Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber: Der EuGH gegen Sozialleistungen für EU-Bürger in anderen EU-Staaten, das BSG teilweise dafür, andere Sozialgerichte gegen das BSG

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) schützt die Mitgliedsstaaten vor Sozialleistungsansprüchen von EU-Bürgern, das Bundessozialgericht (BSG) dagegen will die Zuwanderer aus der EU in Deutschland schützen – jedenfalls nach einigen Monate. Einige Landessozialgerichte wollen dem BSG nicht folgen. Die Kommunen haben Angst vor zusätzlichen Kosten und die Bundessozialministerin Andrea Nahles kündigt sogleich an, das Gesetz zu ändern, um dem BSG Einhalt zu gebieten (vgl. dazu beispielsweise Sozialhilfe für Ausländer „mit Hochdruck“ beschränken) . Alles klar?

Das hört sich nicht nur kompliziert an. Es ist richtig kompliziert, mit Versatzstücken einer verkehrten Welt, gemischt mit unterschiedlichen Sichtweisen auf Grundrechte innerhalb der EU und handfesten Ängsten angesichts möglicher Folgen möglicher Leistungsgewährung in den Aufnahmeländern. Und wieder einmal ist das jetzt ein Thema der europäischen Rechtsprechung, von der wir hinsichtlich der Frage, wie es denn so ist bzw. sein soll bei der Gewährung von Sozialleistungen an EU-Bürger, die in ein anderes als ihr EU-Heimatland gewandert sind, in den zurückliegenden Monaten schon so einige höchstrichterliche Entscheidungen serviert bekommen haben. Dabei ist die neue Entscheidung des EuGH eigentlich nicht wirklich eine mit Neuigkeitswert: »Wer aus einem EU-Land nach Deutschland zieht, hat in den ersten drei Monaten keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Der Europäische Gerichtshof entschied jetzt gegen eine spanische Familie – und blieb auf seiner bisherigen Linie«, kann man dem Artikel Deutschland darf Ausländern anfangs Hartz IV verweigern entnehmen.

»Konkret ging es um den Fall der spanischen Familie Garcia-Nieto, die 2012 nach Recklinghausen zog. Zuerst kam im April die Mutter und eine Tochter. Als die Mutter im Juni Arbeit als Küchenhilfe gefunden hatte, zog der Vater mit einem Sohn nach. Der Vater beantragte Grundsicherung zur Arbeitssuche (Hartz IV), doch das Jobcenter Recklinghausen lehnte dies ab.

Es berief sich auf eine Ausschlussklausel im deutschen Sozialgesetzbuch II, wonach Ausländer „für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts“ keinen Anspruch auf Hartz IV haben (Paragraf 7 Abs. 1)«, berichtet Christian Rath in seinem Artikel Drei Monate ohne Hartz IV sind okay. Während das Sozialgericht Gelsenkirchen in der ersten Instanz dem Begehren des Herrn Garcia-Nieto folgte, war das Landessozialgericht unschlüssig und legte dem EuGH den Fall vor. Konkret fragte die zweite Instanz ganz oben nach, ob die deutsche Ausschlussklausel mit EU-Recht vereinbar ist.

Mit Ausschlussklausel ist der § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II gemeint. Danach haben »Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts« keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen.

Christian Rath berichtet über die Beschlussfassung des EuGH: »Der EuGH hatte nun keine Einwände gegen den deutschen Leistungsausschluss. Zwar seien EU-Bürger im Sozialrecht grundsätzlich gleichzubehandeln. Doch schon die Unionsbürger-Richtlinie der EU von 2004 sehe ausdrückliche Ausnahmen vor. So ist ein EU-Staat nicht verpflichtet, EU-Bürgern „während den ersten drei Monaten des Aufenthalts“ Sozialhilfe zu gewähren (Art. 24 Abs. 2). Auch Hartz IV sei eine Form von „Sozialhilfe“. Dieser Ausschluss sei die Kehrseite der von der EU gewährten Freizügigkeit. Danach kann sich jeder EU-Bürger drei Monate lang in einem anderen EU-Staat aufhalten, ohne irgendwelche Formalitäten erledigen zu müssen. Der gleichzeitige Ausschluss von Sozialleistungen sichere das „finanzielle Gleichgewicht“ der Sozialsysteme. Eine Einzelfallprüfung sei nicht erforderlich, so der EuGH, auch nicht bei einem Familiennachzug.«

Diese Entscheidung des EuGH kommt nicht wirklich überraschend. Zum Verständnis dieser Einordnung sei an zwei wichtige Urteile des EuGH aus der jüngsten Vergangenheit erinnert:

➔ Im November 2014 hatte der EuGH im Fall einer arbeitslosen Rumänin, die keine Arbeit suchte, die Verweigerung von Hartz IV akzeptiert (Fall Dano). Vgl. dazu den Blog-Beitrag Aufatmen bei vielen verbunden mit der Gefahr einer Überbewertung. Der Europäische Gerichtshof und seine Entscheidungen. Diesmal hat man sich einer jungen Rumänin in Leipzig angenommen vom 11. November 2014.

➔ Im September 2015 ging es dann beim Fall Alimanovic um eine andere Konstellation – und die war dem EuGH vom BSG vorgelegt worden: »In der vorliegenden Rechtssache möchte das Bundessozialgericht (Deutschland) wissen, ob ein derartiger Ausschluss auch bei Unionsbürgern zulässig ist, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnahmemitgliedstaat begeben haben und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben, wenn Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.« Die Entscheidung des EuGH war für den einen oder anderen überraschend deutlich: Die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, Sozialhilfe zu gewähren, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Diese Entscheidung ist bei denen einen sicher mit Erleichterung aufgenommen worden, in der Fachdiskussion gab es aber nachfolgend durchaus auch sehr kritische Bewertungen – vgl. stellvertretend dafür den Blog-Beitrag Der Umbau der europäischen Sozialbürgerschaft: Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic von Anuscheh Farahat, Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg sowie die detailreiche Besprechung der EuGH-Entscheidung in dem Artikel Deutsch­land darf mittel­lose EU-Bürger von Sozial­hilfe ausschließen von Constanze Janda. Vgl. insgesamt zum Fall Alimanovic auch den Blog-Beitrag Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger vom 15. September 2015.

