Wie ein Stück Fleisch. Tagelöhner, die sich auf dem Arbeiterstrich verkaufen und obdachlos sind. In München

Wir schreiben das Jahr 2006. Der SPIEGEL veröffentlicht einen Artikel mit dem Titel Wie ein Stück Fleisch von Markus Deggerich. Darin beschreibt er diese Szene vom Arbeiterstrich: »Meistens steigen sie nicht mal aus. Sie bremsen, mustern mit kalten Blicken in der Morgendämmerung die Wartenden am Straßenrand. Und wenn ihnen gefällt, was sie sehen, lassen sie langsam die Fensterscheibe runter und beginnen grußlos die Preisverhandlungen. Ein Tag, 50 Euro, bar auf die Hand, sagt der Fahrer im blauen Golf: „Nur für echte Kerle“, fügt er hinzu. 50 Euro sind viel Geld. Torsten Berne, 47, hebt die Hand und nickt. Und die sechs anderen Männer neben ihm auch. Einer ruft in gebrochenem Deutsch noch dazwischen „50 Euro für zwei Mann“. Aber der Golf-Fahrer entscheidet sich für Berne. Vielleicht, weil sich so starke Oberarme unter dem löchrigen Blaumann abzeichnen. Vielleicht, weil er Deutsch spricht.« Ein Beispiel von den Discount-Anbietern der Ware Arbeitskraft, damals eingefangen auf einem der „Abholmärkte für Arbeiter“, auf einem Parkplatz vor dem Treptower Park im Südosten Berlins. Und schon damals, im Jahr 2006, war klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt: »Auf 80.000 schätzen die Gewerkschaften die Zahl der Tagelöhner in Deutschland. Doch erfasst sind damit nur die „Sichtbaren“, wie die Statistiker erklären, jene, die sich legal mit Personalausweis und Steuerkarte bei den offiziellen Vermittlungsstellen der Arbeitsagenturen für Tagesjobs melden. Daneben gibt es noch das Heer der „Unsichtbaren“: die, ähnlich wie früher, am Arbeiterstrich stehen oder – immer öfter – sich über das Internet andienen.«
Das war vor zehn Jahren. Aber 2016?

Wir schreiben den 1. März des Jahres 2016 und man muss so eine Meldung aus München zur Kenntnis nehmen: Obdachlose Tagelöhner demonstrieren vor dem Rathaus. Aus einer so reichen, wohlhabenden Stadt, aber eben nicht für alle. Auch – und vielleicht gerade? – hier blüht der Handel mit der menschlichen Arbeitskraft aus den Kelleretagen unserer Arbeitsgesellschaft. Was ist los in München?
Inga Rahmsdorf berichtet in ihrem Artikel von Ahmed Maksud, der seit mehr als vier Jahren in München lebt.

»Er hat auf Baustellen gearbeitet und für Reinigungsfirmen, manchmal hat er seinen Lohn erhalten und manchmal nicht. Einen Arbeitsvertrag hat er fast nie bekommen. Seine Frau und seine drei Töchter wohnen in Bulgarien. Nachts schläft er in einem großen Raum der Bayernkaserne, wo die Stadt den Winter über im Kälteschutzprogramm für Menschen wie Maksud Schlafplätze zur Verfügung stellt.
Im Sommer übernachtet er auf der Straße, in Hauseingängen oder unter Büschen. Es sei schwer, ohne seine Familie zu leben, sagt er. Aber das Leben in Bulgarien ohne Arbeit und ohne Perspektive sei noch miserabler gewesen. Maksud ist EU-Bürger, er darf legal hier arbeiten, aber meist findet er nur Jobs in Schwarzarbeit.«

Ahmed Maksud steckt in einem Teufelskreis fest: »Ohne festen Arbeitsvertrag hat er in München so gut wie keine Chance auf eine Wohnung. Ohne Wohnung kann er sich nicht anmelden. Und ohne Anmeldung hat er auch keine Möglichkeit, ganzjährig einen Platz in einer Notquartier für Wohnungslose zu erhalten.«

Und weil er darin feststeckt, hat er an der Demonstration in der Schillerstraße in München teilgenommen, wo auch das Beratungszentrum für wohnungslose Migranten ist. 50 Demonstranten, überwiegend bulgarische Arbeiter, ziehen durch das Bahnhofsviertel, über den Rindermarkt bis vor das Rathaus. Die EU-Migranten wollen auf ihre Situation aufmerksam machen, ihre Kritik richtet sich dabei vor allem an die Stadt München.

Die Demonstration ist der Auftakt einer Kampagne, die EU-Migranten gemeinsam mit Initiativen organisiert haben. »Sie fordern, dass die Migranten ganztägig und ganzjährig an dem Programm für Wohnungslose teilnehmen können und dass sie sich auch ohne Wohnsitz in München anmelden können.«

Und das in einer Stadt, die wächst, wo Wohnraum knapp und teuer ist. Die offiziellen Zahlen sprechen ihre eigene Sprache:

»Derzeit geht die Stadt von insgesamt etwa 5400 wohnungslosen Menschen aus, 4600 von ihnen sind in Notquartieren, Pensionen, Clearinghäusern und Unterkünften von Wohlfahrtsverbänden untergebracht. Hinzu kommen etwa 200 bis 270 Flüchtlinge, die, obwohl sie anerkannt sind, noch in Gemeinschaftsunterkünften leben, weil sie keine Wohnung finden. Und weitere 550 Menschen leben auf der Straße, wobei das nur eine geschätzte Zahl ist.«

Um Wohnungslosenhilfe zu erhalten, muss man nicht nur nachweisen, dass man sonst nirgendwo einen Wohnsitz hat, sondern auch glaubhaft machen, dass man aus eigenen Mitteln und trotz eigener Bemühungen keine Wohnung finden kann, beschreibt Rahmsdorf in ihrem Artikel ein veritables Zugangsproblem für die betroffenen Menschen.

