Das große Durcheinander auf dem Arbeitsmarkt – und die vielen Baustellen jenseits des Gewohnten. Von Crowdworkern, Pauschalisten, der ominösen Industrie 4.0 und dem Kampf um feste Strukturen in Zeiten zunehmender Verflüssigung von Arbeit

Früher war ganz sicher nicht alles besser – aber es war irgendwie einfacher und geordneter und verlässlicher, wenn das auch nicht selten auf Kosten der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ging. Eine Vielzahl an vorgezeichneten Bahnen lenkten die Lebens- und damit auch Berufswege der Menschen. Man konnte sich nur schwer aus den Leitplanken seiner Herkunft, seiner Familie befreien und musste Dinge tun, die einem auferlegt wurden, ohne dass man überhaupt gefragt wurde. Nun könnten Berufsskeptiker bereits an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bei aller Unübersichtlichkeit auch und gerade heute solche Dinge wie der familiale Hintergrund und die Schichtzugehörigkeit eine mindestens genau so bedeutsame, wenn nicht sogar stärkere Rolle spielen, aber das ist hier nicht der Punkt.

Es geht um die schlichte, allerdings nicht triviale Feststellung, dass wir uns mit Blick auf die Arbeitsmärkte an einer dieser Zeitenwenden befinden, die allerdings nicht als ein klares Entweder-Oder, ein Hier-und-Drüben, ein Weiß und Schwarz daherkommen, sondern die wie alle hochkomplexen sozialen Veränderungen in den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Systemen eher ruckelnd, auf leisen Sohlen, mit völlig unterschiedlichen Tempi und garniert mit scheinbaren Rückwärtsbewegungen hier und da ablaufen und angesichts der anschwellenden Unübersichtlichkeit und der daraus resultierenden zahlreichen Gegenbeispiele eher zu einer Sedierung der Beobachter und Akteure führt hinsichtlich der langsam, aber sicher an Fahrt aufnehmenden grundlegenden Veränderungen der Arbeitswelt.

Um es an dieser Stelle zuzuspitzen: So notwendig und kräftezehrend beispielsweise der Kampf um den gesetzlichen Mindestlohn war, so wichtig das Streiten für betriebliche Mitbestimmung und tarifliche Ordnungsstrukturen ist, was die tägliche Arbeit – und auch die Berichterstattung in diesem Blog – prägt, so notwendig bleibt doch die Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit diesem noch sehr ungenauen Gefühl, dass in Zeiten, die man mit Chiffren belegt wie Crowdworking, Industrie 4.0 usw., die gewachsenen Ordnungselemente brüchiger werden oder sich gar aufzulösen beginnen, an die man aber die zumeist als Verteidigungskämpfe ausgerichteten sozialpolitischen Kämpfe bindet und auch binden muss, wenn man die gewachsenen, oftmals in der Vergangenheit hart erkämpften Strukturen und Prozesse gegen Übergriffe und Abbauversuche zu verteidigen versucht.

Nehmen wir nur als ein Beispiel die Arbeitszeit. Gerade die jüngste große Schlacht um den gesetzlichen Mindestlohn hat gezeigt, welche Bedeutung eine Normierung und Abgrenzung von Arbeitszeit in einem „klassischen“ Sinne hat. Der Mindestlohn ist als ein Stundenlohn konzeptualisiert worden und mithin ist die Dokumentation sowie daraus abgeleitet die Kontrolle der Einhaltung sowie die Verfolgung einer Abweichung von den mit einem Euro-Betrag belegten Arbeitsstunden unauflösbar verbunden mit der konkreten Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes. Man kann zeigen, dass von Ausnahmen abgesehen weniger die Höhe des Lohnes pro Stunde das wirkliche Problem vieler Unternehmen darstellt, sondern der durch eine ehrliche Dokumentation sichtbar werdende Konflikt mit den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes. Man denke hier nur an die Probleme der Gastronomie.

Auch hier kann man zuspitzen: Der gesetzliche Mindestlohn folgt der Logik des „Kettenhemdes“ der tariflich geregelten Arbeitszeit der „alten Welt“ (wobei hier gleich angemerkt werden soll, dass der Terminus „alte Welt“ hier nicht negativ konnotiert ist, also keine abwertende Bedeutung hat, denn diese alte Welt hat eine ganze Reihe an handfesten Vorteilen für die große Masse der Bevölkerung). Also eine klare, eindeutige – im industriellen Arbeitszeitregime durch die Stech- oder Stempeluhr symbolisierte – Abgrenzung von Arbeitszeit (in aller Regel in einer Fabrik, einem Büro, einem vom eigenen anderen Leben irgendwie abgegrenzten Raum) zur „Freizeit“. Nicht umsonst gibt es ausgehend vom Normalfall einer derart normierten Arbeitszeit (in der Regel von 8 bis 16 Uhr als Kernbereich) für alle abweichenden Fallkonstellationen, man denke hier an Nachtarbeit, Wochenendarbeit, Schichtarbeit, monetäre Zuschläge im Sinne eines Nachteilsausgleichs. Und man muss der Ehrlichkeit halber an dieser Stelle darauf hinweisen, allem Gerede über angebliche „neue Welten“ zum Trotz arbeiten immer noch viele Menschen in diesem strukturierten und gerade in der Industrie wohlgeordneten Gehäuse. Aber verweilen wir einen Moment beim Beispiel Industrie, die ja gerade in der deutschen Volkswirtschaft eine bedeutsame Rolle spielt: Neben der relativ gesehen wohlgeordneten Arbeitszeitwelt der Stammbelegschaft hat sich seit vielen Jahren darum herum eine wachsende Schicht der Randbelegschaften aufgebaut, für die oftmals gilt, dass deren Arbeitszeiten länger, oftmals unregelmäßiger sind und vor allem zu den ungünstigeren Zeiträumen platziert werden.

Und wenn man dann den Blick weitet, dann fallen einem sofort und in aller Deutlichkeit die Ausfaserungen des Normalmodells auf. Wie wäre es beispielsweise mit der „Mindestlohn-Arbeitszeit“ in ihrer offiziellen Ausprägung und der vielerorts beklagten Schattenwelt der unbezahlten Mehrarbeit als eine der wichtigsten Versuche des Unterlaufens des Mindestlohnes? Wobei – das kann hier nicht vertieft, sondern nur angerissen werden – auch diese Schattenwelt zahlreiche Farbtöne enthält, die vom klassischen Missbrauch eines kostensenkungsfixierten Arbeitgebers reicht bis hin zu durchaus lebenspraktischen win-win-Arrangements zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die man beispielsweise in vielen kleineren Unternehmen der Gastronomie finden kann.

Oder wie wäre es mit den – betriebswirtschaftlich erst einmal absolut rationalen, für die Betroffenen allerdings hoch problematischen – Entwicklungen im Einzelhandel, „Arbeitszeitpakete“ zu schnüren unterhalb der Vollzeitgrenze, die aber nicht mehr an eine vorgegebene Lage, geschweige denn an den Korridor der alten Normalarbeitszeit gekoppelt sind, korrespondierend mit der gewaltigen Verlängerung der Ladenöffnungszeiten in den zurückliegenden Jahren. Oder an dieser Stelle mehr als passend: Wie wäre es mit der „Amazon-induzierten Sonntagsarbeit in den Innenstädten“? Hierbei handelt es sich derzeit (noch) um eine Forderung, in Zukunft die regelmäßige Öffnung der Geschäfte am Sonntag zu ermöglichen, damit die Kunden dort einkaufen können, was sie ansonsten schon tun können 24 Stunden pro Tag an sieben Tagen in der Woche – allerdings im Internet.

Oder noch schlimmer und ganz weit weg von den konzeptionellen Grundlagen des gesetzlichen Mindestlohnes: Wie wäre es mit dem „Arbeitszeit-Irrlicht“ bei den Selbständigen? Hier tut sich ein eigenes Universum auf, das von der undokumentierten Selbstausbeutung innerhalb des Familienunternehmens aus dem migrantischen Gemüsehändlermilieu bis hin zu den langen, aber in Teilbereichen selbstbestimmt fragmentierten Arbeitszeiten in der Kreativwirtschaft reicht.

Man könnte das jetzt erheblich erweitern und ausdifferenzieren – der Punkt an dieser Stelle ist: Viele Regelwerke, die wir in der Sozialpolitik haben, orientieren sich an Arbeitszeitformen, die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben bzw. die von der Gewerkschaftsbewegung erkämpft worden sind. Und die stoßen nun zwangsläufig und in aller Regel unter heftigen Schmerzen auf neue arbeitsweltliche Konstellationen. Die vielbeschriebenen, im Vergleich dazu empirisch allerdings eher noch in embryonaler Größenordnung befindlichen Crowdworker mögen hier als Beispiel genannt werden, Vgl. dazu den Artikel Flexibel, selbstbestimmt, von Zuhause aus – schöne neue Arbeitswelt? In diesem Artikel wird Carolin Kresse porträtiert. Sie ist eine Click- oder auch Crowdworkerin. Sie schreibt Texte für Auftraggeber, die sie nicht kennt. Ihre Jobs bekommt sie über ein Onlineportal (in diesem Fall Textbroker, es gibt aber auch zahlreiche andere Portale, die sich in diesem Segment tummeln).