In dem Blog-Beitrag vom 15.09.2016 – ich kann nichts für die nun erneut aufzurufenden Untiefen der Rechtsprechung – wurde eine eigenartige Welt unterschiedliche Fristen vorgestellt, die uns die EuGH-Richter entworfen haben.
Denn der EuGH führt in seiner damaligen Entscheidung (Urteil in der Rechtssache C-67/14 Jobcenter Berlin Neukölln / Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic) aus:»Für Arbeitsuchende … gibt es … zwei Möglichkeiten, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen:
Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr gearbeitet hatte, und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung, behält er seine Erwerbstätigeneigenschaft und sein Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozialhilfeleistungen.
Wenn ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitsuchender nicht aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnahmemitgliedstaat jedoch jegliche Sozialhilfeleistung verweigern.«

Alles klar? Das ist ja auch eine schwierige Materie, deshalb hier mein Versuch einer Kurzfassung, deren ultimative Kurzform 3-6-12 lautet:
Wenn jemand aus einem anderen Land einreist, um hier zu arbeiten bzw. Arbeit zu suchen, dann gilt1. eine Drei-Monats-Frist: In den ersten drei Monaten nach der Einreise müssen die Staaten keine Sozialleistungen zahlen;
2. eine Sechs-Monats-Frist für die Fälle, wo jemand im Einreiseland weniger als zwölf Monate gearbeitet hat, also er oder sie bekommt sechs Monate lang Sozialleistungen, danach aber nicht mehr, wenn bis dahin keine neue Arbeit gefunden wurde, ohne dass er oder sie deswegen ausgewiesen werden darf, sowie
3. eine 12-Monats-Frist, die zu einer weitgehenden Gleichstellung mit den Inländern führt, wenn man länger als ein Jahr ohne Unterbrechungen hier gearbeitet hat.

Während der Fall Alimanovic als den Punkt 2 betraf, ging es beim neuen Fall Garcia-Nieto um den Punkt 1, also die Drei-Monats-Frist.

Aber dann kam im Dezember 2015 auch noch ein echter Paukenschlag dazu – das BSG hatte in drei Urteilen unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konkretisiert, in welchen Fallgestaltungen Unionsbürger aus den EU-Mitgliedstaaten existenzsichernde Leistungen nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beziehungsweise dem Sozialhilferecht (SGB XII) beanspruchen können.  Vgl. dazu den Blog-Beitrag Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3. Dezember 2015.

Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«

Diese Entscheidung hat die Kommunen geschockt, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren. Vgl. dazu den Beitrag Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6. Dezember 2015. Darin eine erste Bewertung der BSG-Entscheidung: »Man muss die ersten sechs Monate irgendwie überbrücken, dann hat man gute Aussichten auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII, die aber eigentlich für Nicht-Erwerbsfähige gedacht sind, weil für die anderen ja das SGB II zuständig ist. Also eigentlich. Macht das wirklich Sinn?«

Denn das ist der Punkt. Offensichtlich konnten und wollten sich die BSG-Richter nicht anfreunden mit dem eigenartigen Niemandsland nach den 6 Monaten, wenn man der Fristen-Logim des EuGH folgt, nach der man dann ja keinen Anspruch auf irgendwelchen Leistungen hat, aber auch nicht ausgewiesen werden darf. Das ist zumindest genau so fragwürdig wie die offensichtliche Bypass-Strategie des BSG, wenn man schon bei den SGB II-Leistungen nichts hinbekommt, dann doch wenigstens Sozialhilfeleistungen zu eröffnen, obgleich die eigentlich gerade nicht für erwerbsfähige Personen gilt.

Das BSG stößt mit diesem eigenwilligen Ansatz innerhalb der deutschen Sozialgerichtsbarkeit auf teilweise massive Widerstände. Ganz neu dazu beispielsweise das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 11.2.2016, L 3 AS 668/15 B ER):

»Erhalten erwerbsfähige Unionsbürger aufgrund eines gesetzlichen Ausschlusses kein Hartz IV, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder sie kein Aufenthaltsrecht mehr haben, werden diese nach Auffassung des Landessozialgerichtes grundsätzlich im einstweiligen Rechtsschutz auch dann vom Bezug von Sozialhilfe ausgeschlossen, wenn sie sich bereits sechs Monate im Bundesgebiet aufgehalten haben.« So der Artikel Erwerbsfähige Unionsbürger: Kein Hartz IV- und Sozialhilfeanspruch vom 24.02.2016.

Damit wendet sich das LSG Rheinland-Pfalz vollständig ab von er Rechtsprechung des BSG:

»Angesichts des gesetzlich ausdrücklich geregelten Leistungsausschlusses für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, dem Sinn und Zweck der Regelung, einer „Einwanderung in die Sozialsysteme“ unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die die Freizügigkeit für EU-Bürger innerhalb des EU-Binnenmarktes bietet, entgegenzuwirken und der sich aus den Gesetzesmaterialien klar ergebenden Zielsetzung des Gesetzgebers, einen solchen Leistungsausschluss sicherzustellen, könne den Ermessensleistungen, sofern man sie überhaupt für anwendbar halte, in diesem Zusammenhang allenfalls ein Ausnahmecharakter beigemessen werden.«

Abschließend wieder zurück zur neuen Entscheidung des EuGH. Es gibt in den Medien auch kritische Stimmen dazu, beispielsweise die Kommentierungen Hartz IV nicht für EU-Ausländer: Oben-Europa von Uwe Kalbe oder Dann eben ohne Stütze von Christian Rath.

Auch Constanze Janda hat sich mit einem Artikel, Warten auf Hartz IV, zu Wort gemeldet:

»Im Gegensatz zu den Entscheidungen in den Rechtssachen Dano und Alimanovic erweist sich das heutige Urteil als unspektakulär – dass der EuGH Wartefristen billigen wird, galt in Fachkreisen als ausgemacht. Der Gerichtshof hat schon in seiner früheren Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, dass sich diese zur Vermeidung von „Sozialtourismus“ eignen und dem Nachweis dienen, dass der Antragsteller eine „tatsächliche Verbindung“ zu dem Staat aufweist, der ihm die Leistung gewähren soll … Klar ist, dass ein Kurzaufenthalt von weniger als drei Monaten noch keinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik nach sich zieht – anderenfalls würden Touristen, Durch- oder Geschäftsreisende Mitglieder der inländischen Solidargemeinschaft.«

Dann aber mit Blick auf den aktuellen Fall und dem abstrakten Verweis, dass die Betroffenen in den ersten drei Monaten ja in ihr Heimatland zurückkehren könnten: »Im Fall Garcia-Nieto hätte dies nämlich zur dauerhaften Trennung der Familie geführt, obwohl die Ehefrau im Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Und zwar nur, weil ihr Einkommen zu gering war, um den Lebensunterhalt der gesamten Familie zu decken.«