Schon im vergangenen Jahr gab es Berichte über den Umgang mit den Tagelöhnern in München – man könnte sich ja vorstellen, dass diesen Menschen, die nun wirklich ganz unten gelandet sind, besondere Hilfe zukommen lässt. Aber offensichtlich gibt es auch andere Varianten, wenn man diesem Artikel folgt: Stadt bezahlt Sicherheitsdienst gegen Tagelöhner:

»Tagelöhner sollen nicht an Häuserwänden lehnen oder in Hofeingängen herumstehen: Einige Geschäftsleute im Münchner Bahnhofsviertel fühlen sich durch ihre Anwesenheit massiv gestört und haben deshalb einen privaten Sicherheitsdienst engagiert. Nun übernimmt die Stadt einen Großteil der Kosten – bis zu 20 000 Euro jährlich, so hat es der Wirtschaftsausschuss einstimmig beschlossen.«

Einer dieser klassischen Konflikte: Die Geschäftsleute fühlen sich vor Ort belästigt und haben Angst, dass Kunden wegbleiben: „Die Kreuzung sowie anliegende Gebäude und Ladengeschäfte werden mittlerweile regelmäßig belagert von stetig wachsenden Mengen von Arbeitern“, so wurde es schon in einer Petition aus dem Jahr 2013 vorgetragen.

Und die andere Perspektive kann mit diesen Zeilen angerissen werden: »In den geregelten Münchner Arbeitsmarkt zu kommen, ist für die Männer und Frauen schwer, viele haben nicht einmal eine Bleibe und schlafen im Sommer in Parks oder in Hofeinfahrten. „Und dann kommt die Polizei und verhaftet uns“, sagt ein anderer, der seit vier Monaten in München ist. „Wir werden hier behandelt wie Straßenköter.“«

Aber auch das ist München: Man hatte damals nicht nur den hier angesprochenen Beschluss gefasst, den Sicherheitsdienst gegen die Tagelöhner mitzufinanzieren, sondern auch, dass von den Arbeitern und von Sozialverbänden seit langem geforderte Beratungscafé einzurichten. Aber beides ist ein verzweifeltes Abarbeiten an den Symptomen einer grundsätzlichen Problematik.

Man sollte die vielen vorliegenden Berichte aus der Schattenwelt des Arbeitsmarktes in unserem Land sorgfältig zur Kenntnis nehmen – und sie sollten zu Konsequenzen führen, für die, die von diesen Zuständen profitieren. Dazu beispielsweise – wieder mit Blick auf München – der Artikel Schuften zum Hungerlohn aus dem Sommer des vergangenen Jahres. Allein die Kurzfassung lässt einen erschaudern über die Zustände: »Für teilweise nur 68 Cent pro Stunde haben acht Rumänen anscheinend auf einer … Baustelle gearbeitet. Auch dieser spärliche Lohn sei ihnen teilweise nicht ausbezahlt worden. Jetzt werden die Arbeiter von der Tafel versorgt. Der Zoll ermittelt.«

Wir haben ein echtes Problem in der Schattenwelt der Arbeitsprostitution und der Staat hätte die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, für eine flächendeckende Inspektion zu sorgen, eine Arbeit, wie sie von einzelnen Initiativen oder dem DGB-Projekt Faire Mobilität hier und da gleistet wird, auf breite und verlässliche Füße zu stellen. Denn dabei muss es auch darum gehen, die Betroffenen nicht nur als schützenswerte Subjekte zum Gegenstand hilfreichen Handelns zu machen, sondern ihnen Unterstützung zu geben, sich selbst – mit anderen – zu wehren, Nein sagen zu können.

Jeder Mensch, der heute schon in diesen Kelleretagen unterwegs sein muss, ist einer zu viel. Aber was glaubt man eigentlich, was in diesem Schattenreich passieren wird, wenn nur einige der vielen Flüchtlinge keine Perspektive bekommen, irgendwo legal arbeiten zu können bzw. zu dürfen?

Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber: Der EuGH gegen Sozialleistungen für EU-Bürger in anderen EU-Staaten, das BSG teilweise dafür, andere Sozialgerichte gegen das BSG

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) schützt die Mitgliedsstaaten vor Sozialleistungsansprüchen von EU-Bürgern, das Bundessozialgericht (BSG) dagegen will die Zuwanderer aus der EU in Deutschland schützen – jedenfalls nach einigen Monate. Einige Landessozialgerichte wollen dem BSG nicht folgen. Die Kommunen haben Angst vor zusätzlichen Kosten und die Bundessozialministerin Andrea Nahles kündigt sogleich an, das Gesetz zu ändern, um dem BSG Einhalt zu gebieten (vgl. dazu beispielsweise Sozialhilfe für Ausländer „mit Hochdruck“ beschränken) . Alles klar?

Das hört sich nicht nur kompliziert an. Es ist richtig kompliziert, mit Versatzstücken einer verkehrten Welt, gemischt mit unterschiedlichen Sichtweisen auf Grundrechte innerhalb der EU und handfesten Ängsten angesichts möglicher Folgen möglicher Leistungsgewährung in den Aufnahmeländern. Und wieder einmal ist das jetzt ein Thema der europäischen Rechtsprechung, von der wir hinsichtlich der Frage, wie es denn so ist bzw. sein soll bei der Gewährung von Sozialleistungen an EU-Bürger, die in ein anderes als ihr EU-Heimatland gewandert sind, in den zurückliegenden Monaten schon so einige höchstrichterliche Entscheidungen serviert bekommen haben. Dabei ist die neue Entscheidung des EuGH eigentlich nicht wirklich eine mit Neuigkeitswert: »Wer aus einem EU-Land nach Deutschland zieht, hat in den ersten drei Monaten keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Der Europäische Gerichtshof entschied jetzt gegen eine spanische Familie – und blieb auf seiner bisherigen Linie«, kann man dem Artikel Deutschland darf Ausländern anfangs Hartz IV verweigern entnehmen.