»Nach dem Soziologie- und Journalismus-Studium hatte sich die 24-Jährige auf zwei, drei Stellen beworben, aber sie bekam keine Rückmeldung. Also baute sie das Texten im Internet zur Freiberuflichkeit aus. 20 Stunden in der Woche reichen ihr – damit verdient sie etwa 1.000 Euro netto. Genug, findet sie: „Am meisten reizt mich, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann … Beim Texten habe ich den Vorteil, dass ich zu Hause sein und mir meine Arbeit so einteilen kann, wie es mir am besten passt.«

Natürlich müssen an dieser Stelle auch die kritischen Töne kommen, vor allem aus dem gewerkschaftlichen Lager:

»… bislang hätten viele Freiberufler, die bei Portalen angemeldet sind, oft nur wenig Rechte, sagt Vanessa Barth vom IG-Metall-Vorstand: „Im Vergleich zum Arbeitsverhältnis haben sie als Crowdarbeiter keine Absicherung, keine Entgeltfortzahlung bei Krankheit, keine Beiträge zur Sozialversicherung. Die Verdienste sind aber bei den meisten nicht so hoch, dass sie sich selbst ausreichend absichern könnten.“ Auch Carolin Kresse weiß das. Deswegen sieht sie sich eher als Einzelkämpferin und weniger als Teil der Crowd – also der Gruppe von anderen Netzarbeitern.«

Das Ziel der IG Metall ist es, die Arbeitsbedingungen dieser Netzarbeiter zu verbessern. Man kann sich ohne große Verrenkungen vorstellen, was für eine herkulische Aufgabe das darstellt.

Bleiben wir bei den Gewerkschaften, die ja auch als ein zentraler Bausteine der „alten Welt“ bezeichnet werden können – wie auch die Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite. Und beide arbeiten sich gerade ab am Thema „Industrie 4.0“.

Digitalisierung zur Deregulierung nutzen – das scheint die Strategie der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) zu sein. Durch Technikeinsatz verändern sich Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen radikal. Die Mitbestimmung müsse sich dem Tempo der Digitalisierung anpassen, so die BDA. Das ist deshalb besonders bemerkenswert, weil ansonsten der industrielle Kernbereich in Deutschland angesichts des hohen Organisationsgrades der Gewerkschaften in der Vergangenheit eher ein Lehrbuchbeispiel für konfliktvermeidende Sozialpartnerschaft war und sicher in vielen Bereichen heute auch noch ist. Aber- so Marcus Schwarzbach in seinem Artikel Gewünschte Deregulierung:

»Die Hoffnung der Gewerkschaften, sich durch Qualifizierungstarifverträge speziell für digitale Arbeit profilieren zu können, wird von den Unternehmen zerstört. Beschäftigte durch Weiterbildung auf die neue Arbeitswelt vorbereiten zu können, sieht die BDA zwar als »Königsweg zur Anpassung an die Digitalisierung«. Dabei sollen die Kosten aber nicht zu hoch sein. Da die Mitarbeiter von Weiterbildung ebenso profitierten wie der Betrieb, will die BDA, »dass die Beschäftigten mehr Freizeit für die eigene Weiterbildung einbringen«.

Und besonders schmerzhaft für die Gewerkschaften:

»Durch Digitalisierung sollen Werk- und Dienstverträge »an Bedeutung« zunehmen, deshalb dürfe ihr »Einsatz nicht in Frage gestellt werden«, spitzt die BDA ihre Position zu. Während sie von den Angestellten volle Flexibilität fordert, die für diese auch immer eine Einschränkung etwa bei der Lebensplanung bedeutet, weist sie Regeln für sich selbst von sich: »Zeitarbeit und insbesondere die sachgrundlose Befristung müssen auch künftig für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen ohne neue Beschränkungen zur Verfügung stehen.«

Das ist starker Tobak, vor allem angesichts der Tatsache, dass sich gerade die Industriegewerkschaften auf eine andere Schiene gesetzt haben (oder wurden?): So arbeitet Constanze Kurz, Gewerkschaftssekretärin beim IG-Metall-Vorstand gemeinsam mit Unternehmensvertretern an der Kampagne »Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0«, berichtet Marcus Schwarzbach in seinem Artikel.

An anderen Frontabschnitten sieht die Lage noch weitaus düsterer aus. Beispielsweise im Hotel- und Gaststättenwesen. Hier haben die Gewerkschaften ein doppeltes Problem. Zum einen ist der Organisationsgrad der Beschäftigten erheblich niedriger als in den klassischen Industriebranchen (übrigens verbunden mit einem analogen Problem auf der „anderen Seite“ in Form einer Tarifflucht vieler Arbeitgeber) und zudem bekommt man hier die Folgen der Ausweitung des Niedriglohnsektors seit Mitte der 1990er Jahre voll zu spüren. Hier werden dann auch zahlreiche Umgehungsstrategien den Mindestlohn betreffend ausprobiert und praktiziert. In diesem Kontext wäre eine Stabilisierung und darauf aufbauend eine Stärkung des Tarifsystems von entscheidender Bedeutung – und ein Instrumentarium, um das gleichsam „von hinten“ zu erreichen, wäre die stärkere Nutzung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, denn das würde mittel- und langfristig die Tarifflucht der Arbeitgeber umkehren können. Aber auch hier bewegt sich – trotz einer Absichtserklärung im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD hinsichtlich einer Vereinfachung und stärkeren Nutzung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und einer gesetzlichen Neuregelung zum 1. Januar 2015 – bislang so gut wie nichts.

Ein aktuelles Beispiel für die fortbestehende Blockade kommt aus dem Saarland: Heftiger Streit um Löhne in der Saar-Gastronomie, so hat Joachim Wollschläger seinen Artikel überschrieben.
Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) Saarland wirft der Vereinigung der saarländischen Unternehmensverbände (VSU) vor, auskömmliche Gehälter zu verhindern. Was ist passiert? Die NGG im Saarland wirft der VSU vor, sie »habe durch ihr Veto verhindert, dass die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel- und Gastgewerbe nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien … Und das nicht aus sachlichen Gründen, sondern nur aus Prinzip, um nicht im Saarland Vorreiter zu werden, so der Vorwurf.«

Der Pressemitteilung der NGG (VSU betreibt rückwärtsgewandte Blockadepolitik) kann man entnehmen:

»Die Tarifvertragsparteien hatten unter anderem das Ziel, mit einem allgemeinverbindlichem Einstiegsentgelt für Fachkräfte in Höhe von 9,40 €/h, die Attraktivität einer Ausbildung im Gastgewerbe zu steigern und sicherzustellen, dass Fachkräfte flächendeckend mehr Entgelt erhalten als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 €/h. Mit dem ersten Einstieg in die AVE sollte außerdem ein fairer Wettbewerb gewährleistet werden und dem öffentlichen Interesse nach einem zukunftsfähigen Gastgewerbe Rechnung getragen werden. Die AVE der unteren 2 Entgeltgruppen sollte zudem eine Mindestentlohnung für Mitarbeiter im Gastgewerbe ohne Ausbildung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns festschreiben.«

Man muss an dieser Stelle besonders hervorheben: Im Vorfeld des Antrags auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) – wohlgemerkt nicht des gesamten Tarifvertrags, sondern der drei unteren Entgeltgruppen – hatte die Gewerkschaft NGG gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Saar einen Tarifvertrag ausgehandelt und gleichzeitig beschlossen, diesen für die untersten drei Entgeltgruppen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Mit dem Ziel, dass Fachkräfte deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden. Es handelt sich also um eine konzertierte Aktion der beiden Tarifvertragsparteien, nicht nur der Gewerkschaft.

Aber hier wird ein systematisches Problem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offensichtlich. Zwar hat man eine Hemmschwelle beseitigt, aber eben nur eine. Konkret am Beispiel dessen, was im Saarland abläuft:

»Der Gesetzgeber hat zur Erleichterung einer AVE zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2015 die starre Quotenregelung, wo nach 50 % der Beschäftigten einer Branche im antragsstellenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen, zu Gunsten des öffentlichen Interesses aufgegeben.
Leider wurde branchenfremden Verbänden weiterhin eine Veto-Möglichkeit im Gesetz eingeräumt, wie sie die Vereinigung saarländischer Arbeitgeberverbände (VSU) in der Anhörung zur AVE am 9. Juli 2015 im saarl. Wirtschaftsministerium, auch genutzt hat. DEHOGA- Saarland und NGG haben im Rahmen der Anhörung ausführlich Stellung zum Antrag bezogen. Beide Tarifvertragsparteien sind allerdings nicht stimmberechtigt, was aus Sicht der NGG eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellt«, so die NGG Saarland in ihrer Pressemitteilung.

