Zustimmung zum „Arbeitslosengeld Q“ und noch eine Portion mehr. Der DGB Bundesvorstand fordert „umfassenderes Konzept“

Der Kanzlerkandidat und neue Vorsitzende der SPD hat in den vergangenen Wochen neben emotionalen Wellen einige Steinchen in den großen Teich der Arbeitsmarktpolitik geworfen, die sogleich als „fundamentale Infragestellung der Agenda 2010“ eingeordnet wurden, was sie aber nicht sind. Dabei ging und geht es neben der geforderten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung um eine in Aussicht gestellte Verlängerung der maximalen Bezugsdauersdauer von Arbeitslosengeld I in der Arbeitslosenversicherung für ältere Arbeitslose (vgl. dazu Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017) und die dann nachgeschobene Konkretisierung in Form einer Verbindung der Verlängerung der Bezugsdauer mit einer Weiterbildungsmaßnahme und der Einführung eines „Rechtsanspruchs auf Weiterbildung“ für die Arbeitslosen (vg. dazu den Beitrag Schon wieder alter Wein? „Arbeitslosengeld Q“ für einen längeren Arbeitslosengeld-Bezug. Ein Rechtsanspruch – auf was? – und eine Behörde für Qualifizierung werden in Aussicht gestellt vom 5. März 2017). Nun hat sich der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zu Wort gemeldet und Forderungen nach einem „umfassenderen Konzept“ veröffentlicht.

Der DGB hält die Idee eines „Arbeitslosengeld Q“ für einen „wichtigen Schritt“. Aber für die Herausforderungen, „vor denen wir stehen, bedarf es eines umfassenderen Konzeptes“, heißt es in einem Beschluss des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstands.

DGB Bundesvorstand: Neue Perspektiven für den Arbeitsmarkt: Prävention, Förderung, Unterstützung, Berlin, 13.03.2017

Der DGB schlägt ein mehrstufiges System vor. Es beinhaltet zum einen mehr und bessere Qualifizierung von Arbeitslosen. Zum anderen sollen auch die Bezugsseiten des Arbeitslosengeldes ausgeweitet werden, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt dennoch nicht erfolgreich ist.

Hinsichtlich der maximal möglichen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I plädiert der DGB dafür, den Anspruch auf Arbeitslosengeld gezielt zu erhöhen. Die Laufzeit des Arbeitslosengeldes verlängert sich parallel mit der Beschäftigungsdauer. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an Weiterbildung nicht mehr auf das Arbeitslosengeld angerechnet wird. Wie das konkret aussehen könnte, verdeutlicht die Tabelle.

Ältere, denen während der Arbeitslosigkeit keine wirkungsvollen Maßnahmen zur Unterstützung der Integration angeboten werden können, erhalten eine weitere Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um sechs Monate. Damit sind gleichzeitig Anreize verbunden, sich aktiv um die Gruppe der Älteren zu kümmern und aktiv mit ihnen zu arbeiten. Und noch eine Komponente findet man in dem DGB-Konzept:

»Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes wird gleichzeitig verbunden mit der Wiedereinführung der Erstattungspflicht des Arbeitslosengeldes, wenn Arbeitgeber ältere Beschäftigte ohne zwingenden Grund entlassen. Bis zum Jahre 2003 sah die gesetzliche Regelung vor, dass der Arbeitgeber bei der Entlassung älterer Arbeitnehmer ab Vollendung des 56. Lebensjahres unter bestimmten Voraussetzungen das Arbeitslosengeld nach dem 58. Lebensjahr erstatten musste. Die Erstattungspflicht bestand vor allem dann, wenn der Arbeitgeber für die Arbeitslosigkeit des älteren Arbeitnehmers verantwortlich war. Dies schützt einerseits die Beschäftigten und beteiligt den Arbeitgeber an den Folgekosten der sozialen Sicherung. Die Erstattungspflicht ist das Gegenstück zu den Eingliederungszuschüssen an Arbeitgeber. Mit den Einnahmen können gezielt zusätzliche Maßnahmen für ältere Beschäftigte und Arbeitslose finanziert werden.« (DGB 2017: 4f.)

Aber was ist mit der in vielen Medien gerade von Arbeitgeber-Seite vorgetragenen Kritik, eine Verlängerung der Bezugsdauer von ALG I wäre ein neues Frühverrentungsprogramm? Dazu der DGB: »Durch den Vorschlag wird keine Rückkehr zur vormaligen Politik einer Frühverrentung begünstigt. So wären für 55- oder 59-Jährige die maximalen Bezugszeiten von 2 bzw. 2 1⁄2 Jahren viel zu kurz, um anschließend in Rente – auch mit Abschlägen – gehen zu können.« (DGB 2017: 5)

Der DGB will auch die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung wieder stärken. Hierzu trägt er zwei Forderungen vor:

1.) Ca. 20 Prozent der neu eintretenden Arbeitslosen rutschen direkt in Hartz IV, weil sie keinen oder einen zu geringen Anspruch aus der Arbeitslosenversicherung erlangen konnten. Die Rahmenfrist muss deswegen wieder von zwei auf drei Jahre erweitert werden. Hierdurch würden auch Leiharbeiter und Personen, die oft nur befristet beschäftigt werden, in die Absicherung der Arbeitslosenversicherung kommen.

2.) Bezieher von Arbeitslosengeld I erhalten bei nicht bedarfsdeckender Leistung von der Bundesagentur ein Mindestarbeitslosengeld in Höhe des individuellen Hartz-IV-Anspruchs. Nach der letzten Gesetzesänderung erfolgt die Arbeitsmarktintegration von sogenannten Aufstockern bereits durch die Agenturen für Arbeit. Durch das Mindestarbeitslosengeld werden Doppelstrukturen vermieden und die Arbeitslosenversicherung in ihrer Funktion gegenüber den Versicherten gestärkt. Die Kosten für das zusätzliche Mindestarbeitslosengeld werden der Arbeitslosenversicherung durch den Bund erstattet.