Und Constanze Janda legt den Finger auf die nächste Wunde:

»Letztendlich spart der Leistungsausschluss im SGB II dem Sozialstaat nicht wirklich viel Geld, hat das BSG doch erst im Dezember 2015 festgestellt, dass sich – wenn schon nicht aus dem Europarecht – zumindest aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ein Anspruch auf Zugang zu den Leistungen der Sozialhilfe ergibt, wenn diese notwendig sind, um den Lebensbedarf zu sichern (Urt. v. 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).«

Man kann auch noch eine weitere, grundsätzliche Perspektive aufmachen: Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie ist ein Kernbestandteil des für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich geltenden Unionsrechts. Jeder Unionsbürger hat hiernach die Möglichkeit, ungeachtet seines Wohnortes in jedem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, unter den gleichen Voraussetzungen eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben wie ein Angehöriger dieses Staates. Freizügigkeit ist also gegeben, wenn es keine auf der Nationalität beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung, die Beschäftigung, die Entlohnung und die sonstigen Arbeitsbedingungen gibt. Geregelt ist sie im Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie als Grundrecht in Artikel 15 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Danach könnte man versucht sein, die Ausgrenzungen, Abstufungen und Differenzierungen, mit denen sich die Urteile beschäftigen, grundsätzlich in Frage zu stellen – wenn man denn einen wirklichen europäischen Binnenmarkt hätte. Denn dann wäre tatsächlich der Punkt gegeben, dass eine ungestörte Wanderung der Arbeitskräfte – übrigens gerade in einem einheitlichen Währungsraum – Sinn macht, um unterschiedlichen Entwicklungen im gemeinsamen Wirtschaftsraum Rechnung zu tragen.

Aber so weit ist es noch nicht und angesichts des erheblichen Gefälles zwischen den EU-Staaten sowie der ganzen Fragilität der EU, die wir derzeit zur Kenntnis nehmen müssen, kann man durchaus berechtigt daran zweifeln.

Hinzu kommt, dass die Sozialleistungsniveaus zwischen den Mitgliedsstaaten wirklich enorm sind.

Wenn sich das noch viel zu abstrakt anhört, dann sei an dieser Stelle abschließend auf diesen Artikel verwiesen, der sich mit der konkreten Situation in Offenbach beschäftigt: „20 Leute in einer Wohnung – das ist auch in Rumänien nicht normal“. In diesem Artikel wird Matthias Schulze-Böing zitiert, der das kommunale Jobcenter und zugleich das Amt für Integration leitet, mit einem bemerkenswerten Satz: „Wir schaffen das Prekariat für das nächste Jahrzehnt.“ Der Artikel legt den Finger auf eine klaffende Wunde in Zeiten, in der alle über „die“ Flüchtlinge debattieren, aus fernen Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Eritrea, aber andere „vergessen“ werden: »Zuwanderer aus EU-Staaten, vor allem arme Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die jedes Jahr zu Zehntausenden nach Deutschland ziehen und ihr Glück suchen. Der Zuzug ist ungebrochen, er wird nur nicht mehr so wahrgenommen, allenfalls am Rande, wenn es um Kindergeld oder andere Sozialleistungen für sie geht.«

»Bezogen im Sommer 2012 noch knapp 500 Rumänen und Bulgaren Hartz-IV-Leistungen, sind es nun mehr als das Dreifache, etwa 1600. Für eine mittelgroße Stadt wie Offenbach sind das viele, Teil eines „Massenphänomens“, wie Schulze-Böing sagt.

Vor allem Menschen aus Bulgarien, mehr als tausend, sind am Jobcenter angelandet, während die Zahl der Rumänen stagniert. „Am schwierigsten sind eigentlich alle Fälle“, sagt Schwan, die bis vorigen Herbst Anträge auf Hartz-IV-Leistungen bearbeitet hat. Oft fehlt das Nötigste: Deutschkenntnisse, Berufsausbildung, ein Zimmer. „In der Regel sind es sehr arme Menschen, Männer aus der Bau- oder Reinigungsbranche“, sagt Schwan. Meist läuft es so: Die Familienväter kommen nach Deutschland, fangen an zu arbeiten, mieten eine Wohnung, holen ihre Familie nach und stellen den Antrag, weil der Lohn nicht für alle reicht. Oft liegt der nur bei 500 bis 800 Euro im Monat, sagt Schwan. Denn dubiose Firmen wissen die Lage auszunutzen: Da ist in den Arbeitsverträgen von 20 bis 30 Wochenstunden die Rede, die seltsamerweise nicht ausgeschöpft werden, Zimmer zu Wucherpreisen werden gleich mitvermittelt. Der Großteil der Zuwanderer wolle arbeiten und Geld verdienen, sagt ein Offenbacher Arbeitsvermittler. Doch vielen bleibt nur ein Taschengeld. Wer mehr will, kann ja zum Jobcenter gehen. Nachdem die Regel in Kraft trat, dass Arbeitnehmer mindestens 450 Euro verdienen müssen, um weitere Hilfe zu erhalten, hätten relativ viele eben 451 Euro verdient, sagt Schulze-Böing. „Wir beobachten Systeme, in denen der Arbeitgeber mit dem Vermieter, den Transportdiensten aus Südosteuropa bis hin zu Beratern, die hier mit den Antragstellern auftauchen, zusammenhängen.“ Wer mit Schulze-Böing spricht, aber auch mit Sozialarbeitern und anderen Helfern, dem drängt sich der Eindruck auf: Dubiose Firmen nutzen die Sozialleistungen für Neuankömmlinge, um ihre Ausbeutungsmaschinerie in Gang zu halten.«

Vor diesem eben weitaus komplexeren Gebilde in der Realität kann man verstehen, warum die Verantwortlichen vor Ort mit Argusaugen auf die neue Entscheidung des EuGH geschaut haben, denn jede Vereinfachung des Leistungsbezugs – so wünschenswert das für die Betroffenen wäre – hätte möglicherweise enorme Folgewirkungen im Sinne eines Ausstrahlens auf diejenigen, die sich dann zusätzlich motiviert fühlen könnten, nach Deutschland zu kommen und damit unfreiwillig zum Nachschub für die angedeutete Ausbeutungsmaschinerie zu  werden.

