Hartz IV: Neue Regeln, zusätzliche Bürokratie. Keine Familienmitversicherung mehr für jugendliche Hartz IV-Empfänger. Eine Neuregelung mit Tücken

Seit Jahresbeginn gelten für Hartz-IV-Bezieher neue Regeln, die zusätzliche Bürokratie bedeuten. Konkret geht es um die Familienmitversicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Man kann es paragrafenlastig so darstellen: »Aufgrund der am 01.01.2016 in Kraft tretenden Teile des „GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsentwicklungsgesetz“ endet die bisherige Familienversicherung für ALG II Bezieher zum 31.12.2015. ALG II Bezieher (ab 15 Jahren; § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II), welche bisher aufgrund § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V i.V. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V beitragsfrei in der gesetzlichen Familienversicherung versichert waren (Ehegatte, Lebenspartner, Kinder und Kindeskinder von Mitgliedern), werden ab 01.01.2016 selbst versicherungspflichtig in der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.« Susan Bonath hat ihren Artikel dazu so überschrieben: Schluss mit Familienversicherung. Krankenkassen: Neues Sonderrecht für jugendliche Hartz-IV-Bezieher. Experten warnen vor Tücken. Besonders betroffen von der Neuregelung »sind Jugendliche ab dem vollendeten 15. Lebensjahr beziehungsweise ihre Eltern. Egal ob die jungen Leute noch zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen – sie müssen sich von nun an selbst krankenversichern. Denn der Vorrang der Familienversicherung bei den Krankenkassen gilt für Hartz-IV-Bezieher nicht mehr.«

Angeblich will man durch diese Neuregelung den Prüfaufwand der Jobcenter reduzieren und auch für die nun selbst zu versichernden Personen wird der Mindestbeitrag übernommen. Aber: Das dürfte zum einen weitaus höhere Kosten verursachen als bisher. Und zum anderen birgt die neue Sonderregel für Leistungsbezieher erhebliche Tücken.

Für die Krankenkassen stellt sich die Neuregelung ambivalent dar: Zum einen bekommen sie nun so einige neue Versicherte und damit mehr Einnahmen, auf der anderen Seite wurde gleichzeitig der monatliche Pauschalbeitrag pro Kopf abgesenkt, von »etwa von 120 bis 140 auf unter 100 Euro«, so wird eine Sprecherin des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in dem Artikel zitiert.

Aber wo liegen denn nun mögliche Tücken, wenn doch – unabhängig von der für die Kassen relevanten Frage einer Kostendeckung durch die konkrete Höhe des Pauschalbetrags – der jugendliche Hartz IV-Empfänger selbst versichert sein muss, der Beitrag aber von den Jobcentern übernommen wird?

»Solange ein Leistungsberechtigter Hartz IV auch bekomme, müsse er sich keine Sorgen machen. Kritisch werde es aber, wenn etwa ein Jugendlicher zu 100 Prozent sanktioniert wird. Das kann unter 25jährige seit 2007 bereits beim zweiten »Fehlverhalten« treffen.«

Und diese Fälle gibt es durchaus (vgl. dazu den Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“ vom 11.06.2015).

Und was dann? Claudia Mehlhorn wird in dem Artikel von Bonath mit diesen Worten zitiert: »Ich kann jedem Betroffenen nur raten, sofort zum Jobcenter zu gehen und mindestens einen Lebensmittelgutschein pro Monat zu beantragen«. Denn nur in diesem Fall setze das Amt die Zahlung der Beiträge wieder in Gang. Werden die Essensmarken nicht beantragt, dann meldet das Amt Betroffene einfach bei der Krankenkasse ab.

Abr es gibt doch die 2013 vom Gesetzgeber eingeführte „obligatorische Anschlussversicherung“, die dann automatisch greift?

Im Prinzip ja, aber:

»Die Kassen schicken Betroffenen nach der Abmeldung einen Einkommensfragebogen, den sie zwingend ausfüllen müssen, auch wenn sie vom Betteln oder Flaschensammeln leben«, erläuterte Mehlhorn. Nur so werde ein Anspruch auf Familienversicherung geprüft. Liegt dieser nicht vor, etwa bei Alleinstehenden oder elternlosen Jugendlichen, müssten die Sanktionierten den Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte von rund 165 Euro selbst aufbringen. Noch viel drastischer treffe es jene, die nicht auf das Schreiben mit dem Fragebogen reagieren, sagte die Expertin. »Sie werden mit dem Höchstbeitrag eingestuft, das sind um die 700 Euro.« Sei man erst einmal in ein Mahnverfahren gerutscht, käme man aus der Nummer nicht wieder heraus.«