»Konkret ging es um den Fall der spanischen Familie Garcia-Nieto, die 2012 nach Recklinghausen zog. Zuerst kam im April die Mutter und eine Tochter. Als die Mutter im Juni Arbeit als Küchenhilfe gefunden hatte, zog der Vater mit einem Sohn nach. Der Vater beantragte Grundsicherung zur Arbeitssuche (Hartz IV), doch das Jobcenter Recklinghausen lehnte dies ab.

Es berief sich auf eine Ausschlussklausel im deutschen Sozialgesetzbuch II, wonach Ausländer „für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts“ keinen Anspruch auf Hartz IV haben (Paragraf 7 Abs. 1)«, berichtet Christian Rath in seinem Artikel Drei Monate ohne Hartz IV sind okay. Während das Sozialgericht Gelsenkirchen in der ersten Instanz dem Begehren des Herrn Garcia-Nieto folgte, war das Landessozialgericht unschlüssig und legte dem EuGH den Fall vor. Konkret fragte die zweite Instanz ganz oben nach, ob die deutsche Ausschlussklausel mit EU-Recht vereinbar ist.

Mit Ausschlussklausel ist der § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II gemeint. Danach haben »Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts« keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen.

Christian Rath berichtet über die Beschlussfassung des EuGH: »Der EuGH hatte nun keine Einwände gegen den deutschen Leistungsausschluss. Zwar seien EU-Bürger im Sozialrecht grundsätzlich gleichzubehandeln. Doch schon die Unionsbürger-Richtlinie der EU von 2004 sehe ausdrückliche Ausnahmen vor. So ist ein EU-Staat nicht verpflichtet, EU-Bürgern „während den ersten drei Monaten des Aufenthalts“ Sozialhilfe zu gewähren (Art. 24 Abs. 2). Auch Hartz IV sei eine Form von „Sozialhilfe“. Dieser Ausschluss sei die Kehrseite der von der EU gewährten Freizügigkeit. Danach kann sich jeder EU-Bürger drei Monate lang in einem anderen EU-Staat aufhalten, ohne irgendwelche Formalitäten erledigen zu müssen. Der gleichzeitige Ausschluss von Sozialleistungen sichere das „finanzielle Gleichgewicht“ der Sozialsysteme. Eine Einzelfallprüfung sei nicht erforderlich, so der EuGH, auch nicht bei einem Familiennachzug.«

Diese Entscheidung des EuGH kommt nicht wirklich überraschend. Zum Verständnis dieser Einordnung sei an zwei wichtige Urteile des EuGH aus der jüngsten Vergangenheit erinnert:

➔ Im November 2014 hatte der EuGH im Fall einer arbeitslosen Rumänin, die keine Arbeit suchte, die Verweigerung von Hartz IV akzeptiert (Fall Dano). Vgl. dazu den Blog-Beitrag Aufatmen bei vielen verbunden mit der Gefahr einer Überbewertung. Der Europäische Gerichtshof und seine Entscheidungen. Diesmal hat man sich einer jungen Rumänin in Leipzig angenommen vom 11. November 2014.

➔ Im September 2015 ging es dann beim Fall Alimanovic um eine andere Konstellation – und die war dem EuGH vom BSG vorgelegt worden: »In der vorliegenden Rechtssache möchte das Bundessozialgericht (Deutschland) wissen, ob ein derartiger Ausschluss auch bei Unionsbürgern zulässig ist, die sich zur Arbeitsuche in einen Aufnahmemitgliedstaat begeben haben und dort schon eine gewisse Zeit gearbeitet haben, wenn Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.« Die Entscheidung des EuGH war für den einen oder anderen überraschend deutlich: Die Weigerung, Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedstaat sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, Sozialhilfe zu gewähren, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Diese Entscheidung ist bei denen einen sicher mit Erleichterung aufgenommen worden, in der Fachdiskussion gab es aber nachfolgend durchaus auch sehr kritische Bewertungen – vgl. stellvertretend dafür den Blog-Beitrag Der Umbau der europäischen Sozialbürgerschaft: Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Alimanovic von Anuscheh Farahat, Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg sowie die detailreiche Besprechung der EuGH-Entscheidung in dem Artikel Deutsch­land darf mittel­lose EU-Bürger von Sozial­hilfe ausschließen von Constanze Janda. Vgl. insgesamt zum Fall Alimanovic auch den Blog-Beitrag Ist das alles kompliziert. Der EuGH über die Zulässigkeit der Nicht-Gewährung von Sozialleistungen für einen Teil der arbeitsuchenden EU-Bürger vom 15. September 2015.

In dem Blog-Beitrag vom 15.09.2016 – ich kann nichts für die nun erneut aufzurufenden Untiefen der Rechtsprechung – wurde eine eigenartige Welt unterschiedliche Fristen vorgestellt, die uns die EuGH-Richter entworfen haben.
Denn der EuGH führt in seiner damaligen Entscheidung (Urteil in der Rechtssache C-67/14 Jobcenter Berlin Neukölln / Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic) aus:»Für Arbeitsuchende … gibt es … zwei Möglichkeiten, um ein Aufenthaltsrecht zu erlangen:
Ist ein Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht als Erwerbstätiger zustand, unfreiwillig arbeitslos geworden, nachdem er weniger als ein Jahr gearbeitet hatte, und stellt er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung, behält er seine Erwerbstätigeneigenschaft und sein Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate. Während dieses gesamten Zeitraums kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen und hat Anspruch auf Sozialhilfeleistungen.
Wenn ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat noch nicht gearbeitet hat oder wenn der Zeitraum von sechs Monaten abgelaufen ist, darf ein Arbeitsuchender nicht aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden. In diesem Fall darf der Aufnahmemitgliedstaat jedoch jegliche Sozialhilfeleistung verweigern.«

Alles klar? Das ist ja auch eine schwierige Materie, deshalb hier mein Versuch einer Kurzfassung, deren ultimative Kurzform 3-6-12 lautet:
Wenn jemand aus einem anderen Land einreist, um hier zu arbeiten bzw. Arbeit zu suchen, dann gilt1. eine Drei-Monats-Frist: In den ersten drei Monaten nach der Einreise müssen die Staaten keine Sozialleistungen zahlen;
2. eine Sechs-Monats-Frist für die Fälle, wo jemand im Einreiseland weniger als zwölf Monate gearbeitet hat, also er oder sie bekommt sechs Monate lang Sozialleistungen, danach aber nicht mehr, wenn bis dahin keine neue Arbeit gefunden wurde, ohne dass er oder sie deswegen ausgewiesen werden darf, sowie
3. eine 12-Monats-Frist, die zu einer weitgehenden Gleichstellung mit den Inländern führt, wenn man länger als ein Jahr ohne Unterbrechungen hier gearbeitet hat.