Armut macht krank und Krankheit kann arm machen und beides zusammen führt oftmals in einen Teufelskreis

In diesen Tagen wurde wieder einmal gehadert mit der „Armut“. Also weniger mit dem Tatbestand der Armut von Menschen, sondern mit der Berichterstattung darüber. Auslöser war der neue Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderer Verbände. Vgl. dazu den Beitrag Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion – und von abstrusen Kommentaren vom 23.02.2016. Dabei gab es neben der üblichen Schelte an der Methodik der Messung einer relativen Einkommensarmut auch eine sachlich ausgerichtete Darstellung wichtiger Befunde neben der allgemeine Quote der Einkommensarmutsgefährdung, vor allem der Gruppen, bei denen wir eine überdurchschnittliche Betroffenheit prekärer Lebenslagen beobachten müssen. So beispielsweise in dem Übersichtsbeitrag Das sind die fünf größten Armutsrisiken von Frank Specht in der Online-Ausgabe des Handelsblatts oder in diesem Tagesschau-Beitrag.

Ein ganz besonders wichtiger Aspekt der Armutsdiskussion ist der Zusammenhang von Armut und Gesundheit. Darauf geht beispielsweise der Artikel Armut erhöht Herzinfarkt-Risiko von Susanne Werner ein. 

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Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion – und von abstrusen Kommentaren

Sie haben es wieder getan. Wieder Zahlen veröffentlicht zur „Armut“ in unserem Land. Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016, so ist das überschrieben und diesmal nicht nur vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, sondern von mehreren Verbänden veröffentlicht worden. Wobei die im Titel transportierte Aktualität bei den präsentierten Zahlen nicht ganz so frisch daherkommt, denn die stammen aus dem Jahr 2014, was aber in der Natur der statistischen Sache liegt, denn es handelt sich keineswegs um irgendwelche selbst gebauten Zahlenkolonnen, sondern man greift zurück auf Daten der amtlichen Statistik, in diesem Fall aus dem Mikrozensus. Und da ist 2014 das „aktuellste“ Jahr. Man kann die auch ganz offiziell einsehen, auf einer eigenen Website der Statistischen Ämter der Länder und des Bundes, www.amtliche-sozialberichterstattung.de, werden die aus den Mikrozensus-Daten berechneten Armutsgefährungsquoten, so nennen das die Berufsstatistiker, für alle abrufbar ausgewiesen und auch erläutert. Das können auch alle Journalisten machen – was gleich noch eine Rolle spielen wird – und wenn sie sich etwas mehr Mühe geben, dann werden sie auch erfahren, dass die dort ausgewiesenen Armutsgefährungsquoten auf eine EU-weit gültige Festlegung zurückgehen und nicht irgendwelche Phantasieprodukte darstellen.

Und damit sind wir schon fast mittendrin in einer Art Ritual, dem man beiwohnen muss, seitdem solche „Armutsberichte“ vorgelegt werden. Es besteht aus einem seriösen und einem peinlichen Teil. Der seriöse Zweig der kritischen Inaugenscheinnahme der Zahlen versucht sich in methodischer Kritik an dem, was hier als „Armut“ definiert bzw. präsentiert wird. Der aufmerksame Leser erinnert sich an dieser Stelle, dass die Berufsstatistiker in Diensten des Staates (wie aber auch viele Wissenschaftler) den sperrig daherkommenden Terminus „Armutsgefährungsquoten“ verwenden, während die Paritäter & Co. eine durchaus diskussionswürdige Abkürzung nehmen und von „Armutsquoten“ sprechen. Das ist schon an vielen Stellen abgehandelt worden, hier sei nur auf meinen Blog-Beirag Armut. Armutsgefährdungsquoten. Ein Durchschnitt und mehrere andere Durchschnitte. Zum neuen Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über die regionale Armutsentwicklung vom 19.02.2015 verwiesen. Dort findet man durchaus auch kritische methodische Anmerkungen zum damaligen Armutsbericht, aber keine grundsätzliche Ablehnung, weil das auch nicht dem Stand der Armutsforschung entsprechen würde.

Vielen Kritikern geht es aber gar nicht um eine trockene Analyse und Infragestellung der verwendeten Methoden, sondern allein der Begriff „Armut“ treibt sie in die Aggression. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Und so kommt es dann – ob bewusst oder unbewusst – entgegen aller Erkenntnisse und Standards der Armutsforschung zu einem Verriss dieser Zahlen dergestalt, dass die keine Armut anzeigen, die gibt es woanders, aber nicht bei uns. Dazu gleich ein aktuelles Beispiel aus der Medienberichterstattung, die noch einen dreisten Schritt weiter geht.

Aber erst einmal zu den heute veröffentlichten Zahlen im „Armutsbericht 2016“. Die Herausgeber fassen die wichtigsten Befunde gut zusammen:

»Während in neun Bundesländern die Armutsquoten 2014 gesunken seien, belegt der Bericht einen Anstieg der Armut in den bevölkerungsreichen Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen. Hauptrisikogruppen seien Alleinerziehende und Erwerbslose sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Armutsquote rasant gestiegen sei und erstmals über dem Durchschnitt liege … Die Armut verharre mit 15,4 Prozent auf hohem Niveau, so der Bericht. Die Armutsquote sei zwar von 2013 auf 2014 um 0,1 Prozentpunkte gesunken. Ob der Negativtrend seit 2006, als die Armutsquote noch 14 Prozent betrug, damit gestoppt sei, sei jedoch offen … Das Ruhrgebiet bleibe mit Blick auf Bevölkerungsdichte und Trend die armutspolitische Problemregion Nummer Eins in Deutschland. Seit 2006 sei die Armutsquote im Ruhrgebiet um 27 Prozent angestiegen auf einen neuen Höchststand von 20 Prozent. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen sind nach dem Bericht Erwerbslose (58 %). Auch die Kinderarmutsquote (19 %) liegt nach wie vor deutlich über dem Durchschnitt, wobei die Hälfte der armen Kinder in Haushalten Alleinerziehender lebt. Die Armutsquote Alleinerziehender liegt bei sogar 42 %, was u.a. an systematischen familien- und sozialpolitischen Unterlassungen liegt.«

Damit haben wir die wichtigsten Befunde kompakt auf dem Tisch liegen. Und nein, an dieser Stelle soll auch nicht die auch jetzt wieder vorgetragene „Kritik“ an den Armutsgefährungsquoten wiedergekaut und auseinandergenommen werden.