Die Vorschläge des DGB gehen aber noch weiter, neben der Ebene der passiven Leistungen werden auch die Maßnahmen angesprochen:

So soll durch präventive Maßnahmen unter anderem dafür gesorgt werden, dass Beschäftigte über ihr gesamtes Arbeitsleben hinweg qualifiziert bleiben. „Beschäftigten sollte über ihr ganzes Erwerbsleben hinweg eine Qualifizierungsberatung zur Verfügung stehen, in der sie neutral und individuell beraten werden“, fordert der DGB. Die Bundesagentur für Arbeit führe dazu derzeit Modellversuche durch. Diese „Qualifizierungsberatung muss zügig ausgebaut werden“.

Man muss an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, dass die „Qualifizierungsberatung“ der BA zum einen mit großen Fragezeichen zu versehen wäre, was die Frage angeht, ob die das überhaupt können. Zum anderen probiert die BA das selbst erst einmal aus in einem Modellversuch, so dass man zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht davon ausgehen kann, dass die BA schon soweit wäre, das umzusetzen, obgleich Schulz und Nahles schon eine Umbenennung der BA in „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ in den Forderungsraum gestellt haben. Hier würde der wenn überhaupt zehnte vor dem ersten Schritt gemacht. Zu dem angesprochenen Pilotprojekt der BA vgl. auch diesen Forschungsbericht des IAB: Philipp Fuchs et al. (2017): Pilotierung der Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit. Implementationsstudie und quantitative Begleitforschung. (IAB-Forschungsbericht, 01/2017), Nürnberg 2017.

Der DGB stellt sich das alles so vor: Beschäftigte und Arbeitslose sollen einen Rechtsanspruch auf Beratung zur Weiterbildung erhalten. Wenn diese Beratung bei Arbeitslosen zu dem Ergebnis kommt, dass eine Weiterbildung für die stabile berufliche Integration notwendig ist, muss sie gewährt werden. Arbeitslosen wird die Teilnahme an Weiterbildung nicht mehr auf den Bezugszeitraum von Arbeitslosengeld angerechnet. Bisher wird für zwei Tage Weiterbildung ein Tag Arbeitslosengeldbezug angerechnet. Und dann kommt eine an sich wichtige, allerdings sehr zahm ausgestaltete Forderung:

»Um auch längere Weiterbildungsmaßnahmen attraktiv zu machen, erhalten die Teilnehmer einen Zuschlag auf das Arbeitslosengeld bei Weiterbildung in Höhe von zehn Prozent des Arbeitslosengeldes, mindestens aber 100 Euro pro Monat. Der Sockelbetrag begünstigt gezielt Personen mit geringen Unterstützungsleistungen. Der Zuschlag soll es den Teilnehmern ermöglichen, auch längerfristige Weiterbildungen anzunehmen und dem Abbruch von Maßnahmen entgegenwirken. Das hilft auch jungen Menschen, die mit 25, 30 oder 35 Jahren bereits mitten im Leben stehen, eine abschlussbezogene Weiterbildung durchzuhalten. Die Regelung muss analog auf das Arbeitslosengeld II übertragen werden.« (DGB 2017: 3)

Man darf und muss den DGB an dieser Stelle erinnern – warum nur 10 Prozent, mindestens 100 Euro? Wie wäre es denn mit einer Reaktivierung eines Instruments, dass es bis Mitte der 1970er Jahre im AFG gegeben hat, wo bei abschlussbezogenen Maßnahmen bis zu 90 Prozent des letzten Nettoentgelts der Arbeitnehmer gezahlt wurden? Das wäre ein Anreiz.

Natürlich kommt die Frage nach den Kosten. Hierzu schreibt der DGB:

»Die Vorschläge des DGB können aus den laufenden Einnahmen der Arbeitslosenversicherung finanziert werden.
Die Ausweitung der Rahmenfrist kostet etwa 600 Mio. Die Kosten der Weiterbildung 600 bis 700 Mio. und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für Ältere ca. 1 Mrd. Euro. Dem gegenüber stehen die Einnahmen aus den Erstattungen der Arbeitgeber bei ungerechtfertigter Entlassung Älterer.
Zusammen rechnen wir mit einer Belastung von gut 2 Mrd. Euro.«

Arbeitskampfbilanz 2016: Der mehr oder weniger starke Arm hat auch 2016 für Stillstand gesorgt: Viele Streikteilnehmer, aber deutlich weniger Ausfalltage in den Unternehmen

Nach dem Super-Streikjahr 2015 ist die Intensität der Arbeitskämpfe in Deutschland 2016 deutlich zurückgegangen. Streikbedingt seien 462.000 Arbeitstage ausgefallen. Das liegt knapp unter dem Durchschnittswert für die Jahre 2011 bis 2014, so die Meldung 2016 wurde wieder weniger gestreikt. 2015 waren rund 2 Millionen Arbeitstage ausgefallen, als Paketboten und Erzieherinnen in lang anhaltende Konflikte um ihre Arbeitsbedingungen verwickelt waren. Ähnlich harte Streikauswirkungen waren davor im Jahr 1992 registriert worden.

