Armut. Armutsgefährdungsquoten. Ein Durchschnitt und mehrere andere Durchschnitte. Zum neuen Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes über die regionale Armutsentwicklung

Es gibt ja bekanntlich den bedenkenswerten Spruch: Auf die Verpackung kommt es an. Dies kann man in gewisser Hinsicht auch auf ein heute durch die mediale Öffentlichkeit getriebenes Thema anlässlich einer neuen Veröffentlichung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes übertragen: Die zerklüftete Republik. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014, so ist der aktualisierte Bericht überschrieben worden. Es gibt einige zentrale Befunde, die vom Paritätischen hinsichtlich der Armutsentwicklung herausgestellt werden: »Die Armut in Deutschland hat mit einer Armutsquote von 15,5 Prozent ein neues Rekordhoch erreicht und umfasst rund 12,5 Millionen Menschen. Der Anstieg der Armut ist fast flächendeckend. In 13 der 16 Bundesländer hat die Armut zugenommen … Die Länder und Regionen, die bereits in den drei vergangenen Berichten die bedenklichsten Trends zeigten – das Ruhrgebiet, Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – setzen sich ein weiteres Mal negativ ab, indem sie erneut überproportionale Zuwächse aufweisen. Die regionale Zerrissenheit in Deutschland hat sich im Vergleich der letzten Jahre verschärft. Betrug der Abstand zwischen der am wenigsten und der am meisten von Armut betroffenen Region 2006 noch 17,8 Prozentpunkte, sind es 2013 bereits 24,8 Prozentpunkte. ls neue Problemregion könnte sich neben dem Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen auch der Großraum Köln/Düsseldorf entpuppen, in dem mehr als fünf Millionen Menschen leben, und in dem die Armut seit 2006 um 31 Prozent auf mittlerweile deutlich überdurchschnittliche 16,8 Prozent zugenommen hat.« Und wer ist besonders betroffen?

»Erwerbslose und Alleinerziehende sind die hervorstechenden  Risikogruppen, wenn es um Armut geht. Über 40 Prozent der Alleinerziehenden und fast 60 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland sind arm. Und zwar mit einer seit 2006 ansteigenden Tendenz. Die Kinderarmut bleibt in Deutschland weiterhin auf sehr hohem Niveau. Die Armutsquote der Minderjährigen ist … auf 19,2 Prozent gestiegen und bekleidet damit den höchsten Wert seit 2006 … Bedrohlich zugenommen hat in den letzten Jahren die Altersarmut, insbesondere unter Rentnerinnen und Rentnern. Deren Armutsquote ist mit 15,2 Prozent zwar noch unter dem Durchschnitt, ist jedoch seit 2006 überproportional und zwar viermal so stark gewachsen. Keine andere Bevölkerungsgruppe zeigt eine rasantere Armutsentwicklung.«

Soweit die wichtigsten Aussagen aus dem Bericht, der im übrigen Daten präsentiert, die nun keineswegs neu oder originell sind – man kann die alle abrufen auf der Website www.amtliche-sozialberichterstattung.de, dort gibt es eine eigene Seite mit den so genannten „Armutsgefährdungsquoten“. Aus diesem Datensatz sind auch die Abbildungen in diesem Beitrag erstellt worden, nicht aus dem Bericht des Paritätischen, der sich ebenfalls auf die amtliche Statistik bezieht.

Und sogleich stoßen wir auf eine erste, nicht nur – wie man auf den ersten Blick meinen könnte – semantische Differenz zwischen dem Wohlfahrtsverband – der kurz und bündig von „Armut“ spricht – und der sehr technisch daherkommenden Wortwahl der amtlichen Statistiker, die mit dem Terminus „Armutsgefährdungsquote“ hantieren. Beide beziehen sich auf die gleichen Daten.

Natürlich liegt hier nicht etwa Wortklauberei vor, sondern es geht um die höchst komplexe und letztendlich hoch normative Frage, was man unter „Armut“ versteht und wie man diese dann messtechnisch abbildet. Es soll an dieser Stelle nicht erneut die seit ewigen Zeiten ventilierte Frage nach „der“ Armut aufgerufen werden. Aber um ein Grundproblem kommt man natürlich nicht herum: Ab wann spricht man legitimerweise von „Armut“? Pia Ratzesberger schreibt dazu in ihrem Artikel Wie arm ist arm?:

»Fast 13 Millionen Menschen gelten in Deutschland als armutsgefährdet. Das ist immerhin fast jeder Sechste. Nun gibt es Menschen, die behaupten in einer Industrienation wie Deutschland gebe es keine Armut mehr. Von vier Euro am Tag könne man schließlich gut essen und gegen die Kälte in der Wohnung einen Pullover überziehen. Was also heißt das überhaupt, arm sein? Ist nur der arm, dessen Geld kaum reicht, um jeden Tag ausreichend auf dem Teller zu haben? Der, der sich keine eigene Wohnung mehr leisten kann? Oder auch der, der kein Internet hat, keinen Fernseher und kein Telefon?«