  • Auch in der heutigen Berichterstattung taucht es wieder auf, das „Gegenargument“, beispielsweise in dem Artikel Verbände erklären Ruhrgebiet zur neuen Armutsregion: Dort kann man lesen, dass es »immer wieder Kritik an dem Bericht (gibt): Verdoppeln sich in einer Gesellschaft alle Einkommen, gibt es nach Definition nicht weniger Arme als zuvor. Der Armutsbericht ist somit ein Gradmesser für Ungleichverteilung : Lohnzuwächse vor allem bei den höheren Gehältern führen dazu, dass mehr Menschen unter die Armutsquote fallen.« Na klar, in allen Erläuterungen der Statistiker ist zu lesen, dass es sich um ein relatives Maß der Einkommensarmut handelt, das logischerweise in Deutschland einen anderen Maßstab haben muss als in Bangladesch. Dieses „Problem“ wird man nur vermeiden können, wenn wir uns verständigen würden auf einen „veterinärmedizinischen Armutsbegriff“, was man aber vor vielen Jahren in der Armutsforschung und der modernen Sozialpolitik Gott sei Dank hinter sich gelassen hat. Wer es ganz genau wissen möchte, was es mit diesen „Argumenten“ auf sich hat, dem sei dieser Blog-Beitrag vom 3. April 2015 empfohlen: Das doppelte Kreuz mit der Armut und der Herkunft: Die (angeblichen) Armutskonstrukteure schlägt man und die Ständegesellschaft 2.0 wird nur angeleuchtet). 

Den heutigen Vogel schießt aber Guido Kleinhubbert ab, der auf Spiegel Online unter der mehr als flapsigen Überschrift  Der gefährliche Blues vom bitterarmen Deutschland kommentiert. Auch hier darf natürlich das immer wiederkehrende und deshalb dennoch nicht richtige Argument nicht fehlen: »Abgesehen davon, ist der alljährliche Blues-Song sowieso ein schiefes Lied. Für Schneider und seine Fans sind nämlich alle Menschen „arm“, die von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben müssten. Das ist zumindest heikel, denn selbst wenn in unserem Land nur millionen- und milliardenschwere Ferrari-Fahrer gemeldet wären, gäbe es hier Armut. Irgendwer fällt immer unter die Grenze.« Es ist schon faszinierend, das alle zu dem gleichen Bild meinen greifen zu müssen.

Aber der Herr Kleinhubbert sorgt sich offenkundig um das „System“:

»Das ist gerade in diesen Zeiten äußerst gefährlich. Denn wer dem Paritätischen Wohlfahrtsverband seine Botschaft einfach so abkauft, den kann schnell die Wut packen – auf ein System, das die eigenen Bürger angeblich in Armut vegetieren lässt … Es ist fahrlässig, den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht. Wer wider besseren Wissens so tut, als könnten immer mehr Männer und Frauen trotz harter Arbeit oder gestiegener Hartz IV-Bezüge kein würdiges Leben führen und zum Beispiel ihren Nachwuchs nicht mehr angemessen ernähren, der handelt verantwortungslos. Er trägt weitere Unruhe in jene Teile der Bevölkerung, die wegen der Flüchtlingskrise ohnehin schon verunsichert sind, und treibt denjenigen Wähler und Unterstützer zu, die einfache Antworten liefern.«

Und so richtig in Fahrt gekommen überschlägt er sich förmlich, wenn er seinen Kommentar beendet mit dieser „Schlussfolgerung“:

 »Es kann also sein, dass Blues-Sänger Schneider einige neue Fans bekommt, die er sich nicht gewünscht hat. Zum Beispiel AfD-Politiker, NPD-Wirrköpfe und Pegida-Gröhler.«

Das nun ist wirklich ein Armutszeugnis für den, der das geschrieben hat. Noch unterirdischer kann das Niveau nicht sinken.

62 = 3,5 Milliarden. Menschen. Die Zunahme der extremen Ungleichheit setzt sich fort. Auch in Deutschland

Was sich kaum einer vorstellen kann: 3,5 Mrd. Menschen. Das ist genau die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung. Eine unvorstellbar große Zahl. Und alle zusammen haben so viel wie ein Raum voll Menschen, genauer gesagt: 62 überwiegend Männer. Behauptet die Organisation Oxfam in ihrem neuen Report An Economy for the 1%. How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped. Die hat öffentlichkeitswirksam kurz vor Beginn des Weltwirtschaftsforums 2016 im schweizerischen Davos die neuen Ungleichheitszahlen veröffentlicht. Nicht nur die plakative Relation von ganz weit oben und dem unteren „Rest“ ist interessant, die Organisation legt den Finger auf strukturelle Ursachen und macht zugleich politische Vorschläge, wie man das ändern könnte: »Die Spirale der wachsenden sozialen Ungleichheit dreht sich weiter: Mittlerweile besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Nur 62 Menschen besitzen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das derzeitige Wirtschaftssystem kommt vor allem den Reichen zugute und vertieft weltweit die Kluft zwischen Arm und Reich. Ein wesentlicher Grund ist eine ungerechte Steuerpolitik. Reiche Einzelpersonen halten in Steueroasen rund 7,6 Billionen US-Dollar versteckt, neun von zehn großen Unternehmen haben mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen. Sie entziehen sich damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Wer soziale Ungleichheit und Armut bekämpfen will, muss Steuergerechtigkeit schaffen und Steueroasen trockenlegen«, so Oxfam in dem Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen.

Die Resonanz in den Medien ist groß: 62 Superreiche besitzen so viel wie die ärmsten 3,6 Milliarden oder 62 Superreiche besitzen so viel wie die halbe Welt oder Reich und Reich gesellt sich gern, um nur drei Beispiele zu erwähnen. Oxfam kritisiert eine weitere Verschärfung der globalen extremen Ungleichheit: Während die ärmere Bevölkerungshälfte in den letzten fünf Jahren eine Billion Dollar verloren hat, ist das Vermögen der 62 reichsten Menschen der Welt um eine halbe Billion Dollar gewachsen.