Das Zahlenwerk geht zurück auf die vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichten WSI-Arbeitskampfbilanz 2016. Im Vergleich zu 2015 nahezu gleich geblieben ist 2016 hingegen die Anzahl der Streikteilnehmer mit knapp 1,1 Millionen. Wie ist dann der deutliche Rückgang der ausgefallenen Arbeitstage von 2 Mio. auf „nur“ noch 462.000 zu erklären? Es gibt solche und andere Streiks. Von den 1,1 Mio. Streikteilnehmern im vergangenen Jahr entfielen allein 800.000 auf die IG Metall, die an den meist kurzen Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie teilnahmen. Und weitere 200.000 Menschen beteiligten sich an den Warnstreiks der Gewerkschaft ver.di im Öffentlichen Dienst, an denen waren auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sowie einzelne zum dbb beamtenbund und tarifunion gehörende Gewerkschaften beteiligt, die seit mehreren Jahren im in einer Verhandlungsgemeinschaft zusammenarbeiten.

Im vergangenen Jahr sind also große, über Wochen andauernde Arbeitsniederlegungen ausgeblieben, was die deutlich niedrigere Zahl der Ausfalltage erklärt.

Bei der IG Metall und im Öffentlichen Dienst ging es um Flächentarifverträge. Aber mehr als drei Viertel der rund 200 Arbeitskämpfe im Jahr 2016 waren Auseinandersetzungen um Haus- und Firmentarifverträge:

»In vielen Fällen wurden die Verhandlungen lediglich von einzelnen, oft auch kürzeren Warnstreiks begleitet. Öffentlich wahrgenommen werden diese meist nur, wenn der Verkehrsbereich und insbesondere die Luftfahrt betroffen sind. 2016 galt dies für den von der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation UFO organisierten Streik des Kabinenpersonals bei Eurowings sowie für die Streiks der Pilotinnen und Piloten im seit 2014 andauernden Tarifkonflikt zwischen Lufthansa und Vereinigung Cockpit.«

Interessant ist der Hinweis auf die Konfliktintensität im Gesundheitswesen, wenn denn dort einmal gestreikt wird. Dazu ein Fallbeispiel aus der WSI-Arbeitskampfbilanz 2016:

»Besonders lange dauerte 2016 die Auseinandersetzung um die Übernahme des Tarifergebnisses im öffentlichen Dienst für die Beschäftigten der AMEOS-Kliniken in Hildesheim und Osnabrück an. Hier brauchte es 11 Wochen Streik, um zu einem für die Streikenden akzeptablen Ergebnis zu kommen. Neben ver.di hatte auch die zum dbb gehörende GeNi Gewerkschaft für das Gesundheitswesen zum Streik aufgerufen. Auch der nicht am Tarifkonflikt beteiligte Marburger Bund hatte explizit seine Solidarität erklärt. Wie mühsam das Tarifgeschäft bei AMEOS ist, hatte sich bereits 2015 gezeigt. Damals konnte erst nach ebenfalls mehrwöchigen Streiks ein Haustarifvertrag abgeschlossen werden.«

Das ist auch interessant vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen im Bereich der Krankenhauspflege im Saarland, wo die Gewerkschaft ver.di für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege kämpft. Mit dem Themenfeld begann das Berichterstattungsjahr 2017 in diesem Blog: Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus?, so ist der Beitrag vom 1. Januar 2017 überschrieben, in dem auch die Schwierigkeiten eines Arbeitskampfes im Bereich der Pflege behandelt wurden. Nun erfahren wir: Verdi bestreikt am Montag neun Kliniken. »Die Gewerkschaft Verdi macht im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen an den 22 Saar-Kliniken ernst: Für kommenden Montag, also wenige Tage vor der Landtagswahl, ruft sie die Mitarbeiter von neun Krankenhäusern zum Streik auf. Zudem wollen die Beschäftigten vormittags den Landtag „umzingeln“.«

Auch das WSI greift diesen Konflikt auf: »Interessant wird nach Einschätzung des Forschers der Fortgang der sehr breit angelegten Auseinandersetzung von ver.di um einen Tarifvertrag zur Entlastung des Pflegepersonals in den Kliniken des Saarlandes. Erklärtes Vorbild ist hier der 2015 erfolgte Durchbruch für bessere Arbeitsbedingungen an Deutschlands größter Klinik, der Charité in Berlin. Die Hürden zu einem umfassenden Pflegestreik im Saarland hat ver.di bewusst relativ hoch gehängt. Ein möglicher Streik für einen entsprechenden Tarifvertrag zur Entlastung wird ausdrücklich an die breite Unterstützung des Pflegepersonals in den betreffenden Krankenhäusern geknüpft. „Hier wird in verschiedener Hinsicht Neuland betreten, das Interesse an praktischen Schritten zur Entlastung ist nicht nur im Saarland unter dem Klinikpersonal groß“, sagt der Arbeitskampfexperte.«

Und bei ihrem Ausblick für das laufende Jahr 2017 hat das WSI die aktuelle Auseinandersetzung an den Berliner Flughäfen nicht vergessen: »Aktuell macht das Bodenpersonal an den Flughäfen Schönefeld und Tegel mit Streiks auf seine Forderungen nach besserer Bezahlung aufmerksam. Hier verhandelt ver.di für rund 2.000 Beschäftigte des Bodenpersonals, die häufig niedrig bezahlte Tätigkeiten wie Ladearbeiten, Check-in oder Fahren von Abfertigungsfahrzeugen ausüben.«

