Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal

»Die Personalbesetzung der pflegerischen Berufsgruppen in deutschen Krankenhäusern liegt auf einem grenzwertig niedrigen Niveau, sodass häufig nicht gewährleistet ist, dass alle notwendigen pflegerischen Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden können. Sowohl die internationalen Vergleiche der Betreuungsrelation (im Sinne Verhältnisses von Patienten je Pflegekraft) als auch die nationalen Studien zur Belastungssituation in der Pflege zeigen einen gesundheitspolitischen Handlungsbedarf auf« (Thomas et al. 2014: 29). Diese akademisch daherkommende Beschreibung dessen, was andere hemdsärmeliger als real existierenden Pflegenotstand bezeichnen, kann man in einer neuen Studie nachlesen, die im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di von einem Wissenschaftlerteam der Universität Duisburg-Essen unter Leitung von Jürgen Wasem erstellt worden ist: Instrumente zur Personalbemessung und ‐finanzierung in der Krankenhauspflege in Deutschland, so lautet der Titel der Expertise. Und sie beschäftigt sich angesichts der teilweise desaströsen Beschäftigungsbedingungen in zahlreichen Krankenhäusern mit einem  wichtigen Thema, von dem viele unbedarfte Bürger gar nicht ahnen werden, dass es ein Thema ist: mit der Frage, ob es notwendig und vor allem ob es möglich ist, seitens des Gesetzgebers Mindeststandards für die Personalausstattung der Krankenhäuser im pflegerischen Bereich vorzugeben. 

Das Handlungsbedarf besteht ist unübersehbar. Man kann es auch in nackten Zahlen auszudrücken versuchen: Derzeit ist die Personalausstattung in den Krankenhäusern alles andere als optimal. Laut der Gewerkschaft ver.di fehlen insgesamt 162.000 Beschäftigte, allein 70.000 in der Pflege. Diese Situation hat viel mit der Einführung des DRG-Systems vor gut zehn Jahren zu tun, mit dem die Krankenhausfinanzierung in Deutschland von dem damals geltenden System krankenhausindividueller tagesgleicher Pflegesätze sukzessive umgestellt wurde auf landes- und bundesweit einheitliche durchschnittskostenkalkulierte Fallpauschalen.

Mit dem neuen Fallpauschalen-System verfolgte man mehrere Ziele, unter anderen wollte man eine Kostensenkung erreichen durch eine Reduzierung der Verweildauer in den Krankenhäusern und eine Angleichung der mit ihren Kosten über den Fallpauschalen liegenden Krankenhäusern. Die Auswirkungen dieses neuen Systems sind mittlerweile klar erkennbar: Mit Blick auf die Pflege ist zu beobachten, dass es eine erhebliche Arbeitsverdichtung gegeben hat, dies vor allem aufgrund der deutlichen Verkürzung der Verweildauer der Patienten in den Kliniken, was dazu geführt hat, dass die im alten System immer vorhandenen Patienten, die im Grunde nur Hotellerie-Leistungen am Ende ihrer Aufenthaltsdauer in Anspruch genommen haben, heute in den Krankenhäusern schlichtweg nicht mehr vorhanden sind, was natürlich auf der anderen Seite eine deutliche Erhöhung der Pflegeintensität bedeutet. Gleichzeitig gab es aus Sicht des Krankenhausmanagements starke Anreize, beim Pflegepersonal, dass weiterhin den größten Kostenblock innerhalb des Personals darstellt, Einsparungen vorzunehmen, dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass gleichzeitig mehr Ärzte beschäftigt und damit finanziert werden mussten (auch durch Veränderungen bei den Arbeitszeitregelungen), sowie eine Ausweitung des Personals im Verwaltungsbereich, vor allem in den Bereichen Codierung und Controlling.