Und wenn man die Betroffenen schon mal in die Untiefen der Sozialbürokratie schickt, dann „richtig“. Harald Thomé weist auf das (mögliche) Problem steigender Zusatzbeiträge hin. Wenn diese über dem Durchschnittswert – 2015 waren das laut GKV-Spitzenverband 0,83 Prozent – liegen, dann übernimmt das Jobcenter die Mehrkosten nicht. Wenn Betroffene das Geld nicht vom Regelsatz abzweigen wollen/können, müssten sie sich nach einer neuen, günstigeren Krankenkasse umsehen. Das muss man natürlich auch alles wissen und mitbekommen, wann welche Schwellenwerte überschritten werden.

Zyniker werden an dieser Stelle einwerfen: Zeit genug haben die Betroffenen ja.

Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit? Zur Ambivalenz eines Geschäftsmodells für „Bürger in sozialen Schwierigkeiten“

Prognosen haben es oftmals an sich, dass sie nicht eintreten. Oder das tatsächliche Ergebnis weit von dem entfernt ist, was vorausgesagt wurde. Nehmen wir als Beispiel die Obdachlosen- oder Straßenzeitungen. Dieser Ansatz kann durchaus auf eine lange Geschichte zurückblicken. Zur Entwicklung in Deutschland erfahren wir rückblickend: »In den Jahren 1987 und 1988 erschienen die ersten von Hans Klunkelfuß herausgegebenen Berberbriefe, unregelmäßig erscheinend, etwa viermal im Jahr, 8–12 Seiten auf fotokopiertem Papier mit einer Auflage von 100 bis 500 Stück. Klunkelfuß und andere Wohnungslose nutzen den Verkauf der von ihnen selbst hergestellten Zeitung, um damit unabhängig von staatlicher Hilfe ihr Überleben auf der Straße zu sichern. Im Jahr 1992 erschien in Köln mit dem BankExpress, später BankExtra, heute Draussenseiter, die erste deutsche Straßenzeitung; im Oktober 1993 kamen Bürger In Sozialen Schwierigkeiten – BISS in München und 14 Tage später Hinz und Kunzt aus Hamburg dazu. Im Jahr 2006 gab es bereits ca. 30 Straßenzeitungen in Deutschland.«

Aber bereits 1999 konnte man im SPIEGEL unter der Überschrift Abgenutzte Idee lesen: »Vor vier Jahren war es eine Sensation: Die Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunzt“ nahm die Auflagenhürde von 100 000 Exemplaren. Nun sind die goldenen Zeiten vorbei, die Straßenblätter stecken in der Krise: Nur noch 75 000 Exemplare „Hinz & Kunzt“ werden monatlich verkauft. Die Auflagen der Berliner „Strassenzeitung“ und der Düsseldorfer „Fifty fifty“ sind von 30 000 auf 25 000 gesunken. „Die Idee hat sich abgenutzt, die Neugier ist vorbei“, erklärt Jutta Welle, Macherin der „Strassenzeitung“, das Phänomen. Und: „Die Menschen haben wohl selbst genug Ärger und wollen nicht noch über den der Obdachlosen etwas hören.“« Ein voreiliger Abgesang auf diesen Ansatz, den man durchaus als ein Modell für Hilfe zur Selbsthilfe bezeichnen kann.

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Sinn-lose Zahlenspielereien über Flüchtlinge mal wieder. Dabei geht es in Wirklichkeit um handfesten Sozialabbau

Die „seriösen“ Schätzungen der Gesamtkosten für eine Million Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben, liegen „auf der Basis von Generationenbilanzen“ zwischen 79 Milliarden und 450 Milliarden Euro. Das kommt – nun ja – nicht wirklich beruhigend genau daher., ganz im Gegenteil, die enorme Streuung der möglichen Kosten ist doch kaum eine Basis, den dahinter liegenden Berechnungen irgendwie zu vertrauen. Aber ganz genau kann der unermüdliche Zahlenspieler Hans-Werner Sinn für das gerade begonnene 2016 die Kosten vorhersagen: »Für dieses Jahr gehen wir von 21 Milliarden Euro aus.«