Das wir mit einer expandierenden Ungleichheit konfrontiert sind, die nicht nur Quelle für viele konflikthafte Zuspitzungen ist – bis hin zu den anschwellenden Flüchtlingsbewegungen -, sondern selbst in den Kerninstitutionen des kapitalistischen Systems zunehmend mit Besorgnis gesehen wird, weil sie sich negativ auswirkt auf dort hoch relevante Parameter wie beispielsweise das Wirtschaftswachstum, verdeutlicht dieses Zitat:

»… auch die Wirtschaftskraft der Staaten leidet. Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist die Wirtschaft in 19 Staaten zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte weniger gewachsen, als das bei unveränderter Ungleichheit der Fall gewesen wäre. OECD-Generalsekretär Angel Gurría spricht bereits von einem Wendepunkt: „Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute“, sagt er.«

Was treibt diese Entwicklung an? Oxfam erläutert dazu:

»Ein Grund für diese Entwicklung ist die unzureichende Besteuerung von großen Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen. Investitionen von Unternehmen in Steuerparadiesen haben sich zwischen 2000 und 2014 vervierfacht. Neun von zehn der weltweit führenden Großunternehmen haben Präsenzen in mindestens einer Steueroase. Entwicklungsländern gehen auf diese Weise jedes Jahr mindestens 100 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen verloren.
Alleine die afrikanischen Staaten kostet es jährlich rund 14 Milliarden US-Dollar, dass reiche Einzelpersonen ihr Vermögen in Steueroasen verschieben. Mit dem Geld ließe sich in Afrika flächendeckend die Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder sicherstellen, was pro Jahr rund vier Millionen Kindern das Leben retten würde.«

Den Trend umzukehren, sei nicht aussichtslos, aber es werde „sehr schwierig“, so Oxfam-Chefin Winnie Byanyima. Die Organisation fordert die Eindämmung von Steueroasen und die stärkere Besteuerung hoher Einkommen.

Und ist das alles auch ein Problem für Deutschland? Dazu Oxfam im Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen:

»Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist in Deutschland die Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen besonders hoch und in den vergangenen Jahrzehnten massiv angestiegen.«

Es werden drei Hauptargumente für diese Bewertung vorgetragen:

  • Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen mindestens 63 Prozent des Gesamtvermögens. Der größte Anteil dieser Vermögensungleichheit geht auf Erbschaften und Schenkungen zurück.
  • Deutschland weist die höchste Vermögensungleichheit in der Eurozone auf.
  • Die Lohnspreizung hat in Deutschland seit dem Jahr 2000 erheblich zugenommen. Die Löhne der ärmsten zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Vollzeit-Beschäftigten sind inflationsbereinigt zwischen 2000 und 2005 um zwei Prozent gesunken und zwischen 2005 und 2010 um weitere sechs Prozent. Die reichsten zehn Prozent in der Einkommensskala haben dagegen enorm hinzugewonnen.

Auch der Verteilungsbericht 2015 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) kommt nach Auswertung der verfügbaren Daten zur Einkommensungleichheit zu Befunden, die skeptisch stimmen müssen:

»Deutschland … erlebt seit einigen Jahren einen deutlichen konjunkturellen Aufschwung. Die Erwerbstätigkeit ist auf Rekordniveau und auch die Reallöhne sind zuletzt angestiegen. Dennoch … geht die Einkommensungleichheit nicht zurück. Sie ist vielmehr am aktuellen Rand wieder leicht angestiegen. Gleichzeitig werden Armuts- und Reichtums- positionen immer dauerhafter.« (S. 2)

In ihrem Fazit schreiben die Wissenschaftler des WSI:

»Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen, während viele Arme auch von einem länger andauernden wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitieren können. Die Einkommensverteilung ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich undurchlässiger geworden – und mit ihr hat sich auch die Chancengleichheit verringert. Gleichzeitig steigt der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen und damit die Bedeutung von privaten Vermögen bzw. Renditen und Kapitalgewinnen. Europaweit hat Deutschland die höchste Vermögensungleichheit … Zudem sind Vermögenseinkommen deutlich unabhängiger von der konjunkturellen Entwicklung als dies bei den Erwerbseinkommen der Fall ist. Wenn die Bedeutung von Erwerbseinkommen abnimmt – am oberen Ende zugunsten von Vermö- genseinkommen, am unteren zugunsten staatlicher Transferzahlungen – verstärkt das die Entkoppelungstendenz zusätzlich.« (S. 13)

Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber … Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren „System“, in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte „Ordnung“ sorgt

Eigentlich müsste man, aber … Das Muster kennt man von vielen sozialpolitischen Baustellen. Vor wenigen Tagen wurde hier berichtet: Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden. Da ging es um die Tatsache, dass eigentlich eine Neuberechnung der Hartz IV-Leistungen erforderlich ist angesichts der Tatsache, dass die neuen Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 mittlerweile vorliegen und die bisherigen Leistungen noch auf der Datengrundlage der EVS 2008 bemessen worden sind, so dass eine Anpassung erfolgen müsste, wenn der Gesetzgeber seine eigene Vorschrift im § 28 SGB XII „Ermittlung der Regelbedarfe“ umsetzen würde. Will er auch, aber eben nicht so schnell: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können die Hartz IV-Empfänger erst Anfang 2017 rechnen, denn – so das Bundesarbeitsministerium –  zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben. Bloß nichts überstürzen. Das an sich ist schon mehr als kritikwürdig.

Nunmehr erreicht uns eine weitere Hiobsbotschaft für die eigentlich erforderliche sorgfältige Systematik bei der Bestimmung der Leistungen, mit denen immerhin das „soziokulturelle Existenzminimum“ abgesichert werden soll: Nahles wegen Hartz-IV-Berechnung in der Kritik, so beispielsweise Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles lässt die Hartz-IV-Sätze nach einem Modell berechnen, dass schon Vorgängerin Ursula von der Leyen verwendete. Diese Berechnungsmethode hatte Nahles vor Jahren heftig kritisiert. Neben der Tatsache, dass wir wieder einmal Zeuge werden müssen, dass das Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ offensichtlich eine Konstante im politischen Geschäft ist, geht es hier um das „Eingemachte“ im Grundsicherungssystem.

Zum besseren Verständnis muss man etwas zurückblicken. Dazu Thomas Öchsner in seinem Artikel: Als die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) 2010 die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen ließ, warfen ihr die Kritiker vor, getrickst zu haben, um Geld zu sparen. »Ihre Nachfolgerin Andrea Nahles, damals in der Opposition, war ebenfalls empört. Von der Leyen, sagte die SPD-Politikerin, habe die Hartz-IV-Sätze „künstlich heruntergerechnet“. Nun muss Nahles selbst neu rechnen lassen – und orientiert sich dabei an den von ihr heftig kritisierten Vorgaben der Vorgängerin.« Worum geht es genau?

Bei der Berechnung kommt es entscheidend darauf an, welche Vergleichsgruppe der nach Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte herangezogen wird.