Während der Fall Alimanovic als den Punkt 2 betraf, ging es beim neuen Fall Garcia-Nieto um den Punkt 1, also die Drei-Monats-Frist.

Aber dann kam im Dezember 2015 auch noch ein echter Paukenschlag dazu – das BSG hatte in drei Urteilen unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums konkretisiert, in welchen Fallgestaltungen Unionsbürger aus den EU-Mitgliedstaaten existenzsichernde Leistungen nach dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beziehungsweise dem Sozialhilferecht (SGB XII) beanspruchen können.  Vgl. dazu den Blog-Beitrag Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die „Hartz IV“-Frage bei arbeitsuchenden „EU-Ausländern“ und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3. Dezember 2015.

Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das „Hartz IV“-System. Es fügt aber die Kategorie des „verfestigten Aufenthalts“ in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts – über sechs Monate – ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«

Diese Entscheidung hat die Kommunen geschockt, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII sind – anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen – kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren. Vgl. dazu den Beitrag Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6. Dezember 2015. Darin eine erste Bewertung der BSG-Entscheidung: »Man muss die ersten sechs Monate irgendwie überbrücken, dann hat man gute Aussichten auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII, die aber eigentlich für Nicht-Erwerbsfähige gedacht sind, weil für die anderen ja das SGB II zuständig ist. Also eigentlich. Macht das wirklich Sinn?«

Denn das ist der Punkt. Offensichtlich konnten und wollten sich die BSG-Richter nicht anfreunden mit dem eigenartigen Niemandsland nach den 6 Monaten, wenn man der Fristen-Logim des EuGH folgt, nach der man dann ja keinen Anspruch auf irgendwelchen Leistungen hat, aber auch nicht ausgewiesen werden darf. Das ist zumindest genau so fragwürdig wie die offensichtliche Bypass-Strategie des BSG, wenn man schon bei den SGB II-Leistungen nichts hinbekommt, dann doch wenigstens Sozialhilfeleistungen zu eröffnen, obgleich die eigentlich gerade nicht für erwerbsfähige Personen gilt.

Das BSG stößt mit diesem eigenwilligen Ansatz innerhalb der deutschen Sozialgerichtsbarkeit auf teilweise massive Widerstände. Ganz neu dazu beispielsweise das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 11.2.2016, L 3 AS 668/15 B ER):

»Erhalten erwerbsfähige Unionsbürger aufgrund eines gesetzlichen Ausschlusses kein Hartz IV, weil sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder sie kein Aufenthaltsrecht mehr haben, werden diese nach Auffassung des Landessozialgerichtes grundsätzlich im einstweiligen Rechtsschutz auch dann vom Bezug von Sozialhilfe ausgeschlossen, wenn sie sich bereits sechs Monate im Bundesgebiet aufgehalten haben.« So der Artikel Erwerbsfähige Unionsbürger: Kein Hartz IV- und Sozialhilfeanspruch vom 24.02.2016.

Damit wendet sich das LSG Rheinland-Pfalz vollständig ab von er Rechtsprechung des BSG:

»Angesichts des gesetzlich ausdrücklich geregelten Leistungsausschlusses für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, dem Sinn und Zweck der Regelung, einer „Einwanderung in die Sozialsysteme“ unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die die Freizügigkeit für EU-Bürger innerhalb des EU-Binnenmarktes bietet, entgegenzuwirken und der sich aus den Gesetzesmaterialien klar ergebenden Zielsetzung des Gesetzgebers, einen solchen Leistungsausschluss sicherzustellen, könne den Ermessensleistungen, sofern man sie überhaupt für anwendbar halte, in diesem Zusammenhang allenfalls ein Ausnahmecharakter beigemessen werden.«

Abschließend wieder zurück zur neuen Entscheidung des EuGH. Es gibt in den Medien auch kritische Stimmen dazu, beispielsweise die Kommentierungen Hartz IV nicht für EU-Ausländer: Oben-Europa von Uwe Kalbe oder Dann eben ohne Stütze von Christian Rath.

Auch Constanze Janda hat sich mit einem Artikel, Warten auf Hartz IV, zu Wort gemeldet:

»Im Gegensatz zu den Entscheidungen in den Rechtssachen Dano und Alimanovic erweist sich das heutige Urteil als unspektakulär – dass der EuGH Wartefristen billigen wird, galt in Fachkreisen als ausgemacht. Der Gerichtshof hat schon in seiner früheren Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, dass sich diese zur Vermeidung von „Sozialtourismus“ eignen und dem Nachweis dienen, dass der Antragsteller eine „tatsächliche Verbindung“ zu dem Staat aufweist, der ihm die Leistung gewähren soll … Klar ist, dass ein Kurzaufenthalt von weniger als drei Monaten noch keinen Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik nach sich zieht – anderenfalls würden Touristen, Durch- oder Geschäftsreisende Mitglieder der inländischen Solidargemeinschaft.«

Dann aber mit Blick auf den aktuellen Fall und dem abstrakten Verweis, dass die Betroffenen in den ersten drei Monaten ja in ihr Heimatland zurückkehren könnten: »Im Fall Garcia-Nieto hätte dies nämlich zur dauerhaften Trennung der Familie geführt, obwohl die Ehefrau im Inland sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Und zwar nur, weil ihr Einkommen zu gering war, um den Lebensunterhalt der gesamten Familie zu decken.«

