Großbritannien: Alte Menschen allein zu Haus – auch diesseits der Insel ein Thema, das aus dem Schatten geholt werden sollte

Lonely Britain: Tens of thousands of elderly men and women are left home and alone – so die Überschrift eines Artikels, in dem am Beispiel der Situation in Großbritannien darauf hingewiesen wird, dass sich die Isolation und die Vereinsamung vieler alter Menschen zu einem echten sozialen Notstand ausgewachsen habe.

»Trevor Lyttleton, chairman of Contact the Elderly, said the number of lonely pensioners aged 75 or older was at its worst more than any time in the almost 50 years since he founded the charity. Some go whole weeks without any human contact …« Man muss sich an dieser Stelle verdeutlichen, was die Organisation Contact the elderly anbietet: Die ehrenamtlichen Mitarbeiter organisieren monatlich an einem Sonntag Nachmittag „tea parties“ für vereinsamte Menschen über 75 Jahre. Es geht also nicht um die tägliche Pflege und Betreuung, sondern um ein Angebot aus dem „sozialen Leben“ im Monat.

Als Beispiel für die Lage wird Birmingham genannt: Dort gibt es mehr als 34.000 Menschen über 75 Jahre, die in einer sozialvereinsamten Lage leben (müssen). Aber die Organisation hat in dieser Stadt lediglich fünf Gruppen, die solche monatlichen Nachmittagstreffen an einem Sonntag organisieren können. In Durham versucht eine einzige Freiwilligengruppe etwa 21.000 allein lebende Menschen über 75 zu erreichen. Insgesamt kann die Organisation Contact of elderly derzeit auf 5.000 Freiwillige zurückgreifen.

Für die alten Menschen sind es oftmals die einzigen Angebote in ihrem Leben. Beispielsweise Sylvia Rothberg, 98, aus Maid Vale im Nordwesten von London. Sie sagt:

»My husband died 12 years ago and my son died six years ago, so I found myself with little contact with anyone. Now the volunteers come and pick me up and we go to someone’s house for tea and it’s great seeing so many people. I always look forward to it.«

Das muss in einem größeren Kontext gesehen werden. Nach einer Studie des Office for National Statistics ist die Bevölkerung in Großbritannien unter allen anderen Ländern des europäischen Kontinents am gespaltensten, vor allem hinsichtlich der sozialen Beziehungen zu anderen Menschen.
Im vergangenen Jahr wurde der Gesundheitsminister Jeremy Hunt mit den Worten zitiert, dass  »… 800,000 people suffering from chronic loneliness „a national disgrace“« seien.

Vor diesem Hintergrund muss man die Arbeit von Freiwilligen-Organisationen wie Contact the elderly wertschätzen und herausstellen. Aber natürlich kann das, was die Organisation selbst zu dem Problem und seiner möglichen Lösung sagt, nicht ausreichen: »The solution is as simple as having something to look forward to, a friendly face, human contact, a cup of tea and a chat.«
Das ist wichtig, wird aber schlichtweg nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein.

Auch in Deutschland stehen wir vor dem gleichen Phänomen bzw. Problem. Auch bei uns vereinsamten immer mehr ältere Menschen. Und vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wird es in den vor uns liegenden Jahren auch immer mehr alte Menschen geben, von denen die einen sicherlich sehr gut eingebettet in ihre Familien und materiell halbwegs ordentlich ausgestattet das Leben mit sich selbst werden ausmachen können. Zugleich wird aber der andere Teil der älteren Menschen, Der nicht über diese guten Lebensumstände verfügt bzw. verfügen kann, immer stärker angewiesen sein auf die Hilfestellung von Dritten bzw. schlichtweg ein wenig Sorge von anderen. Aber auch das wird in den meisten Fällen nicht (mehr) von alleine entstehen und geregelt werden können. Hier liegt eine der großen Aufgaben bzw. Baustellen einer kommunalen Altenhilfepolitik, die wir dringend brauchen, die jetzt aber entweder nur in Form von Leuchttürmen in einigen wenigen Kommunen oder aber in der Mehrheit der Gemeinden nur embryonal entwickelt ist.

Dabei könnte man aus anderen Bereichen durchaus ganz viel lernen. Man denke an dieser Stelle nur an die Erfahrung, die wir seit Jahren im Bereich der Kindertagesbetreuung machen. Wir werden uns der Vorstellung öffnen müssen, dass das, was derzeit auf die kleinen Kinder fokussiert ist, alsbald orientiert werden sollte auf die alten, vereinsamten Menschen sowie auf diejenigen unter den älteren Menschen, die am Anfang oder in der ersten Hälfte einer Demenzerkrankung stehen und deren Angehörige aber nicht den ganzen Tag zur Verfügung stehen können, weil sie selbst arbeiten müssen, so dass eine tagesstrukturierende Betreuung (nicht zwingendermaßen, aber zu erwarten) in speziellen Räumlichkeiten und durch möglichst professionell qualifizierte Kräfte notwendiger werden wird als das beispielsweise in der Vergangenheit der Fall war. Hier liegt eine gewaltige Entwicklungs-, Aufbau- und Stabilisierungsaufgabe vor uns. Zugleich gilt auch an dieser Stelle mit Blick auf die politischen Entscheidungsträger, die nur noch in Budgets denken (müssen), dass die Ausgaben für eine solche umfassende, natürlich nur in einem Mix aus professionellen und ehrenamtlichen Kräften leistbare Aufgabe gut angelegtes Geld wären, wenn man bedenkt, welche Folgekosten in den einzelnen Systemen unseres Sozialstaates ansonsten (möglicherweise) anfallen, so im Gesundheitsbereich, um nur ein Teilfeld zu benennen.