»Von der Leyen geriet in die Kritik, weil sie die einkommensschwächsten 15 Prozent heranzog, um den Hartz-IV-Satz für Alleinstehende zu ermitteln . Zuvor hatten die unteren 20 Prozent als Basis gedient. Ein finanziell gewichtiger Unterschied, da die Gruppe der unteren 15 Prozent ein geringeres Einkommen hat als die unteren 20 Prozent der Haushalte.«

Aus der Vergleichsgruppe der einkommensschwächsten 15 Prozent der Haushalte rechnete das Ministerium die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger selbst heraus, um sogenannte Zirkelschlüsse zu vermeiden. So weit, so richtig, aber: Auch die „Aufstocker“ hätte man heraus nehmen müssen, so die Kritiker, also Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich erwerbstätig sind und so wenig verdienen, dass sie aufstockenden Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und dann gab (und gibt) es noch die so genannten „verdeckt Armen“, also Menschen, die eigentlich Anspruch hätten auf SGB II-Leistungen, diese aber nicht in Anspruch nehmen (vgl. dazu grundsätzlich die Studie vor Irene Becker, Verdeckte Armut in Deutschland. Ausmaß und Ursachen, aus dem Jahr 2007). Immer noch (und für den „Kostenträger“: Gott sei Dank) keine kleine Gruppe. Die hätte man auch herausfiltern müssen. Hat man aber nicht.

In einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag, aus der Öchsner zitiert, »kündigt das Arbeitsministerium nun an, es bei der Referenzgruppe für Alleinlebende bei den „unteren 15 Prozent“ zu belassen. Auch werde man daraus nur Haushalte herausrechnen, „die über kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen“. Die Aufstocker bleiben also drin, genauso wie die verdeckt Armen.«

Schon 2010 hätte der Regelsatz im Hartz IV-System um mindestens 30 Euro höher liegen müssen, wenn man der eigentlich gebotenen Berechnungslogik gefolgt wäre.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, verlangt von Nahles, „zu einer seriösen Herleitung der Regelsätze zurückzukehren“. Auch der Caritasverband spricht sich dafür aus, wieder die unteren 20 Prozent der Haushalte heranzuziehen und sich nicht von fiskalischen „Überlegungen zur Ausgabenbegrenzung“ leiten zu lassen.

Aber daraus wird – jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Dinge – nichts. Es wird wieder ein zu geringer Betrag herauskommen und das dann auch noch aufgrund der bereits erwähnten Verschiebetaktik viel zu spät.

Wir reden hier bekanntlich nicht von üppigen Beträgen, ganz im Gegenteil, es gibt zahlreiche Kritiker, die die gegebene Höhe des Hartz IV-Regelsatzes – also bei alleinstehenden Personen derzeit noch 399 Euro, ab dem neuen Jahre dann fünf Euro mehr – für eindeutig zu niedrig klassifizieren. Vgl. dazu beispielsweise Irene Becker, Bedarfsbemessung bei Hartz IV. Zur Ableitung von Regelleistungen auf der Basis des „Hartz-IV-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts, eine Expertise aus dem Jahr 2010, aus diesem Jahr auch Anne Lenze, Regelleistung und gesellschaftliche Teilhabe, sowie den Artikel Die Kosten für ein menschenwürdiges Leben.

»Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab«, so Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum aus dem Januar 2015. Bis in die 1980er Jahre wurde das Existenzminimum nach der „Warenkorb“-Methode ermittelt. Der Warenkorb geriet in Verruf – auch weil er zwischen 1976 und 1986 einfach mal zehn Jahre nicht aktualisiert wurde. Aber die neue, heute gängige Methode hat offensichtlich auch ihre Tücken.

Gewissermaßen an der alten Methode setzen Fundamental-Kritiker der gegenwärtigen Bestimmung der Regelleistungen im Hartz IV-System an – und sie bilden damit das obere Ende des Antwortspektrums ab, wie hoch denn der Regelsatz sein müsste/sollte. Diese Frage wird sicher unweigerlich von vielen aufgerufen werden. So wird derzeit beispielsweise aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände statt der 399 Euro pro Monat ein Regelsatz von 485 Euro gefordert. Aus der Perspektive der Fundamental-Kritiker ist auch das noch viel zu wenig.
Erst 730 Euro Hartz-IV-Satz decken das soziokulturelle Existenzminimum, so ist ein Interview mit einem ausgewiesenen Vertreter dieser Richtung überschrieben: Lutz Hausstein.
Der versucht schon seit Jahren eine ganz eigene Art der Ermittlung dessen, was die Menschen bräuchten. Die neuste Ausgabe seiner Berechnungen:

Lutz Haustein: Was der Mensch braucht. Empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten. Stand: Mai 2015

Was kritisiert Hausstein?

»Viele Menschen können sich unter den Bedingungen von Hartz IV auch einfachste Selbstverständlichkeiten nicht mehr leisten, weil sie zu wenig Geld zur Verfügung haben.
350.000 Haushalten wurde 2013 etwa der Strom abgeschaltet, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten. Und 1,5 Millionen Menschen müssen jede Woche den für sie demütigenden Weg zu einer Lebensmitteltafel antreten, weil ihr Geld nicht fürs Essen reicht.«

Ihn bewegen die vielen demütigenden Umstände, viele zwangsweise Verzichte auf einfache Dinge, die für jeden anderen in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sind. Und dann geht es gegen die amtliche Berechnungsmethodik. Sein zentraler Ansatzpunkt dagegen:

»Immer wieder wird durch Politiker gegenüber der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, dass damit der Bedarf ermittelt würde. Doch eben dies ist überhaupt nicht Inhalt der Statistik-Methode auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), … Mithilfe der … Statistikmethode wird nur das Ausgabeverhalten eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils ermittelt, der aufgrund seines eigenen, sehr niedrigen Einkommens auch nur wenig Geld zur Verfügung hat. Mit einer Bedarfs- Ermittlung hat dies jedoch nichts zu tun.«

Und er bringt seine Kritik an diesem methodischen Ansatz mit einem Bild auf den Punkt:

»Ich vergleiche das gern mit der absurden Situation, wenn sich jemand mit einem Digitalthermometer an die Autobahn stellen würde, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos zu messen. Das Thermometer liefert absolut exakte Daten, sogar bis auf die zweite Kommastelle genau. Wenn man diese Zahlen nun allerdings öffentlich als gemessene Geschwindigkeiten bezeichnen würde, wäre das Gelächter riesengroß. Zurecht. Wenn allerdings die Ausgaben eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils, der selbst bereits Mangel leidet, als „Bedarf“ einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe dargestellt werden, herrscht andächtige Stille.«