Zu den Hintergründen dieses Konflikts vgl. auch den Blog-Beitrag Sand im Flughafen-Getriebe. Wenn das von privatisierten Billigheimern an die Wand gedrückte Bodenpersonal den Flugverkehr lahmlegt vom 13. März 2017. Hier wurde der Streik des Bodenpersonals, der für den Montag angesetzt war, um einen Tag verlängert. Die Forderung der Gewerkschaft nach mehr Geld ist nicht nur von dem, was das Bodenpersonal leisten muss, sondern auch rückblickend gerechtfertigt, denn der Blick zurück zeigt eine deutliche Verschlechterung der Bedingungen bei gleichzeitiger Zunahme der Arbeit: Das Einkommensniveau des Bodenpersonals an den Berliner Flughäfen liegt heute um rund 30 Prozent unter dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, der bis zur Privatisierung vor gut acht Jahren angewendet wurde. 2016 wurden an allen deutschen Flughäfen rund 220 Millionen Passagier abgefertigt, vor zehn Jahren waren es noch gut 174 Millionen. Von der nahezu gleichen Anzahl der Beschäftigten in den Bodenverkehrsdiensten mussten rund 45 Millionen Passagiere mehr betreut werden, so die Gewerkschaftsangaben in dem Artikel Verdi erhöht den Druck im Flughafenstreik. Die Gewerkschaft »spricht im Zusammenhang mit der Berliner Situation, wo sich fünf Bodenverkehrsunternehmen im Kampf um Marktanteile mit Lohndumping wechselseitig in Bedrängnis bringen, von einem „perversen System. Die Situation der Beschäftigten – schlechte Löhne, Teilzeit, von einem Unternehmen ins nächste geschoben – ist in Berlin so schlecht wie an keinem anderen Flughafen“.« Dazu auch der Beitrag Wettbewerbsstrukturen machen Tarifkonflikt schwer lösbar, in dem Bezug genommen wird auf meinen Beitrag zum Streik des Bodenpersonals vom 13.03.2017: »Bis 2008 lag das Be- und Entladen der Flugzeuge, der Check-In und das Einweisen der Maschinen in der Hand eines einzigen Dienstleisters. Die Globe Ground gehörte der Flughafengesellschaft und der Lufthansa. Die Tariflöhne waren auskömmlich. Der Verkauf von Globe Ground und die Zulassung von insgesamt fünf Wettbewerbern in Tegel und Schönefeld änderten Struktur und Löhne der Branche grundlegend … Fünf Bodendienstleister – Wisag, AHS, Swissport, AeroGround und Ground Solution – konkurrieren um die Abfertigungsaufträge. Dazu kommen Tochter- und Enkelfirmen, die dann noch einmal unternehmensintern um Aufträge ihrer Muttergesellschaften ringen. Sie stellen zu noch schlechteren Tarifbedingungen ein oder heuern Leiharbeiter an. Bodendienstleister haben wegen der schlechten Bezahlung längst Probleme, Mitarbeiter zu finden. Mehr zahlen können sie aber innerhalb dieser Wettbewerbsstruktur nur, wenn sie die eigene Pleite in Kauf nehmen.«

Wie schwierig eine Auflösung dieses Konflikts ist, kann man auch diesem Bericht entnehmen: Verdi kündigt Streikpause bis nächsten Montag an. „Wir haben uns zu dieser Streikpause entschlossen, um den Arbeitgebern eine weitere Nachdenkpause zu gewähren“, heißt es von der Gewerkschaft. Noch kurze Zeit vorher standen die Zeichen auf eine weitere Eskalation des Konflikts, als bekannt wurde, dass der Billigflieger Ryanair Streikbrecher engagiert hat:

»In Schönefeld hat Ryanair laut Verdi eigenes Personal aus dem Ausland eingeflogen, das zwölf Flüge der irischen Billigfluglinie abfertigen soll. Auch Easyjet will sechs Flüge abfertigen und dafür offenbar eingeflogenes Personal einsetzen … Verdi wirft Ryanair und dem Flughafen zudem vor, dass die Streikbrecher von Ryanair ohne Sicherheitsüberprüfung auf dem Vorfeld im Einsatz seien … Die Flughafengesellschaft bestätigte auf Anfrage, dass sie acht Mitarbeitern von Ryanair eine Zutrittsgenehmigung zum Luftsicherheitsbereich des Flughafens Schönefeld ausgestellt habe … Verdi behauptet zudem, dass die eingeflogenen Ryanair-Arbeiter keine Genehmigung für die Bedienung der Maschinen hätten. Daher müssten sie die Koffer von Hand entladen. Die „Koffermuli“-Fahrzeuge und die Schlepper-Fahrzeuge würden von den Geschäftsführern der Bodenverkehrs-Dienstleister selbst gefahren. Ryanair-Mitarbeiter seien zudem teilweise in Turnschuhen und Jeans gekleidet und würden keine vorgeschriebene Schutzkleidung tragen. Die Gewerkschaft hat nach eigener Aussage auch diese angeblichen Verstöße dokumentiert und dem Luftfahrtbundesamt zugeleitet. Ryanair reagierte gereizt auf den Gegenwind der Gewerkschaft.«

Man sieht, mit welchen Bandagen hier gekämpft wird.