Die „Ausnahmeritis“ grassiert im großkoalitionären Berlin. Oder: Wie der Mindestlohn schrittweise in Richtung Schweizer Käse verhandelt wird

Wer kennt das nicht, die alljährlichen Grippewarnungen. Aus aktuellem Anlass muss an dieser Stelle eine – mehr als vorsorgliche – Warnung vor einer in Berlin um sich greifenden „Ausnahmeritis“ ausgesprochen werden. Es geht um einen offensichtlich grassierenden Handlungszwang, kurz vor Gesetzgebungsschluss dem Schweizer Käse-Modell nachzulaufen. Richtig, wir sprechen vom flächendeckenden und einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, bei dem doch eigentlich vereinbart war, dass bis auf Langzeitarbeitslose, Jugendliche und bestimmte Praktikantenverhältnisse keine Ausnahmen gemacht werden sollen von der Anwendbarkeit der allgemeinen Lohnuntergrenze, in bestimmten Branchen zudem noch aufgeschoben bis Ende 2016, sofern es tarifvertraglich vereinbarte niedrigere Entgelte gibt. Die Betonung liegt auf eigentlich keine weitere Ausnahmen.

Nun wurde vor kurzem bekannt, dass die Große Mindestlohnkoalition in Berlin schwach geworden ist bei den Zeitungsausträgern. Den Verlegern soll – so die bisherigen Überlegungen – über eine hastig gezimmerte Brücke geholfen werden, indem sie kostenmäßig durch eine Absenkung der für ihre Minijobber zu zahlenden Sozialabgaben entlastet werden sollen. Das war schon irritierend.
Aber offensichtlich ist so ein Verhalten ansteckend, wenn man die aktuelle Berichterstattung verfolgt: Koalition beschließt Änderungen beim Mindestlohn, so beispielsweise die Online-Ausgabe des Handelsblatts. Und sollte sich das bestätigen, was dort berichtet wird, dann ist die „Ausnahmeritis“ akut und flächendeckend ausgebrochen in Berlin.

Spezielle Regelungen soll es nicht nur für Zeitungszusteller geben, sondern auch für Saisonarbeiter. Bei Praktikanten dürfen Arbeitgeber länger als ursprünglich geplant vom Mindestlohn abweichen.

Die mehr als merkwürdig daherkommenden Sonderregelung für die Zeitungsverleger ist in einem Blog-Beitrag bereits beschrieben worden: Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen? Allerdings ist die Berichterstattung in den Medien hier widersprüchlich, denn ursprünglich war ja eine Entlastung der Verleger bei den zu zahlenden Sozialbeiträgen geplant.

»Indessen ist die ursprünglich in den Verhandlungen angestrebte Regelung, die Arbeitgeber von Zeitungszustellern bei den Sozialbeiträgen zu entlasten, offenbar gekippt. Stattdessen soll es befristete Abweichungen vom Mindestlohn geben: für 2015 um 25 Prozent und 2016 um 15 Prozent vom Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde«, so ein Artikel in der  Online-Ausgabe der WELT.

Sollte dieser Punkt zutreffen, dann muss man sich schon sehr wundern – denn mit welcher Begründung will man dann diesen Sub-Mindestlohn anderen Branchen, die sicher in der gleichen Kostenproblematik, wenn nicht noch tiefer, stecken? Wie ist es dann bei den Taxifahrern oder im Gaststättenbereich? Einen Hinweis findet man hier: »Juristen wie der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hatten argumentiert, der Mindestlohn für Zeitungszusteller sei verfassungsrechtlich bedenklich, weil er die wirtschaftlichen Grundlagen der Presseverlage und damit letztlich die vom Grundgesetz geschützte Pressefreiheit tangiere.«