Hausstein outet sich als Anhänger der Warenkorb-Methode: »Die benutzte Aufstellung eines Warenkorbs ist ja nun keineswegs eine Erfindung von mir. Denn von 1955 bis 1990 wurden schon mithilfe des Warenkorbmodels soziale Sicherungsleistungen berechnet.«

Um seine eigene, subjektive Wahrnehmung zu reduzieren, wurde jede einzelne Bedarfsposition in seiner Studie zudem von mehreren, unabhängigen Personen auf Plausibilität überprüft, um somit am Ende zu größtmöglicher Objektivität zu gelangen.
Das Ergebnis seiner Berechnungen:

»Um unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Voraussetzungen mit einem Minimum an Lebensstandard leben zu können, werden rund 730 Euro monatlich benötigt. Zuzüglich der regional erheblich differierenden Wohnkosten.
Der aktuell gültige Betrag von 399 Euro hingegen reicht gerade einmal knapp dafür aus, die grundlegenden, physischen Lebensbedürfnisse abzudecken. Eine soziokulturelle Teilhabe ist damit jedoch keinesfalls möglich oder muss durch einen Verzicht physischer Notwendigkeiten schmerzhaft „gegenfinanziert“ werden.«

Nun haben wir also – ausgehend von en derzeit 399 Euro Regelsatz – das Spektrum dessen aufgemacht, dass von den Kritikern als erstrebenswert ausweisen wird: Es bewegt sich zwischen 485 Euro und 790 Euro, wohlgemerkt: Zuzüglich der zu übernehmenden angemessenen Wohnkosten.

Womit wir übrigens bei einer weiteren Problembaustelle des Grundsicherungssystem angekommen wären, die hier zumindest erwähnt werden soll: Die („angemessenen“) Kosten der Unterkunft, die übernommen werden müssen. Die Frage der „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten ist ein leidiges Streitthema und Gegenstand vieler sozialgerichtlicher Verfahren. Denn viele Jobcenter weigern sich, bestimmte Miethöhen voll zu übernehmen und verweisen auf die Nicht-Angemessenheit. Mit gravierenden Folgen: Hartz-IV-Empfänger zahlen bei Miete mit, so hat Stefan Vetter seinen Artikel in der Saarbrücker Zeitung überschrieben. Das Problem: »399 Euro bekommt ein Hartz-IV-Empfänger, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch oft müssen sie davon auch einen Anteil an ihren Mietkosten zahlen.« Damit verschärft sich natürlich das bereits verhandelte Grundproblem, dass die 399 Euro an sich schon zu niedrig angesetzt sind. Jetzt wird davon also noch was abgezogen für einen anderen Bereich. Und es handelt sich hier nicht um Peanuts: »Nach einer Datenübersicht der Bundesagentur für Arbeit … mussten die Bedarfsgemeinschaften im vergangenen Jahr rund 620 Millionen Euro aus ihren Regelleistungen für die Unterbringung beisteuern … Den Daten zufolge fehlen einem Hartz-IV-Haushalt damit im Schnitt rund 16,50 Euro im Monat beziehungsweise 197 Euro im Jahr für anderweitige Ausgaben.«

Durch  zu niedrige Angemessenheitsgrenzen spart der Staat auf Kosten der Betroffenen, die sich zum Beispiel beim Essen oder ihrer Mobilität einschränken müssen, um das gegenfinanzieren zu können.
Und auch in einem anderen Bereich haben die Grundsicherungsempfänger echte Probleme – bei den Stromkosten von Hartz-IV-Haushalten, die, anders als Miete und Heizkosten, nicht als sogenannte Kosten der Unterkunft gesondert gezahlt werden. »Bislang ist der Stromverbrauch Teil des Regelsatzes, aus dem auch Essen und Kleidung bezahlt werden muss. Aufgrund der gestiegenen Preise gilt als sicher, dass der im Hartz-IV-Satz eingerechnete Anteil für Strom längst nicht mehr ausreicht und die Stromrechnung zulasten anderer Ausgabenpositionen geht«, so Axel Fick in seinem Artikel Neue Hartz-IV-Sätze erst Ende 2016.

Bleibt natürlich die Frage, warum der Gesetzgeber so einen Widerstand und so eine Verzögerungstaktik an den Tag legt, wenn es um eine systematisch eigentlich gebotene Anpassung der Regelleistungen nach oben geht. Die nicht wirklich überraschende Antwort lautet natürlich: wegen der Kosten, die damit verbunden sind. Und das in mehrfacher Hinsicht.

  • Die Höhe der Regelleistungen im Grundsicherungssystem hat Auswirkungen auf den Grundfreibetrag im Einkommenssteuerrecht, der sich daran orientiert – und jede Anhebung führt zu milliardenschweren Steuerausfällen. Das ist eine der wichtigsten Bremsen innerhalb des gegebenen Systems.
  • Eine Anhebung hätte natürlich entsprechende Auswirkungen in der Grundsicherung für Ältere nach dem SGB XII. Angesichts der stark steigenden Altersarmut würden damit die aufstockenden Leistungen entsprechend ansteigen müssen.
  • Eine mögliche Anhebung hätte natürlich auch Folgen für den „Lohnabstand“ bei den unteren Einkommensgruppen, der entsprechend verkleinert würde mit der unmittelbaren Folge, dass die Zahl der Aufstocker bei den Niedrigeinkommensbeziehern steigen würde.
  • Und insgesamt ist mit der Frage der konkreten Leistungshöhe aus Sicht der verantwortlichen Politiker natürlich auch immer verbunden die Frage der gesellschaftlichen Legitimation – einmal gegenüber denjenigen, die mit ihren Steuern diese Leistungen finanzieren müssen, zugleich aber auch hinsichtlich der Signalfunktion an die Leistungsempfänger, sich nicht in dem Sicherungssystem einzurichten, sondern auch bereit zu sein, schlecht bezahlte Erwerbsarbeit aufzunehmen.

Wenn man diese Aspekte aufaddiert, dann wird verständlich, warum es so massive Widerstände gegen eine an sich gebotenen Anhebung der Leistungen gibt. Das ändert aber gar nichts an der Notwendigkeit einer sachlichen Diskussion über die Angemessenheit der Grundsicherungsleistungen.