Der entscheidende und auch für die Einordnung des neuen Armutsberichts des Paritätischen relevanter Punkt ist die in der Armutsforschung bekannte Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Man könnte sich bei der Suche nach offiziellen Armutsdefinitionen auf die 1,25 US-Dollar pro Tag beziehen (also etwa ein Euro), die von der Weltbank als absolute Armutsgrenze verwendet werden. Das wäre gleichsam eine „veterinärmedizinische“ Definition von Armut, der nur Zyniker folgen werden – obgleich man an dieser Stelle darauf hinweisen muss, dass mehr als eine Milliarde Menschen unterhalb dieser Armutsschwelle leben müssen. Würde man aber diese Grenze auch für Deutschland heranziehen, dann wäre Armut in unserem Land kein Thema, denn keiner wird unter diese Grenze fallen, selbst Obdachlose nicht.

Für die entwickelten Länder ist nicht der absolute, sondern der relative Armutsbegriff relevant und für den gibt es ebenfalls eine gleichsam offizielle Definition, die auf der EU-Ebene Anwendung findet: »Die entscheidende Grenze liegt in Europa bei 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung, das sind hierzulande momentan 979 Euro netto im Monat. Wer weniger hat, gilt als von Armut bedroht, ihm bleiben am Tag also etwas mehr als 30 Euro«, so Ratzesberger in ihrem Artikel. Sicher sind die 60 Prozent des – am Median, nicht am arithmetischen Mittel gemessenen – durchschnittlichen Einkommens. Schon weniger sicher sind die konkreten Euro-Beträge, denn im Armutsbericht des Paritätischen finden wir auf der Seite 2 einen anderen Betrag für die gleiche Größe: »2013 lag die … errechnete Armutsgefährdungsschwelle für einen Singlehaushalt bei 892 Euro. Für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag sie bei 1873 Euro.«
Was denn nun, wird der eine oder die andere fragen: 979 oder doch nur 892 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden, was ja durchaus einen Unterschied macht? Die 979 Euro (für das Jahr 2012) stammen aus einer vom Statistischen Bundesamt im vergangenen Jahr veröffentlichten Veröffentlichung im Kontext der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) und der Wert basiert auf Berechnungen auf der Grundlage einer Befragung von 12.703 private Haus­halte sowie 22.585 Personen ab 16 Jahren in diesen Haushalten.

Die 892 Euro (für das Jahr 2013) stammen aus einer anderen Quelle: dem Mikrozensus. Beim Mikrozensus wird nach einer Zufallsstichprobe etwa 1 Prozent aller Haushalte in Deutschland befragt. Dies sind ca. 390.000 Haushalte mit etwa 830.000 Personen, also weitaus umfangreicher als die Befragung im Rahmen von EU-SILC. Durch die hohe Haushalts- und Personenzahl sind zudem relativ tiefe regionale Analysen möglich, ohne dass die statistischen Unsicherheiten zu groß werden. Zur Berechnung von Armutsgefährdungsquoten auf Basis des Mikrozensus aus Sicht der amtlichen Statistik kann man diese Erläuterungen einsehen.

Insofern könnte man also an dieser Stelle das Zwischenfazit ziehen, dass die Angaben im neuen Armutsbericht des Paritätischen auf statistisch besseren Füßen stehen. Aber die großen Fragezeichen bleiben weiter, der Paritätische geht in seiner Veröffentlichung selbst direkt darauf ein: »Regelmäßig wird bei der Veröffentlichung solcher Quoten auch immer wieder neu die Frage gestellt, ob es sinnvoll sei, eine einheitliche Armutsschwelle für die gesamte Bundesrepublik als Messlatte der Entwicklung anzusetzen. Dürfen Einkommensverhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt mit denen in Wiesbaden, Hamburg oder München verglichen werden? Darf man das Ruhrgebiet mit Stuttgart „über einen Kamm scheren“?« (S. 3). Die Verfasser des Berichts geben darauf diese Antwort: »Unter methodischen Gesichtspunkten würde die sehr kleinräumige Berechnung regionaler Armutsschwellen dazu führen, dass die Armut schlicht „verschwindet“. Wo keiner etwas besitzt, gibt es auch keine Einkommensungleichheit und damit keine Armut. Wo Unterversorgung der Standard ist, können keine relativen Armutsquoten berechnet werden.

Oder salopp formuliert: In einem Armenhaus gibt es keine relative Armut.« Vor diesem Hintergrund operiert der Armutsbericht des Paritätischen mit „Armutsquoten“, die sich auf ein bundesweites durchschnittliches Einkommen beziehen – die amtliche Sozialberichterstattung hingegen weist die „Armutsgefährdungsquoten“ aus gemessen am Bundesdurchschnitt, aber auch an den regionalen Durchschnittseinkommen, die natürlich in Mecklenburg-Vorpommern deutlich niedriger sind als in Baden-Württemberg. Die Folgen hinsichtlich der Höhe der ausgewiesenen Quote sind in der Abbildung dargestellt.