Und Constanze Janda legt den Finger auf die nächste Wunde:

»Letztendlich spart der Leistungsausschluss im SGB II dem Sozialstaat nicht wirklich viel Geld, hat das BSG doch erst im Dezember 2015 festgestellt, dass sich – wenn schon nicht aus dem Europarecht – zumindest aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ein Anspruch auf Zugang zu den Leistungen der Sozialhilfe ergibt, wenn diese notwendig sind, um den Lebensbedarf zu sichern (Urt. v. 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R).«

Man kann auch noch eine weitere, grundsätzliche Perspektive aufmachen: Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie ist ein Kernbestandteil des für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich geltenden Unionsrechts. Jeder Unionsbürger hat hiernach die Möglichkeit, ungeachtet seines Wohnortes in jedem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, unter den gleichen Voraussetzungen eine Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben wie ein Angehöriger dieses Staates. Freizügigkeit ist also gegeben, wenn es keine auf der Nationalität beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung, die Beschäftigung, die Entlohnung und die sonstigen Arbeitsbedingungen gibt. Geregelt ist sie im Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie als Grundrecht in Artikel 15 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Danach könnte man versucht sein, die Ausgrenzungen, Abstufungen und Differenzierungen, mit denen sich die Urteile beschäftigen, grundsätzlich in Frage zu stellen – wenn man denn einen wirklichen europäischen Binnenmarkt hätte. Denn dann wäre tatsächlich der Punkt gegeben, dass eine ungestörte Wanderung der Arbeitskräfte – übrigens gerade in einem einheitlichen Währungsraum – Sinn macht, um unterschiedlichen Entwicklungen im gemeinsamen Wirtschaftsraum Rechnung zu tragen.

Aber so weit ist es noch nicht und angesichts des erheblichen Gefälles zwischen den EU-Staaten sowie der ganzen Fragilität der EU, die wir derzeit zur Kenntnis nehmen müssen, kann man durchaus berechtigt daran zweifeln.

Hinzu kommt, dass die Sozialleistungsniveaus zwischen den Mitgliedsstaaten wirklich enorm sind.

Wenn sich das noch viel zu abstrakt anhört, dann sei an dieser Stelle abschließend auf diesen Artikel verwiesen, der sich mit der konkreten Situation in Offenbach beschäftigt: „20 Leute in einer Wohnung – das ist auch in Rumänien nicht normal“. In diesem Artikel wird Matthias Schulze-Böing zitiert, der das kommunale Jobcenter und zugleich das Amt für Integration leitet, mit einem bemerkenswerten Satz: „Wir schaffen das Prekariat für das nächste Jahrzehnt.“ Der Artikel legt den Finger auf eine klaffende Wunde in Zeiten, in der alle über „die“ Flüchtlinge debattieren, aus fernen Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Eritrea, aber andere „vergessen“ werden: »Zuwanderer aus EU-Staaten, vor allem arme Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die jedes Jahr zu Zehntausenden nach Deutschland ziehen und ihr Glück suchen. Der Zuzug ist ungebrochen, er wird nur nicht mehr so wahrgenommen, allenfalls am Rande, wenn es um Kindergeld oder andere Sozialleistungen für sie geht.«

»Bezogen im Sommer 2012 noch knapp 500 Rumänen und Bulgaren Hartz-IV-Leistungen, sind es nun mehr als das Dreifache, etwa 1600. Für eine mittelgroße Stadt wie Offenbach sind das viele, Teil eines „Massenphänomens“, wie Schulze-Böing sagt.

Vor allem Menschen aus Bulgarien, mehr als tausend, sind am Jobcenter angelandet, während die Zahl der Rumänen stagniert. „Am schwierigsten sind eigentlich alle Fälle“, sagt Schwan, die bis vorigen Herbst Anträge auf Hartz-IV-Leistungen bearbeitet hat. Oft fehlt das Nötigste: Deutschkenntnisse, Berufsausbildung, ein Zimmer. „In der Regel sind es sehr arme Menschen, Männer aus der Bau- oder Reinigungsbranche“, sagt Schwan. Meist läuft es so: Die Familienväter kommen nach Deutschland, fangen an zu arbeiten, mieten eine Wohnung, holen ihre Familie nach und stellen den Antrag, weil der Lohn nicht für alle reicht. Oft liegt der nur bei 500 bis 800 Euro im Monat, sagt Schwan. Denn dubiose Firmen wissen die Lage auszunutzen: Da ist in den Arbeitsverträgen von 20 bis 30 Wochenstunden die Rede, die seltsamerweise nicht ausgeschöpft werden, Zimmer zu Wucherpreisen werden gleich mitvermittelt. Der Großteil der Zuwanderer wolle arbeiten und Geld verdienen, sagt ein Offenbacher Arbeitsvermittler. Doch vielen bleibt nur ein Taschengeld. Wer mehr will, kann ja zum Jobcenter gehen. Nachdem die Regel in Kraft trat, dass Arbeitnehmer mindestens 450 Euro verdienen müssen, um weitere Hilfe zu erhalten, hätten relativ viele eben 451 Euro verdient, sagt Schulze-Böing. „Wir beobachten Systeme, in denen der Arbeitgeber mit dem Vermieter, den Transportdiensten aus Südosteuropa bis hin zu Beratern, die hier mit den Antragstellern auftauchen, zusammenhängen.“ Wer mit Schulze-Böing spricht, aber auch mit Sozialarbeitern und anderen Helfern, dem drängt sich der Eindruck auf: Dubiose Firmen nutzen die Sozialleistungen für Neuankömmlinge, um ihre Ausbeutungsmaschinerie in Gang zu halten.«

Vor diesem eben weitaus komplexeren Gebilde in der Realität kann man verstehen, warum die Verantwortlichen vor Ort mit Argusaugen auf die neue Entscheidung des EuGH geschaut haben, denn jede Vereinfachung des Leistungsbezugs – so wünschenswert das für die Betroffenen wäre – hätte möglicherweise enorme Folgewirkungen im Sinne eines Ausstrahlens auf diejenigen, die sich dann zusätzlich motiviert fühlen könnten, nach Deutschland zu kommen und damit unfreiwillig zum Nachschub für die angedeutete Ausbeutungsmaschinerie zu  werden.