Aber wieder zurück mit Blick auf die „neue“ Arbeitswelt. Gleichsam als Scharnier zwischen den „alten“ und „neuen“ Welt fungieren bereits heute viele, die von einem Tarifvertrag nur träumen können und die zugleich als Experimentierfeld dienen, um zum einen seitens der Unternehmen Personalkosten zu senken und die Risiken aus einem klassischen Arbeitsverhältnis zu verlagern auf die Schultern der „Arbeitnehmer“, die dann immer häufiger unter der Hülle der Selbständigkeit segeln  müssen. Die Medien und hier vor allem die Journalisten sind ein Beispiel dafür. Die Leiharbeiter des Journalismus, so haben Anne Fromm, Jürn Kruse und Anja Krüger ihren Artikel über das Problem Scheinselbständigkeit in den Redaktionsstuben überschrieben. Sie berichten über das System der „Pauschalisten“ oder „feste Freie“, ohne die kaum etwas bei Tageszeitungen und News-Seiten gehen würde. »Pauschalisten erledigen in vielen Zeitungen die tägliche Arbeit, die notwendig ist, damit ihre Zeitung, ihre Nachrichtenseite Tag für Tag in der gewohnten Qualität erscheint. Sie schreiben und recherchieren, redigieren Texte anderer Autoren, planen und bestücken die Seiten, sind blattmacherisch tätig, bestimmen die Themen, über die berichtet wird und betreuen Praktikanten. Festangestellte Mitarbeiter, für die der Verlag ganz regulär Sozialversicherungsbeiträge abführt, Redakteure genannt, sind sie trotzdem nicht.«

Die Vorteile – für den Arbeitgeber – liegen auf der Hand und werden von Fromm und Kruse so beschrieben:

»Indem die Verlage sie als freie Mitarbeiter beschäftigen, sparen sie Buchhaltungsaufwand und eine Menge Geld: Bei einem Bruttogehalt von 3.000 Euro monatlich pro Redakteur sind das etwa 580 Euro an Sozialabgaben. Aufs Jahr gerechnet spart das Unternehmen so fast 7.000 Euro für jeden scheinselbstständigen Mitarbeiter. Darüber hinaus umgehen die Verlage den Arbeitnehmerschutz: Urlaubs- und Krankengeld sind nicht vertraglich geregelt, Kündigungsfristen oft ebenso wenig.«

Und jetzt wird es sozialpolitisch hoch relevant:

»Das System funktioniert, weil die Künstlersozialkasse (KSK) einspringt. Sie übernimmt für freischaffende Künstler und Publizisten den Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungsbeiträge. Für die Betroffenen selbst besteht also zunächst kein finanzieller Nachteil. Das ist einer der Gründe, warum sich kaum jemand öffentlich beklagt. Die Krux aber ist: Die KSK wird zwar zum Teil über pauschale Abgaben von den Verlagen finanziert, aber auch zu 20 Prozent aus Bundesmitteln. Im Jahr 2015 werden das laut KSK-Prognose 186,89 Millionen Euro sein. Wenn man so will, holen sich die Verlage mithilfe dieses Tricks staatliche Subventionen ab, die ihnen so nicht zustehen. Es geht bei dem rechtswidrigen Pauschalistenmodell also nicht nur um Knebelverträge für Mitarbeiter, es geht vor allem um groß angelegten Sozialbetrug.«

Aufgrund der derzeit laufenden Ermittlungen und Verfahren wegen möglicher Scheinselbständigkeit mit erheblichen Rechtsfolgen für die Unternehmen reagieren einige Verlage damit, dass sie sich von den „festen Freien“ trennen, die schon geraume Zeit bei ihnen tätig sind. »Dass das Problem auch zugunsten statt zulasten der freien Mitarbeiter gelöst werden kann, zeigen Tagesspiegel und Zeit Online. Als beim Tagesspiegel im vergangenen Winter eine Buchprüfung anstand, wurden viele Pauschalisten als feste Redakteure angestellt. Auch Zeit Online wandelt derzeit Pauschalisten-Stellen in feste Beschäftigungsverhältnisse um«, schreiben Fromm und Kruse in ihrem Artikel. Sie beschreiben in ihrem Artikel aber auch, dass sich die Betroffenen bislang kaum wehren gegen das System und thematisieren damit an einem konkreten Beispiel eine generelle Unwucht in der „schönen neuen Arbeitswelt“: Immer dann, wenn die Beschäftigung- bzw. Vertragsverhältnisse individualisiert werden, entsteht ein Machtgefälle zuungunsten der „Arbeitnehmer“, dem sich die meisten geschlagen geben müssen. Das ist immer auch eine Frage von Angebot und Nachfrage und nur diejenigen Arbeitnehmer, die zu Berufen mit einer Flaschenhalsfunktion gehören, werden mit einer für sie guten Lösung abgefunden werden, wenn nicht kollektive Strukturen dafür sorgen, das für die anderen zu übernehmen.

Auch in der vieldiskutierten Welt der vor uns liegenden „Industrie 4.0“ bzw. allgemeiner gesprochen der Digitalisierung zahlreicher Arbeitsprozesse, um das mal von der Industrie im engeren Sinne zu lösen, werden wir wieder mit dem Phänomen der „Arbeitszeit“ und dem arbeite- wie auch sozialrechtlichen Umgangs mit ihr konfrontiert. Als ein Beispiel sei hier auf den Artikel Wir brauchen ein neues Arbeitsrecht der beiden Rechtsanwälte Oliver Simon und Maximilian Koschker hingewiesen, die erkennen lassen, welche offenen rechtlichen Baustellen wir hier vorfinden. Daraus nur ein Passus, der die Probleme mit der „Arbeitszeit“ skizziert:

»Anschaulich wird dies etwa beim Thema „Mobiles Arbeiten“. Denn das vereint gleich eine ganze Reihe regelungsbedürftiger Fragestellungen. Und das Arbeiten jenseits des Büros wird nach Experteneinschätzung bis 2025 bei rund einem Drittel aller Beschäftigten die typische Arbeitsform sein.
Sobald Mitarbeiter von unterwegs (zum Beispiel auf Zugfahrten) oder von zu Hause aus Arbeitsaufträgen nachgehen oder auch nur außerhalb der regelmäßigen Bürozeiten erreichbar sind, stellt sich die Frage, ob sie im herkömmlichen Sinne „arbeiten“. Sollte etwa die bloße Erreichbarkeit Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes darstellen, so wäre die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeit zwischen zwei Arbeitseinsätzen faktisch kaum noch möglich. Sollte diese dauerhafte Erreichbarkeit dann auch als Arbeitszeit zu vergüten sein, könnte das die Unternehmen teuer zu stehen kommen.
Hier gelten die folgenden Grundsätze: Erreichbarkeitszeiten, in denen es zu keinem Arbeitseinsatz des Mitarbeiters kommt, sind weder arbeitszeit-, noch vergütungsrechtlich relevant. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber die Erreichbarkeit außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit ausdrücklich eingefordert hat. Demgegenüber sind solche Zeiten für die Einhaltung der gesetzlichen Höchstarbeits- und Ruhezeiten zu berücksichtigen, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich mit Kunden telefoniert oder berufliche E-Mails beantwortet hat – diese Zeiten sind auch vergütungspflichtig.«

Erneut wird erkennbar, die Referenzpunkte der bisherigen tarif- und sozialrechtlichen Ausgestaltung wie die „Arbeitsstunden“ werden nicht nur immer wackeliger, sie verlieren auch teilweise ihre Aussagekraft.

Und auch die grundsätzliche Frage, wie man sozialpolitisch mit diesen Fragen umgehen kann, stellt sich immer dringlicher. Aus einer fundamentalen sozialpolitischen Perspektive wird dies beispielsweise angesprochen von Nicolas Colin und Bruno Paliers in ihrem Beitrag „Flexicurity“ ist die Antwort. Die Frage: Wie kann eine adäquate Sozialpolitik im digitalen Zeitalter aussehen?

Fachkräftemangel in der Pflege: Eigentlich müsste man … Aber in der wirklichen Realität senkt man dann lieber die Fachkraftquote in den Heimen

Ach, die Pflege. Auf Twitter wird seit einiger Zeit unter dem Hashtag #pflegestreik erbittert und mit vielen frustrierend daherkommenden Wortmeldung versucht, die Medien zu animieren, endlich mal und mehr über die katastrophale Arbeitssituation vieler Pflegekräfte zu berichten. Und immer wieder kommt die Botschaft rüber, dass eigentlich der nächste richtig große Arbeitskampf in diesem Bereich fällig wäre – wenn das nicht so unglaublich schwierig bis unmöglich wäre zu organisieren. In diesem Kontext war und ist der erste unbefristet angelegte Streik von Pflegekräfte an der Charité in Berlin ein wichtiger Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung (vgl. hierzu den Blog-Beitrag Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 1. Juli 2015). Zugleich wird immer offensichtlicher, dass jenseits des teilweise sehr instrumentalisierenden Geredes von einem Fachkräftemangel ein solcher mehr als real existiert in einigen Bereichen, zu denen die Pflege sicherlich gehört. In 96 Berufen wird das Personal knapp, so beispielsweise Silvia Dahlkamp über eine neue Studie (Sebastian Bußmann: Fachkräfteengpässe in Unternehmen – Geschlechterunterschiede in Engpassberufen, 2015):

»Es trifft die üblichen Verdächtigten: Danach fehlen besonders im Alten- und Krankenpflegebereich qualifizierte Arbeitskräfte, und auch in den naturwissenschaftlich-technischen Berufen sieht es mau aus. Nach wie vor klagt das Handwerk: dort werden vor allem Sanitär-, Heizungs- und Klimatechniker gesucht … Freie Stellen im Pflegebereich (86 Prozent weiblich) bleiben vielfach frei. In anderen Gesundheitsberufen sieht es ähnlich düster aus. Auf der Top-20-Liste der Mangelberufe stehen unter anderem zahnmedizinische Fachangestellte (99,5 Prozent weiblich), Sprach- und Physiotherapeuten (93,9 Prozent weiblich). Auch die Zahl der Augenoptiker geht zurück.«

Mit einer handfest-praktischen, andere würden sagen naiven Herangehensweise könnte man auf die Idee kommen, jetzt werden alle Anstrengungen unternommen, die Zahl der qualifizierten Kräfte zu erhöhen, nicht nur durch mehr Ausbildungsplätze (die tatsächlich zugenommen haben), sondern auch durch eine dringend notwendige Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Und zu denen gehören nicht nur die monetären Rahmenbedingungen, sondern eines der größten Übel aus Sicht der Betroffenen ist der permanente und sich verschärfende Personalmangel.