Sand im Flughafen-Getriebe. Wenn das von privatisierten Billigheimern an die Wand gedrückte Bodenpersonal den Flugverkehr lahmlegt

Im Jahr 2016 stieg die Zahl der von deutschen Flughäfen abreisenden Passagiere um 3,4 Prozent auf 111,9 Millionen. Das ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ein neuer Rekordwert. 88,2 Millionen Passagiere entfielen auf den Auslandsverkehr,  23,7 Millionen Passagiere auf den innerdeutschen Luftverkehr. Und darunter sind viele, die nicht nur, aber auch aus beruflichen Gründen in die Hauptstadt fliegen (müssen). Und die haben gerade ein Problem. Am vergangenen Freitag wurde der Flugverkehr für 24 Stunden lahm gelegt, weil das Bodenpersonal die Arbeit verweigert hat. Und wer geglaubt hat, erst einmal eine Zeit lang Ruhe zu haben, wurde am Wochenende mit der nächsten Streikankündigung konfrontiert, die am heutigen Montag Realität geworden ist. Rund 2.000 Beschäftigte des Bodenpersonals an den Flughäfen in Tegel und Schönefeld sind im Ausstand – eigentlich sollte es Dienstag dann wieder normal weitergehen, aber zwischenzeitlich muss man diese Meldung zur Kenntnis nehmen: Streik in Tegel und Schönefeld wird bis Mittwoch verlängert. Das mag den einen oder anderen an die Piloten der Lufthansa oder die Lokführer der GDL erinnern. Aber hier ist die DGB-Gewerkschaft ver.di verantwortlich für die Arbeitskampfmaßnahmen und nicht etwa eine (angeblich) rabiate Spartengewerkschaft, sondern es lohnt aus mehreren Gründen ein Blick auf das, was sich da an den Berliner Flughäfen abspielt.

Beginnen wir mit der Feststellung, dass der jetzt ausgebrochene Arbeitskampf mit der Folge erheblicher Einschränkungen (nicht nur) für die Flugreisenden seit langem absehbar und konsequent ist. Auf den Punkt gebraucht hat das Gerd Appenzeller in seinem Kommentar Dieser Streik war lange absehbar: »Eine unüberlegte Privatisierung wirkt sich jetzt aus. So einfach lässt sich der Streik in Tegel und Schönefeld erklären.« Und weiter:

»Als sich die Länder Berlin und Brandenburg als Miteigentümer der Berliner Flughäfen und die Lufthansa im Jahr 2008 gemeinsam für die Privatisierung der Bodenleistungen auf den Berliner Airports entschieden, machten sie einen guten Schnitt. Die Passagiere leider nicht. Die Gesellschaft Globe Ground, die nach allgemeiner Einschätzung bis dahin ihren Verpflichtungen ordentlich nachkam, wurde zerschlagen. Heute sind auf den Flughäfen in Tegel und Schönefeld mehrere miteinander konkurrierende Unternehmen tätig, die sich um das Be- und Entladen der Koffer, den Check-in und das Einweisen der Flugzeuge kümmern. Alle haben sie Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden, denn sie zahlen schlecht und machen dennoch Verluste.«

Und Appenzeller legt den Finger auf eine offene Wunde, bei deren Entstehung die Fluggesellschaften eine große Rolle spielen, die derzeit (noch) kaum auftauchen in der Berichterstattung:

»Der Druck durch die Fluggesellschaften auf die Kostenstruktur ist groß. Sie wollen für die Bodendienste möglichst wenig zahlen, das drückt die Gehälter. Der Stundenlohn liegt um elf Euro, Verdi verlangt jetzt eine Erhöhung um einen Euro. Die will die Arbeitgeberseite lediglich über vier Jahre gestreckt hinnehmen. Da viele der 2000 Jobs am Boden nur Teilzeitbeschäftigungen sind, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon nicht existieren. Sie brauchen einen zweiten Job oder Geld vom Amt.«

An dieser Stelle zeigt sich auch ein Dilemma, in dem sowohl die Gewerkschaft wie auch ihr unmittelbares Gegenüber, also die Unternehmen, die das Bodenpersonal beschäftigen, stecken: Die Gewerkschaft kann und muss zu Recht eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen, in diesem Fall der Vergütung fordern und zu erkämpfen versuchen, die unternehmerische Gegenseite aber hat ihrerseits das Problem, dass sie aufgrund des massiven Preisdrucks seitens ihrer Auftraggeber sogar mit dem praktizierten Billigheimer-Modell Verluste macht, da die Preise nicht auskömmlich sind. Insofern muss an dieser Stelle natürlich die eigentlich entscheidende Frage aufgeworfen werden, welche Verantwortung die Fluggesellschaften, die ja auf die Dienstleistung in Anspruch nehmen, haben. Appenzeller bilanziert völlig zutreffend:

»Was wir in Berlin erleben, ist die klassische Folge einer unüberlegten Privatisierung. Damit konnte man die Löhne der Mitarbeiter drücken, aber der Service wurde schlechter. Qualität hat eben ihren Preis. Und da ist noch die Sicherheitsfrage. Verdi klagt, dass einzig in Berlin der Flughafen die Personalhoheit auf dem Boden aus der Hand gegeben habe. Angesichts der Gefahren durch den Terrorismus eine fahrlässige Entscheidung.«

Und keiner kann sagen, dass das ein Problem sei, das irgendwie aktuell vom Himmel gefallen ist. Beispielsweise berichtete das Politikmagazin Frontal 21 (ZDF) am 21. Oktober 2014 in einem Beitrag unter der Überschrift Auf Kosten der Sicherheit – Billige Arbeitskräfte am Flughafen. Damals wurde über einen Kampf des Bodenpersonals gegen Lohndumping berichtet. »Dem Arbeitgeber sind seine erfahrenen Mitarbeiter zu teuer. Deshalb ersetzt er sie zunehmend durch billigere Angestellte und Leiharbeiter. Das aber kostet Sicherheit, wenn die ohne ausreichende Überprüfung in sicherheitsrelevante Bereiche kommen.«