Was ist das für eine Argumentation? Die Existenz der Tageszeitungen hängt davon ab, dass die Verleger ihren Austrägern einen Lohn zahlen, der deutlich niedriger sein muss als 8,50 Euro in der Stunde? Wenn wir mal hypothetisch davon ausgehen, die wirtschaftliche Existenz würde davon abhängen, dann wäre ein systematische – und letztendlich dauerhafte – Subventionierung wie beim Gebührenmodell für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch irgendwie logischer als das, was hier jetzt vorgesehen ist. Denn die Absenkung des Mindestlohns soll ja – wenn denn die Berichterstattung stimmt – nicht auf Dauer erfolgen, sondern „nur“ für eine Übergangszeit. Was macht das dann aber angesichts der schweren Keule Gefährdung der Pressefreiheit für einen Sinn? Christian Bäumler von der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) wird mit diesen kritischen Worten zitiert: »Wenn der Gesetzentwurf Abweichungen vom gesetzlichen Mindestlohn nur bei Abschluss eines Tarifvertrages vorsieht, kann eine einzelne Branche von dieser Pflicht nicht ausgenommen werden … Es darf nicht sein dass die Zeitungsverleger dafür belohnt werden, dass sie sich weigern einen Tarifvertrag zu überdenken«. Das ist richtig – die Verleger haben sich bislang beharrlich geweigert, über einen Tarifvertrag zu verhandeln, mit dem man – wie andere Branchen auch – zeitlich befristet bis 2017 den Mindestlohn unterschreiten kann. Nunmehr sollen sie also ihr tarivertragsfeindliches Verhalten belohnt bekommen im Kontext eines „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“ – die Welt wird immer eigenartiger.

Und wie will man den deutschen Spargel retten?

»Bei Saisonarbeitern aus dem Ausland gilt bisher die Regel, dass für sie keine Sozialbeiträge abgeführt werden müssen, wenn sie maximal 50 Tage im Jahr in Deutschland arbeiten und noch einen anderen Job in ihrer Heimat haben. Diese 50-Tages-Frist soll nach dem Koalitionskompromiss auf 70 Tage ausgedehnt werden. Außerdem sollen Arbeitgeber die Kosten für Kost und Logis der Saisonarbeiter mit dem Mindestlohn verrechnen dürfen.«

Kost- und Logis-Kosten anrechnen? Das öffnet der „kreativen Gestaltung“ seitens der Arbeitgeber Tür und Tor. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Und die Praktikanten?

»Laut Gesetzentwurf waren bisher verpflichtende Praktika im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung komplett und freiwillige Orientierungspraktika sechs Wochen lang vom Mindestlohn ausgenommen. Diese Frist soll nun auf drei Monate verlängert werden.«

Nun kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch sagen, vielleicht sind das auch nur voreilig gestreute Verhandlungspunkte, um die andere Seite unter Druck zu setzen. Die endgültige Fassung des Gesetzes soll ja „erst“ am 3. Juli im Bundestag verabschiedet werden. Aber an dieser eher hoffnungsvollen Position hinsichtlich möglicher Korrekturen kann man begründet zweifeln:
»Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte am Freitag vor Familienunternehmern auf die Frage nach Ausnahmen für Praktikanten: „Wir lösen Ihr Problem.“ Konkrete Angaben machte er nicht. Er könne nicht in die Details zu dem gehen, was in der nächsten Woche verabschiedet werden solle«, so ein Bericht in der Online-Ausgabe der FAZ.

„Jetzt kommt der Mindestlohn doch als Schweizer Käse“. Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Brigitte Pothmer, zitiert.

Das „Schlupfloch“ in der sozialpolitischen Regelungswelt – für die einen der „Schleichweg“ zu mehr Gerechtigkeit, für die anderen eine böse Sache

Es ist aber auch nicht einfach in der Sozialpolitik – komplexe und immer heterogener werdenden Lebensumstände müssen in konkrete sozialrechtliche Vorschriften gegossen werden. Neben der Tatsache, dass die daraus resultierenden Regelungen sofort ganz viel Phantasie freisetzen, wie man sie umgehen kann (das erleben wir beispielsweise derzeit im Bereich der anstehenden Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns), ist es unvermeidbarerweise immer auch so, dass Regelungen, mit denen man „mehr Gerechtigkeit“ herstellen möchte, nicht selten und oftmals als ungeplante Nebenfolge ihrer praktischen Umsetzung beispielsweise über Stichtagsregelungen neue „Gerechtigkeitslücken“ aufreißen. Wenn dann noch die Gesetzgebung aufgrund des tagespolitischen Drucks mit der heißen Nadel gestrickt werden muss, sind handwerkliche Fehler quasi nicht zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund kann es nicht wirklich überraschen, dass jetzt sukzessive auf einer der wichtigsten „Gerechtigkeitsbaustellen“, also der so genannten „Rente mit 63“, Baumängel (für die einen) bzw. „Notausgänge“ (für die anderen) erkennbar werden.