Das und mehr kann man einem Interview mit ihm entnehmen, das der „Tagesspiegel“ veröffentlicht hat: „Die Integration der Flüchtlinge wird teuer“, so ist das Gespräch mit Sinn überschrieben worden.
Das hat noch nicht mal was von halbwegs seriös daherkommender Kaffeesatzleserei. Es ist einfach nur zum Dauer-Kopfschütteln, wenn solche Zahlen derzeit in die Welt gesetzt werden.
Aber Hans-Werner Sinn geht es – übrigens wie auch bei seinen hanebüchenen „Prognosen“ zum (angeblichen) Jobkiller Mindestlohn, wo er es war, der mit mehr als 900.000 Jobs, die durch den Mindestlohn ganz bestimmt „vernichtet“ werden, durch die Lande und vor allem durch viele willige Medien gezogen ist – gar nicht um die konkreten Zahlen, mit denen er erneut um sich wirft, sondern um eine ganz bestimmte politische Botschaft, die er unter das Volk bringen will und dazu braucht man in unserer heutigen Medienwelt offensichtlich irgendwelche Horrorbotschaften, die sich gut „verkaufen“ lassen, weil sie beim Leser, Hörer oder Zuschauer Angstschweiß produzieren können.

Und seine politischen Botschaften haben es in sich und würde man ihnen folgen, dann müssten vor allem die unteren Einkommensgruppen leiden. Hier einige Zitate aus dem Interview:

»Wir dürfen die Integration der Flüchtlinge auf keinen Fall mit einer höheren Verschuldung finanzieren, sondern müssen auf den laufenden Haushalt zurückgreifen.«

Und wie soll man das gegenfinanzierten? Die Einnahmen erhöhen für den laufenden Haushalt, beispielsweise durch einen höheren Spitzensteuersatz in der Einkommenssteuer? Aber auf gar keinen Fall, sondern altbekannte Sinn’sche Forderungen werden auch hier erneut platziert, auch wenn der eine oder andere sich schon fragen wird, was denn das mit der Finanzierung von Integrationskursen oder sonstigen Maßnahmen zu tun haben soll:

»Man könnte das Renteneintrittsalter nach hinten verschieben oder Subventionen kürzen.«
Und natürlich, man ahnt es schon: »Der Mindestlohn ist ein Integrationshemmnis erster Güte.«

Und nun ja, gegen Subventionen ist man offensichtlich nicht generell im Hause Sinn:

»Statt des Mindestlohns sollte man Menschen, die wenig verdienen, einen staatlichen Zuschuss zahlen, so dass sie zusammen mit diesem Zuschuss ein ausreichendes Gesamteinkommen haben.«

Auf die Nachfrage, ob der Mindestlohn für die Flüchtlinge abgeschafft werden sollte, kommt eine aufschlussreiche Antwort:

»Man kann nicht nur Flüchtlinge ausnehmen. Dann würden sie die Einheimischen unterbieten und ihnen die Jobs wegnehmen. Nein, man müsste für alle Berufsanfänger eine Ausnahme machen – sowohl für Einheimische als auch für Flüchtlinge. In den ersten Jahren Berufstätigkeit sollte der Mindestlohn generell nicht gelten.«

Und dabei soll es natürlich nicht bleiben. Auf die Nachfrage, wie man denn die Integration der Flüchtlinge finanzieren kann, wenn schon nicht über Steuererhöhungen, die Sinn rundweg ablehnt, antwortet er:

»Man muss Abstriche machen, Ausgaben kürzen. Das ist eine schwierige politische Entscheidung.«

Und legt dann nach:

»Jedenfalls wird es wohl auch die Ärmsten treffen. Der Sozialstaat wird durch die freie Zuwanderung zwangsläufig lädiert.«

Wie praktisch für manche, dass man mit so einer Aussage alle vor uns liegenden Einschnitte in der Kommunikation mit der Bevölkerung immer auf „die Flüchtlinge“ und die von denen verursachten „Kosten“ schieben kann, ohne das im Detail begründen zu müssen, was auch Großmeister Sinn nicht macht.

Am Ende bekommen wir dann noch eine wichtige persönliche Information, denn im Frühjahr wird Hans-Werner Sinn sein Amt als Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München abgeben und in den Ruhestand eintreten. Und was wird er dann tun? Hierzu die letzte Passage aus dem Interview:


Was werden Sie tun, wenn Sie im Frühjahr Ihr Amt als Ifo-Chef abgeben?
Ich werde Bücher schreiben und alle Viere von mir strecken.
Ehrlich?
Ganz ehrlich.