Der damalige Bericht in einer Kurzfassung: Bis 2008 gehörte das Bodenpersonal zur Lufthansa und zur staatlichen Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg – mit gute Arbeitsbedingungen und guten Löhne. Dann wurde ihre Firma, die GlobeGround, privatisiert und an die WISAG verkauft. Die WISAG ist einer der größten Dienstleister Deutschlands mit 48.000 Mitarbeitern – von der Reinigungskraft bis zum Flughafenpersonal. Nach der Übernahme spaltet die WISAG die GlobeGround kurzerhand auf, gründet Subunternehmen: die AGSB für das Vorfeld, die AWSB für die Werkstatt und die APSB für den Check-in. An diese drei Subunternehmen vergibt die GlobeGround Aufträge für Arbeiten am Flughafen – und kann sie ihnen auch wieder entziehen. Und genau das ist der APSB widerfahren. Alle 220 Check-in-Mitarbeiter verlieren so ihre gut dotierten Arbeitsverträge. Das Check-in übernimmt eine neue Firma, deren Mitarbeiter verdienen deutlich weniger. Man kann es auch so ausdrücken: Das privatisierte Unternehmen privatisiert weiter. Man spaltet weitere Untergesellschaften ab, in denen es dann noch schlechtere Arbeitsbedingungen gibt.

Mittlerweile tummeln sich fünf unterschiedliche Unternehmen rund um die Bodendienste auf den Berliner Flughäfen, die WISAG Aviation Service Holding GmbH, die AHS Aviation Handling Services, die Swissport International Ltd., die AeroGround Berlin GmbH sowie die GROUND SOLUTION, die dann teilweise noch mit Untergesellschaften operieren. Die fünf Unternehmen haben sich zusammengeschlossen im Forum der Bodenverkehrsdienstleister Berlin-Brandenburg, über die auch mit der Gewerkschaft verhandelt wird.

Um was es geht? Die Beschäftigten beim Check-in, beim Be- und Entladen der Flugzeuge und anderen Arbeiten auf dem Vorfeld erhalten derzeit im Durchschnitt etwa elf Euro pro Stunde. Die Gewerkschaft fordert bei einer Vertragslaufzeit von zwölf Monaten einen Euro mehr pro Stunde für die Mitarbeiter des Bodenpersonals. Die Arbeitgeber boten zuletzt die schrittweise Erhöhung der Löhne in allen Entgeltgruppen an – bei einer Laufzeit von drei Jahren und mit einem Gesamtvolumen von acht Prozent mehr Geld.

Über welche Arbeitsbedingungen sprechen wir hier eigentlich? Wie die aussehen erklärt auch, warum 98,6 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in der Urabstimmung für einen Streik votiert haben. Dazu beispielsweise der Artikel Harte Arbeit, Schichtdienste, 1000 Euro netto von Peter Neumann. Er berichtet von einem Mitarbeiter Mitarbeiter der Firma Wisag Ramp Service:

»„In Tegel bin ich für viele Dinge zuständig. Ich sorge dafür, dass Flugzeuge sicher starten können und koordiniere viele Abläufe. Zum Beispiel achte ich darauf, dass das Gepäck im Laderaum richtig verteilt ist, damit das Flugzeuge nicht in Schieflage gerät. Das ist eine wichtige Aufgabe! 2013 ist in Afghanistan ein Frachtflugzeug abgestürzt, weil offenbar die Ladung verrutscht war.
Ich passe auf, dass Ladegrenzen eingehalten und Gefahrguttransporte richtig verstaut werden. Es geht um einen reibungslosen Verkehr, dass die Flugzeuge pünktlich starten, aber auch um Sicherheitsvorschriften, die einzuhalten sind.
Je nachdem, wann ich welche Schichten haben, bekomme ich pro Monat bis zu 1300 Euro brutto. Netto bleiben mir meist so um die 1000 Euro.  Meine wöchentliche Arbeitszeit beträgt 37,5 Stunden.
Ich arbeite im Schichtsystem. Es gibt viele verschiedene Anfangszeiten. Es kann sein, dass ich morgens um 4.30 Uhr da sein muss, an anderen Tagen erst um 19.30 Uhr. Die Arbeitszeit kann bis 23.30 Uhr dauern. Zum Glück wohne ich nicht sehr weit weg … Über die Wohnung, in der ich jetzt lebe, bin ich froh. Jemand hat mir dabei geholfen, sie zu bekommen. Auf dem freien Markt hätte ich sie mit meinem Lohn nie bekommen … Viele haben als Fachpraktikant in Tegel angefangen. Man muss voll arbeiten, bekommt aber nur Hartz IV und ein Praktikantengehalt, insgesamt um die 800 Euro pro Monat. Normal ist auch, dass man erst mal befristete Arbeitsverträge bekommt, für sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Viele von uns haben befristete Verträge, und sie haben Angst, dass sie beim nächsten Mal leer ausgehen. Einige haben nicht an den Warnstreiks teilgenommen, weil sie vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt worden sind. Jemand hat mal ausgerechnet, dass jeder Mitarbeiter in der Ladegruppe, der Gepäckverladung, täglich um die fünf Tonnen bewegt. In diesem Bereich, im „Keller“, wie wir hier sagen,  arbeiten vor allem Leiharbeiter. Alle von uns spüren den permanenten Zeitdruck, damit die Maschinen schnell wieder starten.«