Armut macht krank und Krankheit kann arm machen und beides zusammen führt oftmals in einen Teufelskreis

In diesen Tagen wurde wieder einmal gehadert mit der „Armut“. Also weniger mit dem Tatbestand der Armut von Menschen, sondern mit der Berichterstattung darüber. Auslöser war der neue Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderer Verbände. Vgl. dazu den Beitrag Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion – und von abstrusen Kommentaren vom 23.02.2016. Dabei gab es neben der üblichen Schelte an der Methodik der Messung einer relativen Einkommensarmut auch eine sachlich ausgerichtete Darstellung wichtiger Befunde neben der allgemeine Quote der Einkommensarmutsgefährdung, vor allem der Gruppen, bei denen wir eine überdurchschnittliche Betroffenheit prekärer Lebenslagen beobachten müssen. So beispielsweise in dem Übersichtsbeitrag Das sind die fünf größten Armutsrisiken von Frank Specht in der Online-Ausgabe des Handelsblatts oder in diesem Tagesschau-Beitrag.

Ein ganz besonders wichtiger Aspekt der Armutsdiskussion ist der Zusammenhang von Armut und Gesundheit. Darauf geht beispielsweise der Artikel Armut erhöht Herzinfarkt-Risiko von Susanne Werner ein. 

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Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion – und von abstrusen Kommentaren

Sie haben es wieder getan. Wieder Zahlen veröffentlicht zur „Armut“ in unserem Land. Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016, so ist das überschrieben und diesmal nicht nur vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, sondern von mehreren Verbänden veröffentlicht worden. Wobei die im Titel transportierte Aktualität bei den präsentierten Zahlen nicht ganz so frisch daherkommt, denn die stammen aus dem Jahr 2014, was aber in der Natur der statistischen Sache liegt, denn es handelt sich keineswegs um irgendwelche selbst gebauten Zahlenkolonnen, sondern man greift zurück auf Daten der amtlichen Statistik, in diesem Fall aus dem Mikrozensus. Und da ist 2014 das „aktuellste“ Jahr. Man kann die auch ganz offiziell einsehen, auf einer eigenen Website der Statistischen Ämter der Länder und des Bundes, www.amtliche-sozialberichterstattung.de, werden die aus den Mikrozensus-Daten berechneten Armutsgefährungsquoten, so nennen das die Berufsstatistiker, für alle abrufbar ausgewiesen und auch erläutert. Das können auch alle Journalisten machen – was gleich noch eine Rolle spielen wird – und wenn sie sich etwas mehr Mühe geben, dann werden sie auch erfahren, dass die dort ausgewiesenen Armutsgefährungsquoten auf eine EU-weit gültige Festlegung zurückgehen und nicht irgendwelche Phantasieprodukte darstellen.

Und damit sind wir schon fast mittendrin in einer Art Ritual, dem man beiwohnen muss, seitdem solche „Armutsberichte“ vorgelegt werden. Es besteht aus einem seriösen und einem peinlichen Teil. Der seriöse Zweig der kritischen Inaugenscheinnahme der Zahlen versucht sich in methodischer Kritik an dem, was hier als „Armut“ definiert bzw. präsentiert wird. Der aufmerksame Leser erinnert sich an dieser Stelle, dass die Berufsstatistiker in Diensten des Staates (wie aber auch viele Wissenschaftler) den sperrig daherkommenden Terminus „Armutsgefährungsquoten“ verwenden, während die Paritäter & Co. eine durchaus diskussionswürdige Abkürzung nehmen und von „Armutsquoten“ sprechen. Das ist schon an vielen Stellen abgehandelt worden, hier sei nur auf meinen Blog-Beirag Armut. Armutsgefährdungsquoten. Ein Durchschnitt und mehrere andere Durchschnitte. Zum neuen Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über die regionale Armutsentwicklung vom 19.02.2015 verwiesen. Dort findet man durchaus auch kritische methodische Anmerkungen zum damaligen Armutsbericht, aber keine grundsätzliche Ablehnung, weil das auch nicht dem Stand der Armutsforschung entsprechen würde.

Vielen Kritikern geht es aber gar nicht um eine trockene Analyse und Infragestellung der verwendeten Methoden, sondern allein der Begriff „Armut“ treibt sie in die Aggression. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Und so kommt es dann – ob bewusst oder unbewusst – entgegen aller Erkenntnisse und Standards der Armutsforschung zu einem Verriss dieser Zahlen dergestalt, dass die keine Armut anzeigen, die gibt es woanders, aber nicht bei uns. Dazu gleich ein aktuelles Beispiel aus der Medienberichterstattung, die noch einen dreisten Schritt weiter geht.