Gerade für den Bereich der Pflegeheime kommt erschwerend hinzu, dass wir in den vergangenen Jahren konfrontiert waren mit einer für die Beschäftigten hoch problematischen Veränderung: Das durchschnittliche Heimeintrittsalter ist angestiegen, damit verbunden sind die Bewohner oftmals nur wenige Jahre oder kürzer im Heim, sie kommen oftmals mit mindestens Pflegestufe I, der Anteil der dementiell Erkrankten und damit eigentlich besonders pflege- und betreuungsintensiven Menschen hat erheblich zugenommen. Das erfordert nicht nur mehr Personal überhaupt, also hinsichtlich der Quantität, sondern auch fachlich entsprechend qualifiziertes Personal, denn hier werden eben nicht nur irgendwelche Hotellerie-Leistungen fällig, sondern die Pflegeintensität ist erheblich.

Nun gibt es für die in Pflegeheimen Beschäftigten eine so genannte „Fachkraftquote“, die in der aus dem Heimgesetz abgeleiteten Heimpersonalverordnung (HeimVO) verankert ist. Diese Verordnung regelt Mindeststandards für die personelle Ausstattung von Heimen für alte Menschen, für Pflegebedürftige oder für behinderte Volljährige:

In § 5 wird bestimmt, wie viele Fachkräfte bei der Betreuung der Heimbewohner mindestens beschäftigt werden müssen. In Heimen, in denen mehr als 20 Bewohner leben oder in denen mindestens vier pflegebedürftige Bewohnern leben, müssen mindestens die Hälfte der anwesenden Betreuungskräfte Fachkräfte sein. In Heimen mit pflegebedürftigen Bewohnern muss auch bei Nachtwachen mindestens eine Fachkraft ständig anwesend sein. In Heimen mit weniger Bewohnern muss mindestens eine Fachkraft in der Betreuung tätig sein.

Vereinfacht kann man sich also merken: Fachkraftquote = 50%. Wer aber zählt zu den Fachkräften im Sinne der Verordnung? In der Pflege sind Fachkräfte Altenpflegerinnen und Altenpfleger oder Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und Gesundheits- und Krankenpfleger. Altenpflegehelferinnen und Altenpflegehelfer, Krankenpflegerhelferinnen und Krankenpflegehelfer sowie vergleichbare Hilfskräfte sind keine Fachkräfte im Sinne der Verordnung.

Nun muss man wissen, dass das Heimrecht 2006 von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes in die der Länder übergegangen ist. Dort sind die personellen Mindestanforderungen für Heime nunmehr in Landesgesetzen geregelt, aber die Fachkraftquote taucht überall auf.

So auch im grün-rot regierten Baden-Württemberg. Dort galt bislang die einfache Formel: 50% Fachkräfte – 50% andere. Das aber ändert sich jetzt: Unter der neutral daherkommenden Überschrift Personaleinsatz in Heimen neu geregelt teilt das zuständige Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren mit: »Nach den Worten von Sozialministerin Katrin Altpeter ermöglicht die neue Vorschrift einen flexibleren Personaleinsatz, ohne dass die Qualität der Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner beeinträchtigt wird.« Ein „flexiblerer“ Personaleinsatz ohne Qualitätsbeeinträchtigungen? Da wird man hellhörig. Lesen wir weiter:

»So bleibe das Grundmodell des neuen Wohn-, Teilhabe-, und Pflegegesetzes des Landes (WTPG) zwar bestehen, wonach fünfzig Prozent der Beschäftigten für pflegende und sozial betreuende Tätigkeiten Fachkräfte sein müssen. Wenn im Kernbereich der Pflege aber tatsächlich Pflegefachkräfte eingesetzt werden und dazu in geringem Umfang andere Fachkräfte, wie zum Beispiel Ergotherapeuten, Heilerziehungspfleger, Pädagogen, Sozialarbeiter und Sprachtherapeuten, dann könne die Quote der Pflegefachkräfte von fünfzig Prozent künftig unterschritten werden. Sie dürfe grundsätzlich aber nicht unter vierzig Prozent fallen.«

Irgendwie wird da verschwurbelt formuliert, man kann es auch einfacher ausdrücken, was da der Landesgesetzgeber gemacht hat:

Bisher: 50% / 50% => neu: 40% / 60 %.

Die Flexibilisierungsanstrengungen des Gesetzgebers für die Heimbetreiber gehen aber noch weiter:

»Neue Vorgaben gibt es nach den Worten von Ministerin Altpeter auch für die Präsenzzeiten von Pflegefachkräften. Im Tagesdienst sieht die neue Personalverordnung demnach den Einsatz von einer Pflegefachkraft je 30 Bewohnerinnen und Bewohner vor. Dieser Schlüssel müsse jedoch nur im Tagesdurchschnitt eingehalten werden. Eine Pflegefachkraft dürfe sich nun zum Beispiel in „Ruhezeiten“ um mehr als 30 Bewohnerinnen und Bewohner kümmern, wenn zu anderen Tageszeiten, wo im Heim mehr Unterstützungs- und Pflegebedarf gebraucht wird, der Einsatz von Pflegefachkräften wieder aufgestockt wird.«

Und dann das Thema Nachtdienste, heftig umstritten angesichts der aus diesem Bereich immer wieder berichteten teilweise katastrophalen Unterbesetzungen (aktuell wurde dies gerade mit Blick auf die Nachtdienstbesetzungen in den Krankenhäusern kritisch thematisiert, dazu der Beitrag Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte vom 7. März 2015). Für die Pflegeheime sieht die neue gesetzliche Regelung in Baden-Württemberg vor:

»Für jeweils vierzig Bewohnerinnen und Bewohner muss mindestens eine Pflegefachkraft bei Nacht da sein. Wo mehr Personen betreut werden müssen, können neben den Pflegefachkräften zur Hälfte auch andere Fachkräfte oder Assistenzkräfte eingesetzt werden. Dies sind zum Beispiel Dorfhelfer, Heimerzieher, Gerontologen, Heilerzieher, Sozialarbeiter (Fachkräfte) oder Alltagsbetreuer, Altenpflegehelfer, Gesundheits- und Krankenpflegehelfer (Assistenzkräfte).«

Es ist offensichtlich geworden, in welche Richtung die neuen Regelungen gehen. Man will schlichtweg die Freiheitsgrade erhöhen beim Einsatz irgendwelchen Personals. Aber angesichts der nur umrissenen Entwicklungslinien gerade im stationären Altenpflegebereich würde eher eine Anhebung der Fachkraftquote Sinn machen, aber doch nicht ihre Absenkung.

Dabei muss man fairerweise darauf hinweisen, dass die Fachkraftquote an sich auch in der fachlichen Diskussion nicht unumstritten ist. Vgl. dazu nur beispielsweise den Artikel Die Fachkraftquote auf dem Prüfstand über das 11. Symposium von KWA Kuratorium Wohnen im Alter mit dem Titel „Fachkraftquote –Qualitätsmaßstab oder Sackgasse?“, bei dem es um Alternativen zur Fachkraftquote ging. Klar erkennbar ging es um eine massive Infragestellung der Quote an sich, wie der folgende Passus verdeutlicht:

»Prof. Dr. Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule in Freiburg kritisierte als Jurist schon allein die Tatsache, dass das Heimrecht ein Gewerbesonderrecht sei und nicht regeln könne, wie viel Personal vorgehalten werden müsse. Dies bedeute einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit. Die Fachkraftquote folge zudem ausschließlich pragmatischen Kriterien, aber nicht wissenschaftlichen Gütekriterien: „Gefragt ist die Orientierung am individuellen Pflege- und Unterstützungsbedarf, zu dem auch die Teilhabe, d.h. soziale Betreuung gehört. Die Ermittlung dieses funktionsbezogenen Leistungsbedarfs ist aber nicht die Aufgabe des Landesgesetzgebers“, so Klies grundsätzliche Kritik von juristischer Seite. Für die Politik komme das Infragestellen der Fachkraftquote dem Schlachten einer heiligen Kuh gleich – obwohl sich die Quote in der Praxis als viel zu unflexibel erwiesen habe, neue Konzepte (z.B. Wohngruppen) behindere, fachlich nicht begründet werden könne und angesichts der fehlenden Fachkräfte zu einem immer größeren Problem für Einrichtungen werde. Erfreulich sei es daher, dass einige Bundesländer erste Schritte in eine neue Richtung gingen und die starre Quotenregelung etwas gelockert hätten, betonte Klie. In Baden-Württemberg heißt das Stichwort Flexibilisierung (Nachtwache), in Mecklenburg-Vorpommern findet eine Öffnung der Berufsgruppen statt (Einbeziehung der Hauswirtschafts-Fachkräfte), Bremen berücksichtigt neue Konzepte (Hausgemeinschaften) und Hamburg wird den Trägern mehr Verantwortlichkeit übergeben. „Auch wenn wir die heilige Kuh noch nicht angetastet haben, wollen wir die Fachkraftquote lockern“, erklärte Nina Gust von der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration bei der Podiumsdiskussion am Nachmittag. „Wir wollen künftig mehr Wert auf die Ergebnisqualität legen und auf dieser Grundlage weitere Vereinbarungen treffen, um die vielfältigen Wohnformen zu fördern.“«

Man muss sich die Ausführungen in aller Ruhe zu Gemüte führen – neben einer grundsätzlich berechtigten Skepsis gegen formale Quotenvorgaben allgemein und der durchaus berechtigten Frage nach der fachlichen Fundierung der 50% wird doch erkennbar, dass es um eine Auflösung dieser als Hürde seitens der Heimbetreiber wahrgenommenen Vorgabe geht, ohne dass man sehen kann, dass etwas besseres an dessen Stelle gesetzt werden würde. Die Flexibilisierung ist eine für die Personaleinsatzseite der Betreiber. Und natürlich haben die zunehmend und schon seit längerem Probleme, gerade Fachkraft-Stellen adäquat zu besetzen.