Nehmen wir als Beispiel Bremen. Misst man Armutsgefährdung an den 60 Prozent vom bundesweiten Einkommensdurchschnitt, dann liegt die Quote in diesem relativen Armenhaus der Republik bei 24,6 Prozent. Mithin würde fast jeder vierte Bürger dieses Bundeslandes aus Sicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes arm sein bzw. vorsichtiger formuliert aus der Perspektive der amtlichen Sozialberichterstattung armutsgefährdet. Bezieht man die 60 Prozent-Grenze hingegen auf das regionale Durchschnittseinkommen, dann schrumpft die Quote auf „nur“ noch 18,9 Prozent. Das ist fast ein Viertel weniger als vorher. Noch krasser ist die Differenz in Mecklenburg-Vorpommern: Gemessen am Bundesdurchschnitt liegt die Quote bei 23,6 Prozent – legt man hingegen das regionale Durchschnittseinkommen zugrunde, rauscht die Quote runter auf nur noch 13,6 Prozent.

Es ist klar, dass solche erheblichen Unterschiede Munition für Kritiker liefern. Aber ein weiterer Blick auf die Unterschiede ist hilfreich, denn nicht nur die auch im neuen Bericht entsprechend ausgewiesenen Bundesländer mit sehr hohen Armuts(gefährdungs)quoten haben deutlich geringere Werte, wenn man die regionalen Durchschnitte zugrunde legt, sondern die reicheren Bundesländer aus dem Süden der Bundesrepublik haben dann teilweise erheblich höhere Quoten, man schaue sich nur die Differenzen zwischen den beiden Quoten in Bayern und Baden-Württemberg an.

Das mag genügen, um anzudeuten, dass es eben nicht so einfach ist, von „Armut“ in einer konkret daherkommenden Größenordnung zu sprechen, wie das auch heute wieder vom Paritätischen gemacht wird, wobei Armut hier ausschließlich gemessen wird als Einkommensarmut.

Dabei ist die ganze Thematik weitaus komplexer und damit aber auch schwieriger bis gar nicht abbildbar. Dazu wieder ein Zitat aus dem Artikel von Pia Ratzesberger: »Armut bedeutet Mangel. Nicht allein an Geld, sondern auch an Gesundheit, an Bildung, an sozialen Kontakten. Einer Frau, der das Laufen sehr schwer fiel, hatte ein Mitarbeiter einer deutschen Tafel-Einrichtung einmal angeboten, dass er ihr das Essenspaket nach Hause bringen könne. Sie lehnte dankend ab. Schließlich komme sie doch nicht nur wegen der Lebensmittel, sondern vor allem auch wegen der Gespräche, sagte sie. Wer wenig hat, der kann sich nicht im Café verabreden oder nach der Arbeit gemeinsam mit den Kollegen in die Kneipe gehen. Der hat womöglich nicht einmal ein Telefon, um sich bei den Freunden zu erkundigen, wie es geht.

Der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen definiert Armut deshalb als das Fehlen von Verwirklichungschancen. Arm ist der, der sein Leben nicht frei gestalten kann, der trotz vorhandener Fähigkeiten nicht die Möglichkeiten hat, diese zu entfalten. Auf diesen Ansatz geht zum Beispiel der Human Development Index der Vereinten Nationen zurück, bei dem auch Schulbildung und Lebenserwartung berücksichtigt werden.«

Was bleibt ist eine gehörige Portion Skepsis gegenüber dem forsch daherkommenden Argumentationsstrang von der (steigenden) „Armutsquote“. Aber plausibel für jeden, der sich intensiv mit Sozialpolitik beschäftigt, sind die Ausführungen zu einzelnen „Risikogruppen“, die teilweise (wie übrigens auch Regionen bis hinunter auf die Ebene von Stadtteilen) auf Dauer und – angesichts der parallel ebenfalls ablaufenden Entwicklung von höheren Einkommen am anderen Ende der Skala – auch immer stärker abgehängt werden von der gesellschaftlichen Entwicklung in der Mitte und oben:

»Die gefährdeten Gruppen sind und blieben auch 2013 die Alleinerziehenden, Kinder und Langzeitarbeitslose. Ihre Lage werde „von Jahr zu Jahr schlimmer“, bilanzierte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Er warnte zudem vor einer „rasant steigenden“ Altersarmut. Sie sei seit 2006 um 48 Prozent gewachsen und werde 2015 erstmals über dem Durchschnitt aller Bevölkerungsgruppen liegen. „Wir haben extreme Verteilungsprobleme bei zunehmendem Wohlstand“, bilanzierte Schneider.«

Hier sind die großen Baustellen unseres Sozialstaates markiert, auf denen unbedingt gearbeitet werden muss.