»Eine direkte Folge des Systemumstiegs … (war), dass die Zahl der Ärzte an deutschen Krankenhäusern stetig zugenommen habe: von 114.105 Vollzeitstellen im Jahr 2003 auf 138.955 im Jahr 2011. Denn wichtig sei eben das Personal, das abrechenbare Leistungen generieren könne. Die Zahl der Pflegekräfte sei demgegenüber von 320.158 Vollzeitstellen im Jahr 2003 zunächst auf 298.325 Stellen im Jahr 2007 gesunken, bevor sie bis 2011 wieder auf 310.817 Stellen angestiegen sei. Grund für den erneuten Anstieg sei die zunehmende Arbeitsverdichtung im Krankenhaus gewesen. Zugenommen habe zwischen 2003 und 2011 auch die Zahl der Mitarbeiter im Verwaltungsdienst, erklärte Asché: von 57.927 auf 59.759 Vollzeitstellen. Denn mit dem DRG-System seien neue Berufsgruppen wie Kodierfachkräfte entstanden« (Falk Osterloh: 10 Jahre DRG-System: Mehr Ärzte, mehr Kodierfachkräfte, in: Deutsches Ärzteblatt, H. 10/2014, A 380). Für eine fundamentale Kritik am DRG-System vgl. beispielsweise den Beitrag von Michael Simon: Das deutsche DRG-System: Grundsätzliche Konstruktionsfehler, in: Deutsches Ärzteblatt, H. 39/2013, A 1782 ff. Simon kommt zu der Schlussfolgerung: »Knapp zehn Jahre nach Einführung des DRG-Systems in Deutschland wird deutlich: Die Entwicklung des Versorgungsangebots im stationären Sektor darf nicht allein den unkalkulierbaren Wirkungen eines reinen Preissystems überlassen werden.«

Die Pflegekräfte »müssen sich nicht nur um mehr Patienten kümmern, die einzelnen Fälle wurden aufgrund der demographischen Entwicklung und der kürzeren Liegezeiten auch viel aufwendiger. Das DRG-System beinhaltet zudem einen „Kellertreppeneffekt“: Der Abbau von Pflegepersonal verringert die Kostenanteile der Pflege in den Fallpauschalen, was den Druck, weitere Stellen zu streichen, erhöht«, so Daniel Behruzi in seinem Artikel Nötig und möglich, in dem er über die neue Studie berichtet.

Die Verfasser der Studie plädieren angesichts der Personalnot in den Kliniken für eine gesetzliche Personalbemessung. Diese könne am ehesten mit Hilfe von Systemen entwickelt werden, die den tatsächlichen Pflegeaufwand erfassen. An dieser Stelle kommt dann immer der Einwand, dass ein solcher Ansatz nicht kompatibel sei mit dem DRG-System. Dem widersprechen die Gutachter: Die Erfahrungen mit der PPR zeigten, dass solche Instrumente »ohne weiteres ins DRG-System einzufügen sind«.

In einem PflegeWiki-Beitrag zum Terminus PPR findet man die folgenden Hinweise: »PPR ist eine Abkürzung für die „Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)“. Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt … Manche Krankenhäuser verwendeten die PPR jedoch noch als internes Steuerungsinstrument weiter. Seit 2006 fließen die PPR-Zahlen in die DRGs mit ein, so dass Krankenhäuser, die viele pflegebedürftige Menschen versorgen, entsprechend höhere Umsätze erzielen können.«

In ihrer Zusammenfassung schreiben die Gutachter: »Unter den derzeit geltenden Rahmenbedingungen erscheint am ehesten eine Weiterentwicklung der PPR … und eine Ausfinanzierung der ermittelten Vollkraftstellen, in Kombination mit einer Zweckbindung der zugewiesenen Mittel geeignet, um die Personalsituation in der Pflege zu verbessern und eine gute Versorgungsqualität zu gewährleiten. Dabei sind allerdings Auswirkungen auf andere Leistungsbereiche im Krankenhaus nicht zu vernachlässigen und die negativen Effekte einer Zweckmittelbindung sorgsam abzuwägen. Ebenfalls müsste gewährleistet sein, dass die individuelle Situation der Pflege in den Krankenhäusern (z.B. die technischen Rahmenbedingungen) bei der Personalbemessung berücksichtigt werden kann« (Thomas et al. 2014: 6).

Man sieht schon an der Formulierung, dass zwar einerseits für eine gesetzliche Personalbemessungsvorgabe votiert wird, allerdings zahlreiche Hürden gesehen werden.