Greifen wir aus dem riesigen Fundus an Meldungen nur eine willkürlich heraus: Erfüllen der Fachkraft-Quote für Altenheime immer schwerer, konnte man im September 2012 mit Blick auf die Situation im Bundesland Hessen lesen. Und weiter:

»In den hessischen Senioren- und Behindertenheimen sinkt der Anteil der ausgebildeten Fachkräfte. Nur noch gut zwei Drittel (67 Prozent) aller Heime erreichten 2011 die vorgeschriebene Fachkräftequote von 50 Prozent oder mehr. 2010 waren noch in drei Viertel der Häuser die Mehrzahl der Beschäftigten vom Fach.«

In dem Artikel findet man auch die Quote verteidigende Stimmen:

»Die 50-Prozent-Quote halte das System im Gleichgewicht, erklärt Friedhelm Schrey, Geschäftsführer der EVIM-Altenhilfe (Evangelischer Verein für Innere Mission), die mehrere Heime im Rhein-Main-Gebiet betreibt: „Weniger wäre für eine fachlich qualifizierte Versorgung schlecht.“ … Trotz des Fachkräftemangels sollte die gesetzliche Quote von 50 Prozent nicht gesenkt werden, findet auch Inka Kinsberger, Leiterin des kirchlichen Altenzentrums an der Rosenhöhe in Darmstadt. „Sonst kann ja jeder pflegen.“ Die Arbeit verlange eine fundierte Ausbildung. Über die frühere Einstellung, dass man nur das „Herz am rechten Fleck“ haben müsse, sei der Beruf hinausgewachsen.«

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) hat sich im vergangenen Jahr so zur Fachkraftquote positioniert: »Was einmal als Untergrenze des Anteils an qualifiziertem Pflegepersonal gedacht war, wurde vor allem auf Druck der Kostenträger schnell zur festen Quote. Angesichts der o.g. Veränderungen, aber noch mehr vor dem Hintergrund des Kostendrucks und des zunehmenden Mangels an Pflegefachper- sonen, wird die Fachkraftquote rhetorisch in Frage gestellt und teilweise in der Praxis bereits ausge- höhlt und unterlaufen, z.B. indem die anzuerkennenden Berufsqualifikationen ausgeweitet werden.« Der DBfK fordert, die Fachkraftquote
ausdrücklich als Pflegefachkraftquote mit einer Untergrenze von 50% zu definieren.

Aber wir sehen, die Entwicklungen vor Ort und nun auch in den Ländergesetzen bzw. den untergesetzlichen Regelungen in den Ländern laufen in die andere Richtung. Das ist gefährlich für die Pflege in einem doppelten Sinne: Zum einen wird an der Fachlichkeit weiter genagt, zu deren Schutz ja auch eine solche Mindestfachkraftquote gedacht ist und zum anderen wird dass im Zusammenspiel mit anderen, leider auch zu beobachtenden Fehlentwicklungen (beispielsweise die Instrumentalisierung der eigentlich zusätzlichen Betreuungskräfte für den Pflegebereich, wo sie aber gar nicht angesetzt werden dürfen/sollen, vgl. hierzu den Beitrag Profi-Pflegekräfte nicht mehr allein im Heim! Die zusätzlichen und ergänzenden Betreuungskräfte und das alte Dilemma: Gut starten und zuweilen falsch landen vom 31.05.2015) dazu führen, dass weiterhin nach dem Prinzip „Löcher stopfen“ verfahren wird, was zugleich die Überlastungsspirale noch schneller antreiben wird. Und dann werden weitere Fachkräfte das Arbeitsfeld verlassen oder schneller verlassen, als sie es sonst vielleicht getan hätten.

Man kann das sicher irgendwie noch eine Weile so weiter treiben. Aber wenn man genau hinschaut: Das System kollabiert, vor allem die Menschen, die darin arbeiten, kollabieren. Die Stimmung wird immer aggressiver. Man kann nur hoffen, dass die Pflegekräfte ihren systembedingten Frust nicht autoaggressiv gegen sich selbst richten, sondern dass sie das System herausfordern werden.

Die Entsolidarisierung kommt auf leisen Sohlen, oftmals unbeachtet, weil so abseitig, dann aber Fahrt aufnehmend und ein ganzes System verändernd. Beispielsweise die Krankenversicherung

Die wirklich einschneidenden Veränderungen kommen auf leisen Sohlen, holprig am Anfang, zumeist von kaum einem beachtet, weil scheinbar nicht relevant. Beispielsweise im Bereich einer so existenziellen Frage wie der Absicherung des Risikos, krank zu werden und einer Behandlung zu bedürfen. Dafür haben wir in Deutschland für die große Masse der Bevölkerung die Gesetzlichen Krankenversicherung, um die uns – bei aller Kritik hierzulande – viele Menschen außerhalb Deutschlands beneiden.

Es handelt sich um eine mehrfach solidarisch wirkende, umverteilende Versicherung. Umverteilt wird in diesem Zweig der Sozialversicherung von (noch) gesunden Versicherten zu kranken Versicherten, die Patienten geworden sind, von zahlungskräftigen jüngeren Versicherten (vor allem im mittleren Lebensalter) hin zu den Kindern und Jugendlichen sowie den beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen bis hin zu den Älteren, die beispielsweise als Rentner niedrigere Beitragssummen aufbringen, aber oftmals ein Mehrfaches an Leistungen entnehmen (müssen), weil natürlich viele Krankheiten alterskorreliert sind. Bis zu einer durch die Beitragsbemessungsgrenze determinierten Einkommenshöhe findet auch durchaus eine Umverteilung statt von höheren Arbeitseinkommen zu den niedrigeren (und damit verbunden von Vollzeit zu Teilzeit), denn wenn jemand einen anteiligen Beitrag auf ein zu verbeitragendes Einkommen von 1.000 Euro zahlt, bekommt er den gleichen Schutz und das gleiche Leistungsvolumen wie jemand, der einen Beitrag abführen muss auf ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitseinkommen von 3.000 Euro im Monat. Und bei den Umverteilungswirkungen sollte auch – allerdings häufig „vergessen“ – mitgedacht werden, dass es in der bestehenden Gesetzlichen Krankenversicherung keine nennenswerte Exklusion  aus der Leistungswelt wie auch keine Abschlachtung auf der Beitragsseite aufgrund der Ursachen eines Risikofalls gibt. Anders ausgedrückt: Auch derjenige, der seinen Körper alle erdenklichen krankmachenden Einflüssen aussetzt, wird genau so behandelt wie der täglich Sport treibende, kein Alkohol und Tabak genießende und ernährungsbewusst handelnde Idealtypus aus dem Lehrbuch der Gesundheitsideologie. Und er zahlt auch keinen höheren Beitrag wie die Idealfigur bzw. diese keinen niedrigeren Satz. Genau das soll sich jetzt aber ändern.

Wobei man voranstellen muss: Das sollte sich nach Meinung einiger „Gesundheitsökonomen“ und „Versicherungsexperten“ schon seit langem ändern, nur hat man das bislang nicht wirklich in die Realität umsetzen können. Immer wieder gab es Vorschläge und Vorstöße, eine Differenzierung von Leistungs- und damit verbunden Kostenübernahme- bzw. Erstattungsansprüchen innerhalb des solidarischen Versicherungssystems nach dem Grad der Verursachung vorzunehmen. Beliebte Beispiele waren und sind immer die Raucher und die Übergewichtigen – und immer wieder scheiterten diese Vorstöße nicht nur an solidarischer Grundsatzgegenwehr, sondern auch an ganz handfesten Abgrenzungsoperationalisierungsproblemen. Beispiel Übergewicht: Wo genau liegt die Grenze zwischen selbstverschuldete Belastung der Solidargemeinschaft und krankheitsbedingter Folge? Kann man die rechtssicher überhaupt abgrenzen? Und wie ist das mit dem Nichtrauchen? Reicht die Behauptung oder muss dann nicht auch eine mögliche Diskrepanz zwischen angeblichen und tatsächlichen Tun kontrollieren? Mit welchem Aufwand ist das verbunden?