Man kann die Andeutungen konkretisieren: Es geht um die Frage, wie man verhindern kann, dass die „Rente mit 63“ in praxi die Möglichkeit eröffnet, zu einer „Rente mit 61“ zu werden. Dabei schien dieses Problem doch beim Ringen innerhalb der Großen Koalition um einen Kompromiss zum „Rentenpaket“ im vergangenen Monat eigentlich gelöst – wenn auch damals schon mit einigen erheblichen Unwuchten (vgl. hierzu den Beitrag Ein Geben und Nehmen: Die Große Koalition einigt sich auf das vorerst endgültige Design des „Rentenpakets“):
Aufgrund der vereinbarten Anrechnung von Zeiten der Arbeitslosigkeit mit Bezug der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I auf die zu erfüllenden 45 Beitragsjahr, die Voraussetzung sind, damit man die Rente mit 63 ohne Abschläge in Anspruch nehmen kann, stand man vor dem Problem, dass sich die Möglichkeit eröffnete, dass ein Arbeitnehmer bereits mit 61 mit der Erwerbsarbeit aufhört, zwei Jahre lang Arbeitslosengeld I bezieht und dann in den vorgezogenen, abschlagsfreien Ruhestand wechselt. Hier vermuteten einige Gegner der „Rente mit 63“ die Gefahr, dass es zu einer neuen „Frühverrentungswelle“ kommen könne. Darauf hatte man dann bei den vereinbarten Korrekturen im Gesetzesentwurf reagiert: »Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs werden wie bereits im vorliegenden Entwurf ohne zeitliche Beschränkungen angerechnet. Um (angebliche) Missbräuche auszuschließen, hat man sich nun darauf verständigt, dass Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs in den letzten zwei Jahren vor der abschlagsfreien Rente mit 63 nicht mehr mitgezählt werden bei der Berechnung der erforderlichen 45 Beitragsjahre. Eine Ausnahme von diesem Ausschluss ist jedoch dann vorgesehen, wenn die Arbeitslosigkeitszeiten durch eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht wurden.«

Aber bereits damals habe ich in dem Beitrag darauf hingewiesen, dass die gefundene Regelung gewisse logische Inkonsistenzen aufweist, vor allem mit Blick auf die angestrebte „gerechte“ Lösung:

»Die Aufladung der „Rente mit 63″  mit Gerechtigkeitsüberlegungen erweist sich immer mehr als das, was es ist – eine große Illusion. Nehmen wir nur als Beispiel die neu gefundene Ausnahmeregelung, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit zwei Jahre vor dem Renteneintritt in die abschlagsfreie Rente mit 63 dann anerkannt werden können bei der Berechnung der Beitragsjahre, wenn sie aus einer Insolvenz des Unternehmens resultieren. Die Besserstellung dieses Falls wird dem Arbeitnehmer sicher nicht besonders gerecht erscheinen, der mit 61 von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde, beispielsweise aus betriebsbedingten Gründen und dem vielleicht ein oder gerade die zwei Jahre fehlen, um die abschlagfsreie Rente mit 63 in Anspruch nehmen zu können.«

Das alles ist schon schwierig genug. Jetzt aber gibt es Neuigkeiten von der Front der – für den einen oder die andere überraschenden – „Schlupflöcher“ oder „Schleichwege“. In dem Artikel Legaler Schleichweg in die Rente berichtet Karl Doemens von folgendem Tatbestand aus der „Rente-mit 63“-Welt hinsichtlich der beschlossenen Stichtagsregelung für das Anrechnen von Arbeitslosenzeiten:

»Zwar werden dem Gesetz nach die letzten beiden Jahre vor Beginn des Ruhestands nicht berücksichtigt. Aus einer schriftlichen Antwort des Sozialministeriums geht jedoch hervor, dass diese Sperrzeit entfällt, wenn die Betroffenen für wenige Stunden in der Woche einen Minijob übernehmen … Praktisch könnte also ein Arbeitnehmer mit 61 Jahren aus dem Job ausscheiden, zwei Jahre Arbeitslosengeld beziehen, in dieser Zeit wöchentlich vier Stunden als Verkäufer oder Fahrer arbeiten und damit den Anspruch auf die abschlagsfreie Rente mit 63 erwerben.«

Das ist innerhalb des bestehenden Systems mit der staatlichen Förderung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse absolut konsequent, wenn an dieser Stelle auch von den Protagonisten nicht gewünscht. Voraussetzung bei den Minijobbern ist allerdings, dass sie nicht auf die Rentenversicherungspflicht ihrer kleinen Beschäftigungsverhältnisse verzichtet haben. Dann arbeiten sie und zahlen Beiträge – wenn auch sehr kleine – in die gesetzliche Rentenversicherung ein und erfüllen damit natürlich in den bestehenden Systemen den Tatbestand, dass sie Beitragsjahre vorweisen können.

Das hat schon Eingang gefunden in die praktische Sozialberatung. Doemens weist in seinem Artikel auf ein internes Info-Blatt der Rechtsabteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hin, in dem der Minijob ab 61 ausdrücklich als eine „Lösungsoption“ empfohlen wird, um die Beitragszeit zu erreichen. Netto-Einkünfte bis 165 Euro im Monat werden nicht auf das Arbeitslosengeld angerechnet.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sieht keinen Grund für Nachbesserungen: „Dass diese Gestaltung in der Lebenswirklichkeit tatsächlich in nennenswertem Umfang angewendet wird, erscheint wenig wahrscheinlich“, so wird das Bundesarbeitsministerium zitiert. Glaube statt Wissen, das ist sowieso ein Strukturmoment der neueren Sozialgesetzbung.