Wohlgemerkt, nur ein Beispiel von vielen. Vor diesem Hintergrund ist dann dieser Kommentar mehr als nachvollziehbar: Das Bodenpersonal verdient eine Gehaltserhöhung, so Frederik Bombosch, der auch daran erinnert, dass das alles nicht im luftleeren Raum passiert: »Wie kommt man für 9,99 Euro nach Köln, für 29 Euro nach Lissabon, für 299 Euro nach Miami? Ganz einfach: auf Kosten anderer Leute. Der Boom der Luftfahrt in den vergangenen zwanzig Jahren ist nicht einfach so passiert. Er ist eine Folge der Deregulierung. Und diese hat zwar das wochenendliche Städtehopping bequemer gemacht als je zuvor, aber – huch! – sie erfolgte auf Kosten der Arbeitnehmer … (Auf den Flughäfen) arbeiten Menschen, die sich lange vor dem Morgengrauen aus dem Bett quälen, die durch die engen Laderäume der Flugzeuge kriechen und sich die Rücken ruinieren, wenn sie schwere Koffer wuchten. Menschen, die für die Sicherheit der Fluggäste garantieren müssen – und viele von ihnen gehen mit einem Gehalt nach Hause, das es ihnen selbst nicht erlaubt, jemals mit dem Flugzeug irgendwo hin zu verreisen.« Er geht in seinem Kommentar aber auch auf die bereits angesprochenen schwierigen Bedingungen auf der Unternehmensseite ein –  die Arbeitgeber werden die berechtigten Forderungen der Gewerkschaft nicht erfüllen können, »wenn sich bestimmte Mechanismen nicht ändern. Es ist beispielsweise kein Naturgesetz, dass sich an den Berliner Flughäfen gleich fünf Unternehmen einen Wettbewerb liefern. Die Europäische Union fordert lediglich, dass an zwei Firmen Lizenzen vergeben werden.«

Und dann kommt die entscheidende Schlussfolgerung:

»Es sind aber auch ganz andere Strukturen denkbar. Derzeit beauftragen die Fluggesellschaften die Bodendienstleister. Aber auch die Flughafengesellschaften könnten diese Aufgabe übernehmen – und dann bei den Ausschreibungen Sozialstandards festlegen. So ließe sich der absurde Zustand abstellen, dass in einer boomenden Branche die Gehälter seit Jahren stagnieren. Was einst dereguliert wurde, lässt sich auch problemlos wieder regulieren. Es braucht nur ein bisschen Mut dazu.«

Hier schließt sich übrigens der Kreis zu anderen Entwicklungen, die aus Berlin berichtet werden und die auch was mit Auslagerung von Unternehmensteilen zu tun haben, mit denen man Löhne drücken wollte und auch gedrückt hat. Das ist ein beliebter betriebswirtschaftlicher Mechanismus – auch im Krankenhausbereich. Und da gibt es in Berlin die landeseigene Charité.

»Unter dem Sparzwang des früheren rot-roten Senats wurden die Boten, Wachleute und Reiniger 2006 aus dem Charité-Tarifsystem ausgegliedert und von der eigens gegründeten CFM beschäftigt. Die Tochter gehört zu 51 Prozent der Universitätsklinik, zu 49 Prozent einem Privatkonsortium aus Dussmann, Vamed und Hellmann. Die Charité selbst ist vollständig im Landesbesitz. Viele der 2800 CFM-Mitarbeiter erhalten hunderte Euro weniger Lohn im Monat als die Kollegen, die nach dem Charité-Stammtarif bezahlt werden. Derzeit bekommt ein CFM-Reiniger etwa zehn Euro brutto die Stunde, wie in der Branche üblich. Nach Charité-Stammtarif wären es jedoch rund 15 Euro«, berichtet Hannes Heine in seinem Artikel Senat kauft Charité-Tochterfirma CFM zurück.

Die Charité-Tochter CFM mit fast 2.800 Mitarbeitern soll voraussichtlich 2019 (wieder) vollständig dem Land gehören. Dazu plant der Senat, einen einstelligen Millionenbetrag an die privaten Eigner zu zahlen. Das Verfahren läuft noch, bis Sommer soll Klarheit bestehen. Aber auch wenn das Land wieder alleiniger Besitzer der Charité-Tochterfirma wird, ein Zurück in die alte Welt wird nicht erwartet, man spekuliert eher über einen Kompromiss: »Als wahrscheinlich gilt …, dass der Charité-Tarif nach unten geöffnet wird, dass die Reiniger dann zwar vom Stammhaus bezahlt werden, aber eben nicht 15 Euro, sondern möglicherweise 12,50 Euro bekämen.«

Wie dem auch sei, das Beispiel zeigt, dass wir es hier auch mit einer politischen Frage zu tun haben, dass Politik gestalten kann, wenn sie denn will. Mit Blick auf das Bodenpersonal muss dafür gesorgt werden, dass halbwegs anständige Arbeitsbedingungen auch durchgesetzt werden können auf dem gnadenlosen Schlachtfeld des Wettbewerbs der Fluggesellschaften um „noch billiger“ als bisher. Hier kann und muss man mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schaffen, was ja ansonsten gerne Gegenstand vieler Sonntagsreden ist.

Ausbildung: Viele studieren, die duale Berufsausbildung kämpft gegen den Sinkflug und das „Übergangssystem“ wächst wieder

„Akademisierungswahn“, so lautet eines der Schlagworte der bildungspolitischen Diskussion. „Azubi-Mangel“ ein anderes, das man sich noch vor einigen Jahren nicht hat vorstellen können, als viele junge Menschen beim anstehenden Übergang von der Schule in den Beruf keinen Fuß in die Tür bekommen haben – und durchaus folgerichtig aufgefangen bzw. geparkt wurden im vielgestaltigen „Übergangssystem“. Aber die vergangenen Jahre waren geprägt durch eine sowohl demografisch bedingte Verschiebung der Angebots-Nachfrage-Relationen im Sinne einer Abnahme der Zahl der jungen Menschen wie auch eine durch gesellschaftlichen Wertewandel verursachte Verschiebung zwischen den Ausbildungssektoren. Das Jahr 2013 kann und muss man sich als ein historisches Datum merken, denn in diesem Jahr gab es erstmals mehr Studienanfänger als neue Auszubildende im dualen Berufsausbildungssystem. Während sich die Zahl der Studienanfänger auf hohem Niveau stabilisiert, kämpft die duale Berufsausbildung weiter gegen den erkennbaren Sinkflug, wenn man denn diesen an der Zahl der Neuzugänge misst.