Für Krankenversicherungen gilt grundsätzlich: Aus der basalen Problematik der Informationsasymmetrie kann die so genannte „adverse Selektion“ resultieren, denn Versicherte kennen ihre Schadenswahrscheinlichkeit besser als die Versicherer, was für die immer dann ein besonderes Problem ist, wenn sie Tarife kalkulieren müssen.

In unserem Zusammenhang einer möglichen Differenzierung auf der Beitragsseite gemäß der Codierung „gute Versicherte“/“schlechte Versicherte“ besonders relevant ist das immer begrenzte oder sogar gar nicht vorhandene Wissen der Versicherer, ob sich die Versicherten tatsächlich auch so verhalten, wie es eine Beitrags- bzw-. Prämiendifferenzierung voraussetzt. Dazu braucht man vor allem Informationen, viele und detaillierte Informationen, um das mit der Informationsasymmetrie einhergehende Gefälle zwischen Versicherten und Versicherern zu verringern oder gar in die Nähe einer gleichen Augenhöhe zu bringen.

Nun sind wir inmitten einer rasanten informationstechnologischen Entwicklung, die es grundsätzlich ermöglicht, immer mehr, schneller, sogar in Echtzeit ermittelte Informationen kostengünstig zu erheben und zu speichern. Und man muss diese grundsätzliche technologische Optionalität im Zusammenhang sehen mit einem nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Wertewandel im Sinne einer immer stärker ausgeprägten Bereitschaft, auch sehr persönliche Daten und Informationen preiszugeben bzw. deren Abgreifen in der „App-Gesellschaft“ unserer Tage durch Dritte nicht einmal mehr als Problem wahrzunehmen. Und angesichts dieser sich verändernden Rahmenbedingungen schlägt die Stunde der Apologeten einer Individualisierung und Personalisierung der Beitragsbemessung innerhalb des Krankenversicherungssystems, weg vom unauflösbaren Status des Gefangenen seiner Kohorte bzw. des Risikokollektivs hin zu einer individualisierenden Auffächerung des Beitragskorridors.

Wie der neue Vorstoß laufen kann, wurde bereits im November 2014 in dem Beitrag Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung dargelegt. Da konnte man lesen: Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Das Kalkül des Unternehmens scheint auf der Hand zu liegen: Wer gesund lebt, kostet den Krankenversicherern weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen, gleichsam als Anreiz, sich entsprechend zu verhalten. Das hört sich doch nach einer guten Absicht an: Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung. Schon damals wurde versucht, das grundsätzliche Problem herauszuarbeiten, auf das erneut hingewiesen werden muss:

Der ganze Ansatz kommt auf den ersten Blick unverdächtig daher, denn keiner scheint gezwungen zu werden, dieses neue Versicherungsmodell in Anspruch zu nehmen. Alles freiwillig also. Aber nur auf den ersten Blick, denn hier liegt eines der großen Probleme begründet: Diejenigen, die mitmachen (wollen), bekommen Vergünstigungen. Man kann plausibel davon ausgehen, dass das eine hoch selektive Gruppe sein wird, Menschen also, die von sich wissen, dass sie die Erwartungskriterien erfüllen, um an dem Programm teilnehmen zu können, vor allem, wenn man weiß, dass das überwacht wird. Es handelt sich versicherungsökonomisch gesehen um die „guten Risiken“ und genau an die will die Versicherung ran und diese an sich binden, denn mit denen macht man trotz niedrigerer Beiträge ein Geschäft. Unter den anderen, die sich nicht beteiligen, sind auch die „schlechten Risiken“ für die Versicherung, also Menschen, die wissen, dass sie die Auflagen des Versicherungsmodells nicht werden erfüllen können oder die andere Informationen über ihren eigenen Gesundheitszustand haben. Für die aber wird die Versicherung teurer, denn sie sind ja tendenziell die Risikogruppe für die Versicherung. Langfristig das größte Risiko des neuen Systems: Wer nicht bereit ist, seine Daten preiszugeben, dürfte künftig einen deutlich höheren Preis für seine Versicherung zahlen. Und schon kehrt sich die vielgelobte „Freiwilligkeit“ praktisch in ihr Gegenteil um.

Und auch der Einwand, es handelt sich doch „nur“ um einen Vorstoß im Formenkreis der privaten Krankenversicherung, wurde damals schon aufgegriffen in dem Sinne, dass das zeitverzögert durchaus Eingang finden kann in die Gesetzliche Krankenversicherung und an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in den vergangenen Jahren durchaus Komponenten aus der PKV in die GKV implementiert wurden. So gibt es auf der Beitragsseite durchaus Selbstbeteiligung- und Beitragsdifferenzierungsmodelle, man denke hier nur an die Beitragsrückerstattung, mit der man die besonders „guten Risiken“, also die mit höheren Einkommen, in der Versicherung halten möchte.

Nach dem Bekanntwerden der Generali-Idee gab es ein mediales Aufbäumen, durchaus mit vielen kritischen Einwürfen. Aber ein Update ist erforderlich, denn: »Der Krankenversicherer Generali will trotz harscher Kritik 2016 eine App auf den Markt bringen, die Fitness und Ernährung der Versicherten überwacht. Wer gesund lebt, soll weniger zahlen«, muss man dem Artikel Umstrittene App soll Fitness und Ernährung überwachen entnehmen. Das geplante „verhaltensbasierte Versicherungsmodell“, so nennen die Generali-Leute ihren Ansatz, soll im ersten Halbjahr mit konkreten Produkten hinterlegt auf den Markt kommen. Man sollte und muss diese Entwicklung – auch wenn sie erst ganz am Anfang steht – überaus kritisch und sorgfältig begleiten und verhindern, dass es Ausstrahlungseffekte in den größeren Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt.

Dabei ist die Positionierung gegenüber diesem Ansatz auch in der privaten Krankenversicherungswirtschaft nicht eindeutig. Es gibt auch Ablehnung und Widerspruch zu dem versicherungsökonomisch prima facie plausibel daherkommenden Ansatz: Allianz lehnt Sportler-Tarife mit Fitness-Apps ab, berichtet beispielsweise die WirtschaftsWoche. Zitiert wird Birgit König, Chefin der Allianz Krankenversicherung, mit den Worten: „Tarife werden zum Schutz der Versicherten risikogerecht kalkuliert. Ein Läufer-Tarif hätte deshalb einen anderen Beitrag als ein Radfahrer-Tarif. Kleinteilige Kollektive aber passen nicht in die private Krankenversicherung.“

Grundsätzlich passt der neue Ansatz in die Zeit einer bewusst-unbewusst ablaufenden radikalen Individualisierung und einer Entkernung des solidarischen Ansatzes großer Kollektive, die mögliche Risikofälle für die Einzelnen auffangen (können).

Syndikusanwälte: Flucht auf die doppelte Sonnenseite. Raus aus der Rentenversicherung für das niedere Volk, aber auch aus der Haftung der richtigen Freiberufler

Was war das für eine Aufregung: Rund 40.000 Anwälte sollen wie gewöhnliche Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einzahlen. Das war die Botschaft einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, über die hier im April in dem Beitrag Wie „gewöhnliche“ Arbeitnehmer in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen? Von der Sonnenseite berufsständischer Versorgungswerke in das Schattenreich der „Staatsrente“? berichtet worden ist. Damals war die Aufregung groß, denn: »Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass sich Syndikus-Anwälte trotz Zulassung als Rechtsanwalt nicht mehr von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen können, um sich in einem berufsständischem Versorgungswerk zu versichern. Durch die Entscheidung des BSG droht im schlimmsten Fall auch vielen anderen Angestellten der Wegfall des Versorgungswerks«, so Christian Rolf und Jochen Riechwald in ihrem Artikel Wegfall des Versorgungswerks droht. Die Deutsche Rentenversicherung hatte argumentiert, dass die Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis mit einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber generell keine befreiungsfähige Rechtsanwaltstätigkeit sei. Dem hat sich das BSG nun angeschlossen, denn »nach gefestigter verfassungsrechtlicher und berufsrechtlicher Rechtsprechung zum Tätigkeitsbild des Rechtsanwalts … wird derjenige, der als ständiger Rechtsberater in einem festen Dienst- oder Anstellungsverhältnis zu einem bestimmten Arbeitgeber steht (Syndikus), in dieser Eigenschaft nicht als Rechtsanwalt tätig … Unabhängiges Organ der Rechtspflege und damit Rechtsanwalt ist der Syndikus nur in seiner freiberuflichen, versicherungsfreien Tätigkeit außerhalb seines Dienstverhältnisses (sog Doppel- oder Zweiberufe-Theorie).«, so die Richter des BSG in ihrer Entscheidung. Aber bekanntlich kann man alles korrigieren, wenn man über die entsprechenden Mittel, Wege und Unterstützer verfügt. Und flugs wurde der parlamentarische Raum aktiviert, die möglichen Folgen des Urteils zu verhindern.