Abschließend wieder zurück zu den eigentlich Betroffenen: Für die stellt sich das teilweise ganz anders dar als auf Seiten derjenigen, die jetzt eine „Frühverrentungswelle“ befürchten. Bereits angesprochen und hier noch einmal aufgerufen: Eines der Gerechtigkeitsprobleme, das aus dem bislang gefundenen Kompromiss zur Nichtanrechnung von Arbeitslosengeld I-Zeiten nach dem 61. Lebensjahr resultiert, ist die Tatsache, dass man zugleich eine weitere Ausnahme von dieser Regelung vereinbart hat, die vorsieht, dass dieser Ausschluss dann nicht greift, wenn der Arbeitslose deshalb Arbeitslosengeld I bezieht, weil sein Betrieb Insolvenz angemeldet hat. Wenn aber das Unternehmen nicht völlig den Bach runter geht, sondern „nur“ einzelne ältere Arbeitnehmer mit 61 Jahren entlässt, dann greift wieder die Nicht-Anrechnung. Wenn wir uns so einen Fall praktisch vorstellen, dann erweist sich das jetzt aufgezeigte „Schlupfloch“ tatsächlich als ein durchaus denkbare „Schleichweg“ oben in die Rente mit 63, nämlich in den Fällen, in denen zur Erfüllung der 45 Beitragsjahre gerade ein oder zwei Beitragsjahre fehlen. Die davon betroffenen können und werden – sollte es nicht noch eine nachträgliche Änderung im Gesetzentwurf geben – von der Möglichkeit Gebrauch machen, über einen Minijob die Voraussetzungen dann doch noch erfüllen zu können. Ihnen kann man es sicherlich am wenigsten verdenken, wenn sie das dann tun.

Ein Teil der weltweiten Flüchtlingswelle strandet auch in Deutschland. Hier suchen Kommunen nach Schlafplätzen, die Regierung plant mal wieder eine Begrenzung des Asylrechts und da war doch noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Im vergangenen Jahr wurde eine weitere markante Marke geknackt – fast 110.000 Menschen haben einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Nach einem kontinuierlichen Rückgang der Asylbwerberzahlen seit Mitte der 1990er Jahre verzeichnen wir seit 2008 wieder stark steigende Zahlen bei den Erst- wie Folgeanträgen im Asylbereich. Und im laufenden Jahr beschleunigt sich diese Entwicklung: In den ersten fünf Monaten des Jahres 2014 wurden 54.956 Erstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegen genommen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 34.419 Erstanträge; dies bedeutet einen Zuwachs um 59,7 % (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe: Mai 2014, S. 3). Diese Entwicklung löst einerseits ganz praktische Probleme vor Ort aus, beispielsweise hinsichtlich der Unterbringung der zu uns kommenden Menschen. Viele Kommunen kämpfen hier mit fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten. Zum anderen aber sehen wir reflexhafte Reaktionen der Bundesebene, die am Asylrecht herumfummeln will, um einen Deckel auf den Topf zu bekommen, dabei aber zugleich eine – eigentlich mal wieder recht eindeutige – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 umsetzen muss.

Die Zahlen zur Entwicklung der Asylanträge müssen eingebettet werden in einen globalen Zusammenhang, den die UNO-Flüchtlingshilfe mit Blick auf das zurückliegende Jahr 2013 so beschreibt: »Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es auf der Welt über 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene. Ein Grund hierfür ist der Krieg in Syrien, der innerhalb kürzester Zeit 2,5 Millionen Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten zwang und 6,5 Millionen Menschen im Land selbst vertrieben hat. Ein weiterer Grund sind die gewaltsamen Konflikte in Afrika, in der Zentralafrikanischen Republik, dem Kongo und Südsudan, die kein Ende nehmen wollen.« Besonders betroffen von dieser gewaltigen Flüchtlingswelle sind nicht die reichen Industriestaaten, sondern die armen Länder der Welt, denn: 9 von 10 Flüchtlingen (86%) leben in Entwicklungsländern. Viele Flüchtlinge sind also für das hier relevante Thema – Asylbewerber in Deutschland – gar nicht relevant. Dazu die UNO-Flüchtlingshilfe:

»Die Gruppe der Flüchtenden teilt sich in drei Gruppen. so wurden insgesamt 16,7 Millionen Flüchtlinge gezählt, die höchste Zahl seit 2011. Gleichzeitig waren 33,3 Millionen Menschen innerhalb ihre Landes auf der Flucht und 1,1 Millionen Menschen stellten einen Asylantrag – die Mehrzahl von ihnen in Industriestaaten.«