Aber erst einmal zu den heute veröffentlichten Zahlen im „Armutsbericht 2016“. Die Herausgeber fassen die wichtigsten Befunde gut zusammen:

»Während in neun Bundesländern die Armutsquoten 2014 gesunken seien, belegt der Bericht einen Anstieg der Armut in den bevölkerungsreichen Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen. Hauptrisikogruppen seien Alleinerziehende und Erwerbslose sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Armutsquote rasant gestiegen sei und erstmals über dem Durchschnitt liege … Die Armut verharre mit 15,4 Prozent auf hohem Niveau, so der Bericht. Die Armutsquote sei zwar von 2013 auf 2014 um 0,1 Prozentpunkte gesunken. Ob der Negativtrend seit 2006, als die Armutsquote noch 14 Prozent betrug, damit gestoppt sei, sei jedoch offen … Das Ruhrgebiet bleibe mit Blick auf Bevölkerungsdichte und Trend die armutspolitische Problemregion Nummer Eins in Deutschland. Seit 2006 sei die Armutsquote im Ruhrgebiet um 27 Prozent angestiegen auf einen neuen Höchststand von 20 Prozent. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen sind nach dem Bericht Erwerbslose (58 %). Auch die Kinderarmutsquote (19 %) liegt nach wie vor deutlich über dem Durchschnitt, wobei die Hälfte der armen Kinder in Haushalten Alleinerziehender lebt. Die Armutsquote Alleinerziehender liegt bei sogar 42 %, was u.a. an systematischen familien- und sozialpolitischen Unterlassungen liegt.«

Damit haben wir die wichtigsten Befunde kompakt auf dem Tisch liegen. Und nein, an dieser Stelle soll auch nicht die auch jetzt wieder vorgetragene „Kritik“ an den Armutsgefährungsquoten wiedergekaut und auseinandergenommen werden.

  • Auch in der heutigen Berichterstattung taucht es wieder auf, das „Gegenargument“, beispielsweise in dem Artikel Verbände erklären Ruhrgebiet zur neuen Armutsregion: Dort kann man lesen, dass es »immer wieder Kritik an dem Bericht (gibt): Verdoppeln sich in einer Gesellschaft alle Einkommen, gibt es nach Definition nicht weniger Arme als zuvor. Der Armutsbericht ist somit ein Gradmesser für Ungleichverteilung : Lohnzuwächse vor allem bei den höheren Gehältern führen dazu, dass mehr Menschen unter die Armutsquote fallen.« Na klar, in allen Erläuterungen der Statistiker ist zu lesen, dass es sich um ein relatives Maß der Einkommensarmut handelt, das logischerweise in Deutschland einen anderen Maßstab haben muss als in Bangladesch. Dieses „Problem“ wird man nur vermeiden können, wenn wir uns verständigen würden auf einen „veterinärmedizinischen Armutsbegriff“, was man aber vor vielen Jahren in der Armutsforschung und der modernen Sozialpolitik Gott sei Dank hinter sich gelassen hat. Wer es ganz genau wissen möchte, was es mit diesen „Argumenten“ auf sich hat, dem sei dieser Blog-Beitrag vom 3. April 2015 empfohlen: Das doppelte Kreuz mit der Armut und der Herkunft: Die (angeblichen) Armutskonstrukteure schlägt man und die Ständegesellschaft 2.0 wird nur angeleuchtet). 

Den heutigen Vogel schießt aber Guido Kleinhubbert ab, der auf Spiegel Online unter der mehr als flapsigen Überschrift  Der gefährliche Blues vom bitterarmen Deutschland kommentiert. Auch hier darf natürlich das immer wiederkehrende und deshalb dennoch nicht richtige Argument nicht fehlen: »Abgesehen davon, ist der alljährliche Blues-Song sowieso ein schiefes Lied. Für Schneider und seine Fans sind nämlich alle Menschen „arm“, die von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben müssten. Das ist zumindest heikel, denn selbst wenn in unserem Land nur millionen- und milliardenschwere Ferrari-Fahrer gemeldet wären, gäbe es hier Armut. Irgendwer fällt immer unter die Grenze.« Es ist schon faszinierend, das alle zu dem gleichen Bild meinen greifen zu müssen.

Aber der Herr Kleinhubbert sorgt sich offenkundig um das „System“:

»Das ist gerade in diesen Zeiten äußerst gefährlich. Denn wer dem Paritätischen Wohlfahrtsverband seine Botschaft einfach so abkauft, den kann schnell die Wut packen – auf ein System, das die eigenen Bürger angeblich in Armut vegetieren lässt … Es ist fahrlässig, den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht. Wer wider besseren Wissens so tut, als könnten immer mehr Männer und Frauen trotz harter Arbeit oder gestiegener Hartz IV-Bezüge kein würdiges Leben führen und zum Beispiel ihren Nachwuchs nicht mehr angemessen ernähren, der handelt verantwortungslos. Er trägt weitere Unruhe in jene Teile der Bevölkerung, die wegen der Flüchtlingskrise ohnehin schon verunsichert sind, und treibt denjenigen Wähler und Unterstützer zu, die einfache Antworten liefern.«

Und so richtig in Fahrt gekommen überschlägt er sich förmlich, wenn er seinen Kommentar beendet mit dieser „Schlussfolgerung“:

 »Es kann also sein, dass Blues-Sänger Schneider einige neue Fans bekommt, die er sich nicht gewünscht hat. Zum Beispiel AfD-Politiker, NPD-Wirrköpfe und Pegida-Gröhler.«

Das nun ist wirklich ein Armutszeugnis für den, der das geschrieben hat. Noch unterirdischer kann das Niveau nicht sinken.

62 = 3,5 Milliarden. Menschen. Die Zunahme der extremen Ungleichheit setzt sich fort. Auch in Deutschland

Was sich kaum einer vorstellen kann: 3,5 Mrd. Menschen. Das ist genau die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung. Eine unvorstellbar große Zahl. Und alle zusammen haben so viel wie ein Raum voll Menschen, genauer gesagt: 62 überwiegend Männer. Behauptet die Organisation Oxfam in ihrem neuen Report An Economy for the 1%. How privilege and power in the economy drive extreme inequality and how this can be stopped. Die hat öffentlichkeitswirksam kurz vor Beginn des Weltwirtschaftsforums 2016 im schweizerischen Davos die neuen Ungleichheitszahlen veröffentlicht. Nicht nur die plakative Relation von ganz weit oben und dem unteren „Rest“ ist interessant, die Organisation legt den Finger auf strukturelle Ursachen und macht zugleich politische Vorschläge, wie man das ändern könnte: »Die Spirale der wachsenden sozialen Ungleichheit dreht sich weiter: Mittlerweile besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Nur 62 Menschen besitzen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das derzeitige Wirtschaftssystem kommt vor allem den Reichen zugute und vertieft weltweit die Kluft zwischen Arm und Reich. Ein wesentlicher Grund ist eine ungerechte Steuerpolitik. Reiche Einzelpersonen halten in Steueroasen rund 7,6 Billionen US-Dollar versteckt, neun von zehn großen Unternehmen haben mindestens eine Tochterfirma in Steueroasen. Sie entziehen sich damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Wer soziale Ungleichheit und Armut bekämpfen will, muss Steuergerechtigkeit schaffen und Steueroasen trockenlegen«, so Oxfam in dem Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen.