Und die Parlamentarier ließen sich nicht lange bitten, wer will es sich schon mit zehntausenden Juristen verscherzen, die zudem noch für viele Unternehmen arbeiten. Und so kann berichtet werden, dass sich der Bundestag in erster Lesung zu einem Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) bekannt hat, nach dem sich diese Juristen künftig wieder von der Beitragspflicht in der gesetzlichen Rentenkasse befreien lassen können. Alles andere wäre ja auch noch schöner. Immerhin geht es hier um die nicht triviale Frage eines Zugangs zu einem Sonder-Alterssicherungssystem in Deutschland, den berufsständischen Versorgungswerken, die es für viele Freiberufler gibt, beispielsweise Ärzte und Zahnärzte, Architekten, Steuerberater oder eben Rechtsanwälte, wenn sie denn als freiberufliche Anwälte arbeiten. Bei Anwälten ist die Mitgliedschaft im Versorgungswerk durch die Zulassung als Rechtsanwalt bedingt. Das Versorgungswerk verspricht eine deutlich höhere Rente als die gesetzliche Rentenversicherung und ist daher attraktiv. Unternehmen können damit ihren Syndikus-Anwälten eine gute Altersversorgung anbieten, indem sie die Anwaltszulassung erlauben. Genau das wurde ja auch jetzt zu einem Problem im Gefolge der Entscheidung des Bundessozialgerichts. Aber dem will man durch die Gesetzesänderung jetzt Abhilfe verschaffen. Das ging schnell.

Aber wie immer liegen die Tücken im Detail. Oder sagen wir: In der Logik der Sache. Also mal ganz einfach formuliert: Wenn die Syndikusanwälte, die angestellt sind bei Unternehmen oder Organisationen und von denen auch als Arbeitnehmer bezahlt werden, aus der Gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden, weil die Argumentation so geht, dass sie ja wie ein „normaler“ Anwalt vor Gericht tätig werden (können) und man sie deshalb bei der Frage der Zuordnung Gesetzliche Rentenversicherung versus berufsständisches Versorgungswerk den freiberuflich, also selbständig tätigen Anwälten gleichstellt, dann könnte man aus logischen Überlegungen durchaus zu dem naheliegenden Ergebnis kommen, dass das dann aber auch für andere Dinge, die mit der Existenz eines freiberuflich tätigen Anwalts verbunden sind, gilt. Beispielsweise für die Haftungsanforderungen. Und genau auf diesen plausiblen Schluss sind auch noch andere gekommen, was jetzt unmittelbar eine neue Schnappatmung auf Seiten der Syndikusanwälte und der sie vertretenden Verbände geführt hat.

Darüber berichtet Jakob Jahn in seinem Artikel Syndikusanwälte fürchten strenge Haftung. Und er bringt die beeindruckende Pirouette auf den Punkt: »Bislang haben Syndikusanwälte für eine möglichst weitgehende Gleichstellung mit niedergelassen Rechtsberatern gekämpft. Nun wollen sie plötzlich doch keine „richtigen“ Anwälte sein.«

Also man muss genauer sagen: Hinsichtlich der Befreiung von der Pflicht zur Teilnahme an der plebejischen Rentenversicherung der normalen Arbeitnehmer möchte man mit den niedergelassenen Rechtsanwälten gleichgestellt werden, aber bei den aus diesem Status abgeleiteten Haftungsverpflichtungen möchte man das genaue Gegenteil, dass man also wieder als stinknormaler Arbeitnehmer behandelt wird. Alles klar?

Bei der Anhörung zu den beabsichtigten gesetzgeberischen Veränderungen zugunsten der Syndikusanwälte wurde das „Problem“ (bzw. eigentlich die logische Konsequenz) so vorgetragen:

»Allen voran hatte Solms Wittig, Chefjurist der Linde AG und Präsident des Bundesverbands der Unternehmensjuristen (BUJ), die Abgeordneten gedrängt, einen Syndikusanwalt nicht so streng haften zu lassen wie niedergelassene Anwälte gegenüber ihren Mandanten. „Seine Haftung ergibt sich allein aus dem Anstellungsvertrag“, sagte Wittig. „Der Arbeitgeber als Mandant ist nicht in vergleichbarem Maße schützenswert wie das allgemeine rechtsuchende Publikum.“«

Dazu Jakob Jahn in seinem Artikel folgerichtig und zugleich noch weitere Begünstigungswünsche der Syndikusanwälte aufzeigend:

»Eine bemerkenswerte Argumentation, weil die Syndizi sonst gerade mit der „Einheit der Anwaltschaft“ argumentieren, wenn sie die Befreiung von der Rentenpflicht fordern. Zumal sie am liebsten auch noch die Erlaubnis bekämen, für ihren eigenen Arbeitgeber vor Gericht aufzutreten, und vor einer Beschlagnahme ihrer Akten geschützt wären. Beide Rechte stehen nur externen Kanzleien zu, weil die Politik bloß diese für unabhängig genug hält.«

Auch die Unternehmensverbände trommeln jetzt für die Beibehaltung der Arbeitnehmerhaftung bei den in der Rentenversicherung allerdings wie selbständige Freiberufler zu behandelnden anwaltschaftlichen Mischwesen. Warum, das liegt auf der Hand und man macht auch hier keinen Fehler, wenn man vermutet, dass das irgendwas mit den Kosten zu tun haben könnte.

In dem Artikel von Jahn wird Cord Meyer von der Deutschen Bahn AG zitiert, wonach bei einer unbeschränkten Haftung sich Probleme bei der Gewinnung geeigneter Mitarbeiter abzeichnen. Nach vorsichtigen Schätzungen könne die erforderliche Versicherung 3000 Euro jährlich kosten: „Dies entspräche dann in vielen Fällen bereits einem Netto-Monatseinkommen.“

Hier nur am Rande – eigentlich aber im thematischen Zentrum stehend – sei die Anmerkung erlaubt, dass wir dieses ganze Durcheinander nicht hätten, wenn eines der zunehmend immer stärker an Gewicht gewinnenden Strukturprobleme der Gesetzlichen Rentenversicherung, also ihre Begrenzung auf den „klassischen“ Typus des sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten, durch eine Erweiterung der umlagefinanzierten Rentenversicherung auf alle Erwerbstätige gelöst, zumindest aber deutlich verringert worden wäre. Aber da würden dann ja die Flüchtlinge aus der großen Solidargemeinschaft der Gesetzlichen Rentenversicherung in das kleine, überschaubare und mit vielen „guten Risiken“ besetzte Kollektiv der berufsständischen Versorgungswerke Abstriche machen müssen an den bislang in diesen Sondersystemen erzielbaren Renten machen müssen.

Bayern legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“

Nicht nur der Bundesrat hat dem Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition zugestimmt, auch der Bundespräsident Joachim Gauck hat entgegen der von durchaus gewichtiger Seite vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken das Gesetz unterschrieben. Damit ist es in Kraft – und wird in Karlsruhe das Bundesverfassungsgericht beschäftigen, den neben anderen hat auch die Lokführergewerkschaft GDL angekündigt, gegen das Gesetz zu klagen. Also die Gewerkschaft, aus deren Streikaktivitäten sich ein erheblicher Teil der Zustimmung bei den Parlamentariern zu diesem Gesetz erklären lässt. Nicht umsonst sprach man ja auch vom „Lex GDL“.

Ironie der Geschichte: Ein Ergebnis der Schlichtung bei der Deutschen Bahn ist, dass der Konzern die GDL auf alle Fälle bis 2020 als eigenständigen Tarifpartner anerkennt. Und es darf und muss an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen werden, dass es sich rückblickend als ein gleichsam historisches Moment erweisen wird, dass mit dem Tarifeinheitsgesetz das Streikrecht auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt worden ist – und das von einer sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin. Nun könnte man naiv meinen, erst einmal ist jetzt Ruhe im Schacht. Aber wie zu erwarten bzw. zu befürchten war, hat sich der Apparat in Bewegung gesetzt und man will nach der zumindest gesetzgeberisch erfolgreichen „Bearbeitung“ der Berufs- und Spartengewerkschaften ein größeres Fass aufmachen. Und das läuft wieder – natürlich – unter einer Legitimationsdecke der Betroffenheit des „normalen Bürgers“, der Bahn fahren muss, um zur Arbeit zu kommen, der den Flieger braucht, um das Business am Laufen zu halten oder der seine Kinder in der Kita zwischenlagert, um überhaupt arbeiten gehen zu können. Es geht um die „Daseinsvorsorge“.

Natürlich gehört die Bahn dazu – aber auch viele andere Bereiche werden unter diesem heutzutage fast schon antiquiert klingenden Begriff subsumiert, dessen Relevanz immer dann besonders spürbar wird, wenn die Daseinsvorsorge nicht funktioniert, wenn beispielsweise der Strom ausfällt oder die Müllabfuhr nicht mehr kommt. Hinter dem Begriff steckt allerdings eine heute sicher vielen nicht mehr geläufige Begriffsgeschichte. Untrennbar verbunden ist die „Daseinsvorsorge“ als Terminus mit dem höchst umstrittenen Staatsrechtler Ernst Forsthoff (1902-1974), der 1933 – wie passend – die Schrift „Der totale Staat“ veröffentlicht hat. Neben Carl Schmitt oder Theodor Maunz gehörte auch Forsthoff zu den Juristen, die versucht haben, dem Nationalsozialismus staatsrechtliche Legitimität zu verschaffen. In seinem 1938 erschienenen Werk „Die Verwaltung als Leistungsträger“ entwickelte er den bis heute verwendeten Begriff der Daseinsvorsorge. Das ursprüngliche Verwaltungsrecht kannte nur die Eingriffsverwaltung, Forsthoff führte das Konzept der Leistungsverwaltung ein. Die in Erfüllung der sozialen Verantwortung erfolgende leistungsgewährende Betätigung des Staates bezeichnete er als Daseinsvorsorge.