Man kann es drehen und wenden, wie man will – die Zunahme der Zahl an Menschen, die in Deutschland Aufnahme suchen, auch wenn die Erfolgsquoten im Asylbereich äußerst niedrig sind, ist ein gesellschaftspolitisch überaus heikles Thema. Man spürt förmlich die Angst der politischen Entscheidungsträger, dass ihnen die Entwicklung aus dem Ruder läuft und innergesellschaftliche Konflikte produziert werden. Man muss in diesem Kontext auch sehen, dass Deutschland parallel zu den Asylbewerbern mit einer stark ansteigenden Zuwanderung beispielsweise aus den Armenhäusern der Europäischen Union konfrontiert ist. Auch für das laufende Jahr wird eine Netto-Zuwanderung von über 400.000 Menschen erwartet. Der gesamtgesellschaftliche Blick auf diese Zuwanderung ist das eine, das andere ist die Realität, dass diese Menschen nicht gleichverteilt sind über die Bundesrepublik, sondern dass sie gerade in den Großstädten und dort, wo es aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung gleichzeitig auch viele lebenspraktische Folgeprobleme gibt, wie beispielsweise eine zunehmende Wohnungsnot, aufschlagen. Wenn dann noch aufgrund der Verteilungsschlüssel deutlich mehr Asylbewerber zugewiesen werden, dann bildet sich hier und da immer stärker das Gefühl heraus, dass man überfordert ist bzw. wird. Man schaue sich nur beispielhaft die Konflikte in einigen Städten an, aktuell die Auseinandersetzungen um die Räumung der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Parallel dazu die zunehmenden Schwierigkeiten vieler Städte, genügend Unterbringungsmöglichkeiten zu finden: »Hamburgs SPD-Sozialsenator Detlef Scheele warnt vor dramatischen Zuständen bei der Unterbringung von Flüchtlingen: „Wir haben keine freien Plätze“, so der Sozialsenator ) in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht überraschend, dass man auf der bundespolitischen Ebene versucht, durch Eingriffe in das Asylrecht wenigstens auf einen Teil des Topfes einen Deckel aufzusetzen. Das Ergebnis dieser Reaktionsweise lässt sich dann mit solchen Schlagzeilen beschreiben: Schwarz-rote Bundesregierung will Asylrecht verschärfen: »Die Große Koalition plant eine Verschärfung des Asylrechts. Hintergrund sind die wieder deutlich steigenden Zahlen von Asylanträgen in Deutschland. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) rechnet für dieses Jahr mit bis zu 200.000 Asylanträgen – im vorigen Jahr waren es noch rund 127.000.« Auf die Verschärfung des Asylrechts haben sich die Partei- und Fraktionschefs geeinigt, so der Bericht. Was heißt das konkret? Es geht um eine bestimmte Gruppe unter den Asylsuchenden, etwa 20% der Fälle, deren Anträge aber zu 99% nicht anerkannt werden: Es geht um Menschen aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. Hier will die Bundesregierung tätig werden – und zwar so:

»Alle drei sollen nach einem Gesetzentwurf als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Folge: Schnellere Verfahren, kürzerer Aufenthalt, weniger Kosten für Sozialleistungen und eine Umkehr der Beweislast. Der Staat nimmt an, dass der Antrag unbegründet ist – der Asylbewerber muss das Gegenteil beweisen. Vorbild sind Frankreich, Belgien und Großbritannien.«

Allerdings kann die Große Koalition die Asylrechtsverschärfung nicht aus eigener Kraft durchsetzen, denn sie ist über den Bundesrat auf die Hilfe der Grünen angewiesen, denn die können das über die Länder, in denen sie (mit)regieren, verhindern.  Und schon sind wir mitten auf dem föderalen Basar: Die Bundesregierung will den Städten mehr Geld in Aussicht stellen, denn die Flüchtlingsproblematik ist in einigen Großstädten ganz besonders extrem ausgeprägt. Gegenüber den Bundesländern wird zugleich der besonders SPD und Grünen wichtige Doppelpass von der Union derzeit blockiert, um das als Faustpfand für die anstehenden Verhandlungen zu nutzen. Die Regelung über den Doppelpass soll nur verabschiedet werden, wenn gesichert ist, dass auch die Regelung mit den „sicheren Herkunftsstaaten“ kommt, was in rot-grünen Bundesländern als Erpressungsversuch gewertet wird.

Aber da ist noch eine andere große Baustelle für die Bundesregierung: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 geändert werden. Das BVerfG verkündete damals kurz und bündig: Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig. Es ging um die Frage, ob die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verfassungsgemäß seien. Die Antwort aus Karlsruhe war eindeutig: Nein.

»Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich für den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu treffen.«

Die Deutlichkeit des Richterspruchs kann man auch daran erkennen: Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung wurde  »angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen« eine Übergangslösung dergestalt verfügt, dass ab dem 01.01.2011 ab dem 1. Januar 2011 die Höhe der Geldleistungen nach den Maßgaben des SGB II und XII zu berechnen sei – rückwirkend für nicht bestandskräftig festgesetzte Leistungen ab 2011 und für die anderen ab der Urteilsverkündung im Jahr 2012.

