich. Wer keine neue Beschäftigung gefunden hat, verzichtet demnach oft auf eine Klage, weil er sein Leben während des Verfahrens sonst nicht finanzieren kann. Die Verfahrensdauer für ein Urteilsverfahren an Arbeitsgerichten betrug im Jahr 2017 durchschnittlich 3,1 Monate. Das Institut schildert den Fall eines rumänischen Bauingenieurs, der seinen Lohn erst unregelmäßig und dann gar nicht mehr erhielt. Als er eine Klage einreichte, wurde ihm per SMS gekündigt.«
„Die Qualität des Menschenrechtsschutzes in einem Staat misst sich daran, ob die Rechte der Schwächsten in Gesetzen verankert und auch in der Praxis geachtet und geschützt werden“, so wird die Direktorin des DIMR, Beate Rudolf, zitiert. Nach diesem Maßstab liegt also einiges im Argen.
Was tun? Dazu aus der Mitteilung des DIMR zum neuen Bericht: »Rudolf forderte deshalb ein Gesamtkonzept, um die Unterlegenheit der Betroffenen abzubauen. „Die Diskussion und Entwicklung eines solchen Gesamtkonzeptes könnte zum Beispiel die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung vorantreiben“, sagte Rudolf. Ziel müsse es sein, die Durchsetzung von Lohnansprüchen für die Betroffenen zu erleichtern. Dazu müsse ein Bündel von Maßnahmen geschnürt werden, zum Beispiel die Verbandsklagemöglichkeiten gegen ausbeuterische Arbeitgeber, stellvertretende Klagen und bessere Möglichkeiten für Betroffene, prozessrelevante Daten von Kontrollbehörden zu bekommen.«
Den angesprochenen Bericht kann man hier im Original abrufen:
➔ Deutsches Institut für Menschenrechte (2018): Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2017 – Juni 2018. Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG, Berlin, Dezember 2018