Aber zurück in die Gegenwart und in die bayerischen Höhen und Tiefen, denn aus diesem Bundesland kommt jetzt ein Vorstoß, der expressis verbis den Terminus von der Daseinsvorsorge aufgreift (obgleich – das kann hier aber nicht weiter vertieft, sondern nur angerissen werden – mittlerweile die ursprünglich ausschließlich staatsbezogene Zuordnung abgeschüttelt worden ist, nachdem man sich jahrzehntelang der Privatisierung öffentlicher Unternehmen gewidmet hat). Denn die bayerische Landesregierung fordert für diesen sehr weit ausdehnbaren Bereich (immerhin handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff), dass das Streikrecht in Bereichen der Daseinsvorsorge mit „besonderen Spielregeln“ ausgestaltet werden soll.

Dazu hat Bayern einen Entschließungsantrag in den Bundesrat eingebracht (BR-Drs. 294/15 vom 16.06.2015). Daraus einige Auszüge, um die Argumentation der Bayern nachvollziehbar zu machen:

»Der Bundesrat stellt … fest, dass in Wirtschaftsbereichen wie insbesondere der Energie- und Wasserversorgung, der Entsorgung, des Gesundheitswesens, der Feuerwehr, der inneren Sicherheit oder des Verkehrs, auf deren Leistungen die Bevölkerung elementar angewiesen ist (insoweit Bereiche der Daseinsvorsorge) Streiks sich in ihren Auswirkungen von Streiks in anderen Wirtschaftsbereichen deutlich unterscheiden: Denn Streiks in Bereichen der Daseinsvorsorge treffen nicht nur den Arbeitgeber, sondern vor allem die Allgemeinheit, die auf diese Leistungen im täglichen Leben angewiesen ist. Ein Ausweichen auf andere Anbieter ist oft nicht bzw. nicht in der erforderlichen Schnelligkeit möglich. Die seit Monaten andauernden Tarifkonflikte im Schienenverkehr und im Luftverkehr zeigen, welche beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schäden Streiks in Bereichen der Daseinsvorsorge haben können.

Der Bundesrat stellt weiter fest, dass der Staat verpflichtet ist, bestimmte Leistungen der Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Dieser Verpflichtung wird mit einer Reihe von Sicherstellungsgesetzen … nachgekommen. Im Streikrecht hingegen besteht eine Lücke.

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung deshalb auf, das Streikrecht in Bereichen der Daseinsvorsorge so zu regeln, dass die Versorgung der Bevölkerung durch Streiks nicht gefährdet wird.«

Da wären wir schon bei einer ersten zentralen Fragestellung angekommen. Wie will man denn sicherstellen, dass die Versorgung der Bevölkerung durch Streiks „nicht gefährdet wird“, ohne dem Streikrecht der Gewerkschaften in diesem Bereich die Zähne zu ziehen?

Denn natürlich – wir haben das sich gerade erst erlebt beispielsweise beim Kita-Streik – ist es in vielen Dienstleistungsbereichen so, dass primär nicht der Arbeitgeber (also z.B. die Kommunen) getroffen wird wie der Inhaber einer Fabrik, dessen Produktion eingestellt wird durch einen Arbeitskampf, sondern die Inanspruchnehmer, neudeutsch auch oft als „Kunden“ bezeichnet, sind diejenigen, die die unmittelbaren Folgen eines Streiks zu spüren bekommen. Das liegt in der Natur der Sache bei diesen zumeist personenbezogenen Dienstleistungen. Würde man also das Petitum der Bayern für bare Münze nehmen, dann wären allenfalls symbolische Arbeitsniederlegungen möglich, nicht aber mehr echte, veritable Streiks.

Natürlich formuliert man das im vorliegenden Entschließungsantrag der Bayern (noch) in einer Soft-Variante, denn es geht jetzt erst einmal darum, den Fuß in diese Tür zu bekommen. Richtig auftreten kann man sie später immer noch.

Folgende gesetzliche Vorgaben werden vorgeschlagen: Ein obligatorisches Schlichtungsverfahren, eine Ankündigungsfrist von vier Werktagen und eine Pflicht zur Vereinbarung zur Mindestversorgung.

Der entscheidende Einstiegspunkt für eine sukzessive Aushöhlung des Streikrechts ist das „obligatorische Schlichtungsverfahren“, das man natürlich, wenn man es denn mal hat, weiter ausbauen kann zu dem, was die grüne Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke in einer Pressemitteilung so charakterisiert: Bayerns Ruf nach Zwangsschlichtung völlig überzogen.

»Mit dem Gesetz zur Tarifeinheit hat Andrea Nahles die Büchse der Pandora geöffnet und Einschränkungen in das Streikrecht salonfähig gemacht. Jetzt nutzt Bayern die Gunst der Stunde und fordert im Bundesrat verbindliche Zwangsschlichtungen in der Daseinsvorsorge. Mit diesem Vorschlag nimmt die CSU das Streikrecht aller Gewerkschaften ins Visier … Bei Arbeitskampfmaßnahmen gibt es ausreichend gerichtliche Kontrollinstanzen, die unverhältnismäßige Streiks unterbinden können. Dies kommt aber selten vor, da die Gewerkschaften in der Regel verantwortungsvoll agieren. Die Hysterie aus Bayern entbehrt also jeglicher Grundlage.«

Nicht nur die Gewerkschaften, auch die Arbeitgeber sollten diesen Vorstoß entschieden zurückweisen. Dazu ein Blick zurück in eine Zeit, in der man in Deutschland Erfahrungen hat machen müssen mit staatlichen Zwangsschlichtungen. Interessanterweise kommt die folgende Rückschau unter der Überschrift Lehren aus der Weimarer Republik vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW):

Im Jahr 1923 wurde eine Schlichtungsverordnung verabschiedet,

»die beim Scheitern der autonomen Schlichtungsversuche die Einsetzung eines paritätischen Schlichtungsausschusses unter Vorsitz eines vom Reichsarbeitsminister bestellten, unabhängigen Schlichters vorsah. Wurde im Rahmen dieses Schlichtungsausschusses der zunächst unverbindliche Schiedsspruch von den Tarifparteien nicht angenommen, wurde dieser auf Antrag einer Partei oder bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses von Amts wegen verbindlich. Diese Schlichtungsverordnung räumte dem Staat demnach eine fast unbegrenzte Interventionsmöglichkeit ein, da sowohl die Einberufung des Schlichtungsausschusses, die Besetzung des Schlichters, und die Entscheidung über die Anwendung der Verbindlichkeitserklärung im Ermessen des Reichsarbeitsministeriums lagen. Diese Zwangsschlichtung wurde in den darauffolgenden Jahren in einem großen Umfang genutzt. So gab es 1924 mehr als 18.000 Schlichtungsverfahren. Von 1923 bis 1932 endeten dabei 4 bis 6,5 Prozent aller Schlichtungsverfahren mit einer Verbindlichkeitserklärung. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass bis zu 30 Prozent aller Arbeiternehmer der Weimarer Republik von solchen Zwangsschlichtungen betroffen waren.«

Die Wirkung im Sinne eines enormen Rückgangs der Streikaktivitäten und -folgen war enorm: »Während von 1919 bis 1924 noch jahresdurchschnittlich 23 Millionen Arbeitstage durch Streik oder Aussperrung verloren gingen, waren dies zwischen 1925 und 1932 (ohne 1928) nur noch 3 Millionen pro Jahr.«

Interessant auch das Umkippen des Instrumentariums zuungunsten der Arbeitnehmerseite:

»Bis 1930 wurde die überwiegende Mehrheit der Verbindlichkeitserklärungen von den Gewerkschaften beantragt, was eine arbeitnehmerfreundliche Tendenz der Schiedssprüche andeutet. Diese Tendenz änderte sich seit dem Ruhreisenstreik von 1928/1929, spätestens aber nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise … In der … Weltwirtschaftskrise schlug die Tendenz der Schiedssprüche dann in Richtung Arbeitgeber aus. Erneut war es die Eisen- und Stahlindustrie, in der die Arbeitgeber – dem politischen Ziel der Regierung Brüning folgend, die Weltwirtschaftskrise durch Preis- und Lohnsenkungen abzufedern – erstmals eine Absenkung der Tariflöhne beschlossen und dies anschließend per Zwangsschlichtung auch durchsetzten. Diesem Schiedsspruch folgten weitere Lohnreduktionen in anderen Industrien. Die Tarifpolitik wurde zum Spielball politischer Interessen.«

Zwangsschlichtungen höhlen die Tarifautonomie, die sowieso schon unter erheblichen Druck ist, weiter aus. Das ist die grundsätzliche Dimension. Darüber hinaus ist der aktuelle Vorstoß der Bayern, die ja nur Forderungen seitens des Wirtschaftsflügels der Union aufgegriffen haben und über den Bundesrat in die politische Maschinerie einzuspeisen versuchen (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle vom 20. April 2015), immer auch zu sehen im Kontext der fundamentalen Veränderung der Streiklandschaft. Also weg von den „klassischen“ Streikakteuren in der Industrie und hin zu den Dienstleistungen, von denen viele angesichts ihrer Bedeutung für die breite Masse der Bevölkerung als daseinsvorsorgerelevante Bereiche definiert werden können.