Also: Das BVerfG hatte im Juli 2012 das Asylbewerberleistungsgesetz  in entscheidenden Teilen für grundrechtswidrig erklärt und eine sofortige Erhöhung der Leistungen verlangt. Seither bekommen Asylbewerber mehr Geld, eine gesetzliche Regelung legt die Bundesregierung aber erst jetzt vor – bzw. einen Gesetzentwurf.

Unter der Überschrift »Regierungspläne „inhuman“. Wohlfahrtsverband kritisiert Leistungsgesetz für Asylbewerber« wird in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung am 21.06.2014 über die Inhalte des – noch nicht abgestimmten – Referentenentwurfs aus dem Bundesarbeitsministerium berichtet:

»Danach sollen erwachsene, alleinstehende Asylbewerber künftig 352 Euro im Monat erhalten und Verheiratete je 316 Euro. Die Bundesregierung hält jedoch daran fest, dass Flüchtlingen der größere Teil dieses Betrags grundsätzlich in Form von Sachleistungen zukommt. Allerdings soll Asylbewerbern künftig ein weit höherer Bargeld-Anteil als bisher zustehen. So sollen Alleinstehende 140 Euro in bar erhalten. Die meisten Flüchtlinge bekommen jedoch ohnehin mehr Geld in die Hände, weil die Mehrheit der Bundesländer bei der Versorgung von Asylbewerbern vor allem auf Geld- statt auf Sachleistungen setzt.
Zudem müssen Asylbewerber künftig nur noch zwölf Monate statt wie bisher vier Jahre mit den verringerten Leistungen auskommen. Sollte ihr Verfahren länger dauern, werden sie danach nach den üblichen Hartz-IV-Regeln versorgt. Auch diese Änderung folgt Vorgaben aus Karlsruhe: Die Verfassungsrichter hatten Minderleistungen nur für kurzfristige, nicht auf Dauer angelegte Aufenthalte erlaubt.«

Die allgemeine Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfs fällt kritisch-distanziert aus, beispielsweise in dem Kommentar „Sachleistungen statt Selbständigkeit“ von Jan Bielicki, ebenfalls in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2014, der sich auf die Umsetzungspflicht des BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2012 bezieht:

»Der jetzt vorgelegte Gesetzesentwurf setzt dieses Urteil artig um – viel mehr aber tut er nicht. Weiter hält er etwa an dem Prinzip fest, Asylbewerber vor allem mit Sachleistungen zu versorgen, statt ihnen Geld zu geben – und das, obwohl die Bundesländer, darunter sogar Bayern, von diesem entmündigenden Verfahren mehr und mehr abrücken. Die Chance, nach dem Karlsruher Urteil den Umgang mit Flüchtlingen grundsätzlich neu zu ordnen, hat die Bundesregierung nicht ergriffen.«

Noch weitaus schärfer hat sich der Paritätische Wohlfahrtsverband zu Wort gemeldet: Paritätischer kritisiert Regierungspläne als inhuman und verfassungswidrig – so ist deren Pressemitteilung überschrieben.  Der Paritätische kritisiert dabei »die auf Nothilfe und Akutversorgung beschränkte medizinische Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland. Der jetzt bekannt gewordene Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes klammere den Bereich der medizinischen Versorgung komplett aus.« Rolf Rosenbrock vom Paritätischen wird mit diesen Worten zitiert: „Insbesondere eine angemessene medizinische Versorgung Traumatisierter oder chronisch Kranker ist nicht gewährleistet“. Der Wohlfahrtsverband fordert die ersatzlose Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und damit die Gleichbehandlung von Asylbewerbern mit Hartz IV- und Sozialhilfebeziehern.

Das nun wiederum werden viele Politiker angesichts der schon genau absehbaren Schlagzeilen z.B. in der BILD-Zeitung mit Sicherheit zu vermeiden wissen.

Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen?

Seit Monaten wird die Politik mit Forderungen nach Ausnahmen von dem zu erwartenden gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn bombardiert. Ursprünglich sollte der Mindestlohn ohne irgendeine Ausnahme seine Funktion als unterste Haltelinie im Lohngefüge entfalten können. Doch schon die Formulierung im Koalitionsvertrag, dass man mit den Branchen über die Umsetzung des Mindestlohnes sprechen und verhandeln wolle, öffnete die Tür für Ausnahmeregelungen. Bislang haben sich vor allem drei Bereiche herauskristallisiert, bei denen der Mindestlohn keine Anwendung finden wird: Zum einen gilt er nicht für die Jugendlichen bis 18 Jahre, auch alle Langzeitarbeitslosen sollen in den ersten sechs Monaten ihre Beschäftigung von der Anwendung des Mindestlohns ausgenommen werden können und bestimmte Praktika sind ebenfalls ausgegliedert worden. Hinzu kommt, dass es eine Übergangslösung dergestalt gibt, dass in Branchen, die tarifvertraglich niedrigere Löhne vereinbart haben als die vorgesehenen 8,50 € pro Stunde Mindestlohn, bis Ende 2016 auf die Anwendung des eigentlich höheren Mindestlohnsatzes verzichtet werden kann.
In den vergangenen Wochen sind zahlreiche Branche Sturm gelaufen gegen ihre Nicht-Berücksichtigung bei den Ausnahmeregelungen: beispielsweise die Taxi-Branche, die Landwirte für die bei ihm beschäftigten Saisonarbeiter oder der gesamte Bereich der Gastronomie. Bislang erfolglos. Aber eine Branche scheint durchgekommen zu sein: die Zeitungsverleger.

Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV) gibt es etwa 160.000 Zeitungsausträger. Die Mehrzahl davon sind geringfügig Beschäftigte, also Minijobber. Und die Verleger haben Zeter und Mordio geschrieen und sie sind offensichtlich erhört worden in den heiligen Hallen des Bundesarbeitsministeriums. Zumindestens scheint man ihnen ein Kompensationsangebot zu machen, folgt man solchen Meldungen: Nahles will Verleger beim Mindestlohn entlasten. Danach soll es so aussehen, dass zwar der Mindestlohn grundsätzlich auch für die Zeitungsausträger Anwendung finden würde, gleichzeitig man aber die damit verbundenen höheren Kosten an einer anderen Stelle teilweise kompensieren will, indem den Arbeitgebern ein Teil der Sozialabgaben erlassen wird:

»Den Zeitungsverlegern würden für fünf Jahre befristet geringere Sozialabgaben für Minijobber unter den Zeitungsboten eingeräumt. Dadurch würden nach Nahles‘ Worten etwa 60 Prozent der Mindestlohn-Mehrkosten für die Zeitungsverleger ausgeglichen. Diese hatten argumentiert, durch die Umstellung auf einen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde entstünden ihnen Mehrkosten von 225 Millionen Euro … Die Regierungskoalition bietet den Zeitungsverlegern den Angaben nach an, dass sie für fünf Jahre für Minijobber nur die geringeren Sozialabgaben wie in Privathaushalten zahlen. Das macht einen Unterschied von rund 18 Prozentpunkten aus: Für Minijobs im privaten Bereich fallen inklusive der Pauschalbesteuerung für Arbeitgeber 12,5 Prozent des Lohns an Abgaben an. Im gewerblichen Bereich sind es 30 Prozent.«

Wenn es zu dieser Lösung kommt, die jetzt diskutiert werden muss von den Regierungsfraktionen, dann wäre die Zeitungsbranche die einzige, die eine spezielle Ausnahmeregelung zugestanden bekommt. Da drängt sich natürlich sofort die Frage auf, ob es nicht auch für andere Branchen dann weitere gute Gründe gibt, auf Ausnahmeregelungen zu pochen. Die Kritik seitens der Opposition lässt nicht lange auf sich warten:

»Die Grünen-Politikerin Brigitte Pothmer nannte es ein Unding, dass Nahles der Zeitungsbranche „eine Rabatt-Regelung bei den Minijobs“ anbiete: „Dieser Kuhhandel müsste sofort wieder vom Tisch, denn sonst würden auch andere Branchen mit vielen Minijobs wie zum Beispiel die Gastronomie eine solche Sonderregelung verlangen.“ Die Zeche zahlen müssten die Sozialversicherungen, denen Beitragseinnahmen entgingen.« (Quelle: Lockerung für Mindestlohn der Zeitungsträger).

Man könnte natürlich auch die Hypothese aufstellen, dass die Politik hier gegenüber einer ganz speziellen Branche deshalb nach einer Ausnahmeregelung sucht, weil sie die Meinungsmacht und die Einflussmöglichkeiten über das, was da ausgetragen wird, fürchtet. Wie dem auch sei, ein „Geschmäckle“ hat die ganze Sache schon. Darüber hinaus muss man sehen, dass auch die jetzt diskutierte „Lösung“ das betriebswirtschaftliche Grundproblem der Zeitungsbranche hinsichtlich Ihrer Zeitungsausträger nicht löst, denn das besteht in der Tatsache, dass bislang ein Stück Lohn gezahlt wird, denn nun auf einen Stundenlohn umgestellt werden muss. An diesem grundsätzlichen Wechsel wird auch bei dem Kompensationsangebot festgehalten. Man wird sehen, wie die Branche auf diesen Vorschlag seitens der Politik reagiert. Bislang haben sich die Verleger noch nicht zu Wort gemeldet, sie müssen sich noch sortieren.

Sollte die Lösung so kommen, wie über sie derzeit berichtet wird, dann kann man deren Charakter als ein „Notnagel“ auch daran erkennen, dass es keine wirklich systematische Lösung ist, um das noch nett auszudrücken. Denn wenn es eine Entlastung bei den Abgaben für die geringfügig Beschäftigten geben sollte, dann stellt sich natürlich die Frage, was dann mit Zeitungsausträgerin ist, die oberhalb der Schwelle des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses liegen. Für die gäbe es dann ja gar keine Entlastung. Das wirkt doch alles mehr als unausgegoren und vermittelt den Eindruck, dass hier eine Baustelle notdürftig versorgt werden soll.