Die Resonanz in den Medien ist groß: 62 Superreiche besitzen so viel wie die ärmsten 3,6 Milliarden oder 62 Superreiche besitzen so viel wie die halbe Welt oder Reich und Reich gesellt sich gern, um nur drei Beispiele zu erwähnen. Oxfam kritisiert eine weitere Verschärfung der globalen extremen Ungleichheit: Während die ärmere Bevölkerungshälfte in den letzten fünf Jahren eine Billion Dollar verloren hat, ist das Vermögen der 62 reichsten Menschen der Welt um eine halbe Billion Dollar gewachsen.

Das wir mit einer expandierenden Ungleichheit konfrontiert sind, die nicht nur Quelle für viele konflikthafte Zuspitzungen ist – bis hin zu den anschwellenden Flüchtlingsbewegungen -, sondern selbst in den Kerninstitutionen des kapitalistischen Systems zunehmend mit Besorgnis gesehen wird, weil sie sich negativ auswirkt auf dort hoch relevante Parameter wie beispielsweise das Wirtschaftswachstum, verdeutlicht dieses Zitat:

»… auch die Wirtschaftskraft der Staaten leidet. Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist die Wirtschaft in 19 Staaten zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte weniger gewachsen, als das bei unveränderter Ungleichheit der Fall gewesen wäre. OECD-Generalsekretär Angel Gurría spricht bereits von einem Wendepunkt: „Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute“, sagt er.«

Was treibt diese Entwicklung an? Oxfam erläutert dazu:

»Ein Grund für diese Entwicklung ist die unzureichende Besteuerung von großen Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen. Investitionen von Unternehmen in Steuerparadiesen haben sich zwischen 2000 und 2014 vervierfacht. Neun von zehn der weltweit führenden Großunternehmen haben Präsenzen in mindestens einer Steueroase. Entwicklungsländern gehen auf diese Weise jedes Jahr mindestens 100 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen verloren.
Alleine die afrikanischen Staaten kostet es jährlich rund 14 Milliarden US-Dollar, dass reiche Einzelpersonen ihr Vermögen in Steueroasen verschieben. Mit dem Geld ließe sich in Afrika flächendeckend die Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder sicherstellen, was pro Jahr rund vier Millionen Kindern das Leben retten würde.«

Den Trend umzukehren, sei nicht aussichtslos, aber es werde „sehr schwierig“, so Oxfam-Chefin Winnie Byanyima. Die Organisation fordert die Eindämmung von Steueroasen und die stärkere Besteuerung hoher Einkommen.

Und ist das alles auch ein Problem für Deutschland? Dazu Oxfam im Hintergrundpapier Ein Wirtschaftssystem für die Superreichen. Wie ein Unfaires Steuersystem und Steueroasen die soziale Ungleichheit verschärfen:

»Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist in Deutschland die Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen besonders hoch und in den vergangenen Jahrzehnten massiv angestiegen.«

Es werden drei Hauptargumente für diese Bewertung vorgetragen:

  • Die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen mindestens 63 Prozent des Gesamtvermögens. Der größte Anteil dieser Vermögensungleichheit geht auf Erbschaften und Schenkungen zurück.
  • Deutschland weist die höchste Vermögensungleichheit in der Eurozone auf.
  • Die Lohnspreizung hat in Deutschland seit dem Jahr 2000 erheblich zugenommen. Die Löhne der ärmsten zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Vollzeit-Beschäftigten sind inflationsbereinigt zwischen 2000 und 2005 um zwei Prozent gesunken und zwischen 2005 und 2010 um weitere sechs Prozent. Die reichsten zehn Prozent in der Einkommensskala haben dagegen enorm hinzugewonnen.

Auch der Verteilungsbericht 2015 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) kommt nach Auswertung der verfügbaren Daten zur Einkommensungleichheit zu Befunden, die skeptisch stimmen müssen:

»Deutschland … erlebt seit einigen Jahren einen deutlichen konjunkturellen Aufschwung. Die Erwerbstätigkeit ist auf Rekordniveau und auch die Reallöhne sind zuletzt angestiegen. Dennoch … geht die Einkommensungleichheit nicht zurück. Sie ist vielmehr am aktuellen Rand wieder leicht angestiegen. Gleichzeitig werden Armuts- und Reichtums- positionen immer dauerhafter.« (S. 2)

In ihrem Fazit schreiben die Wissenschaftler des WSI:

»Die sehr Reichen schweben regelrecht über den konjunkturellen Krisen, während viele Arme auch von einem länger andauernden wirtschaftlichen Aufschwung kaum profitieren können. Die Einkommensverteilung ist in den letzten drei Jahrzehnten deutlich undurchlässiger geworden – und mit ihr hat sich auch die Chancengleichheit verringert. Gleichzeitig steigt der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen am Volkseinkommen und damit die Bedeutung von privaten Vermögen bzw. Renditen und Kapitalgewinnen. Europaweit hat Deutschland die höchste Vermögensungleichheit … Zudem sind Vermögenseinkommen deutlich unabhängiger von der konjunkturellen Entwicklung als dies bei den Erwerbseinkommen der Fall ist. Wenn die Bedeutung von Erwerbseinkommen abnimmt – am oberen Ende zugunsten von Vermö- genseinkommen, am unteren zugunsten staatlicher Transferzahlungen – verstärkt das die Entkoppelungstendenz zusätzlich.« (S. 13)