Aber die Abbildung verdeutlicht noch zwei andere Auffälligkeiten. Eine davon wird oftmals übersehen. Die Zugangszahlen in das Schulberufssystem erscheinen seit vielen Jahren wie festgenagelt knapp oberhalb der 200.000 Neuzugänge pro Jahr. Dabei handelt es sich hier neben dem dualen Berufsausbildungssystem um einen ganz wichtigen Teilbereich der beruflichen Qualifizierung, denn hier sind beispielsweise zahlreiche Berufe des Gesundheitswesens- und Sozialwesens angesiedelt, nicht nur die Pflegeberufe, sondern beispielsweise auch die Erzieher/innen. Und man muss nur etwas mitbekommen haben von der höchst umstrittenen Fachkräftemangel-Debatte in Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen wie mehr alte Menschen und Ausbau der Kindertagesbetreuung, um die einfache Frage zu stellen, warum die Zugangszahlen angesichts des offensichtlichen Bedarfs hier nicht viel stärker angestiegen sind.

Die Abbildung mit der Entwicklung in den Jahren von 2005 bis 2016 verdeutlicht aber noch eine andere Auffälligkeit. Man erkennt den deutlichen Rückgang der Neuzugänge in das überaus heterogene Übergangssystem zwischen Schule und Beruf, das nicht nur, aber auch viele junge Menschen aufnehmen musste, als es „zu viele“ Bewerber für einen Ausbildungsplatz gegeben hat, die dann nicht zum Zuge gekommen und „unversorgt“ geblieben sind. Daneben gehören zum Übergangssystem auch diejenigen, die einen oder einen höheren Schulabschluss zu erwerben versuchen. Hinzu kommen zahlreiche junge Menschen, die tatsächlich oder einfach aufgrund der Marktbedingungen als noch nicht „ausbildungsreif“ (ein übrigens höchst umstrittener Begriff) etikettiert wurden und werden und es durchaus nicht selten auch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht sind, jedenfalls nicht im bestehenden System.

Aufgrund der vor allem demografisch bedingten Entspannung, aber auch eines zunehmenden Anteils an jungen Menschen, die ein Studium aufnehmen und damit nicht mehr dem dualen Berufsausbildungssystem zur Verfügung stehen, hat sich für einen Teil der der jungen Menschen, die unter den für sie schlechteren Marktbedingungen in das Übergangssystem abgedrängt worden sind, die Chance auf den direkten Einstieg in eine Berufsausbildung erhöht. Das hat sich in den zurückliegenden Jahren deutlich niedergeschlagen in einem massiven Rückgang der Neuzugänge in das Übergangssystem von weit über 400.000 auf knapp 253.000 im Jahr 2014, als der bisherige Tiefstand erreicht wurde. Aber seit 2015 steigt die Zahl der Zugänge wieder an, im vergangenen Jahr waren es ausweislich der Schnellmeldung Integrierte Ausbildungsberichterstattung des Statistischen Bundesamtes fast 300.000.

Schaut man genauer in die Statistik des Übergangssystems, dann erkennt man im Vergleich der beiden Jahre 2015 und 2016, dass der Anstieg ausschließlich auf die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen zurückgeht, also vor allem beim Berufsvorbereitungsjahr und den einjährigen Berufseinstiegsklassen.

An dieser Stelle wird dann auch plausibel erwartbar, dass das Übergangssystem eben nicht einer „biologischen“ Lösung, also einem generell mangelbedingten Aussterben, zugeführt wird, sondern dass wir durchaus realistisch einen weiteren Anstieg der Neuzugänge erwarten müssen. Denn zum einen ist die aufgrund der gestiegenen Studierneigung  dem dualen Berufsausbildungssystem immer wieder empfohlene „Öffnung nach unten“, also hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen, angesichts der realen Marktverhältnisse von vielen Betrieben durchaus umgesetzt worden, aber es gibt systemstrukturelle Grenzen für diesen Prozess, die zum einen mit der nicht weg zu diskutierenden Verhaltensseite bei einigen jungen Menschen zu tun haben, zum anderen aber – und weitaus gewichtiger – mit der Tatsache, dass eben auch die duale Berufsausbildung einem erheblichen kognitiven Upgrading unterworfen wurde, was auch angesichts der Berücksichtigung der technologischen Entwicklung in vielen Handwerken auch nicht vermeidbar ist. Daran aber scheitern nicht wenige praktisch begabte junge Menschen. Hinzu kommt: Viele der jüngeren Flüchtlinge, die potenziell für eine Berufsausbildung in Frage kommen könnten, werden erst einmal im Übergangssystem landen.

Erneut starker Anstieg der Anfänger bei Bildungs­programmen im Übergangs­bereich im Jahr 2016, so ist die Mitteilung vom 10.03.2017 überschrieben: Für 2016 weist die vorläufige Berichterstattung einen Anstieg der Eintritte in das Übergangssystem in Höhe von +12,2 Prozent aus. Dabei wird von den Bundesstatistikern darauf hingewiesen, dass der Anstieg eher unterzeichnet ist, da aus Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland zum Übergangsbereich im Wesentlichen nur Vorjahresdaten vorliegen. Und was wird als Erklärung für den Anstieg angeboten?

»Seit dem Jahr 2015 steigt die Zahl der Anfängerinnen und Anfänger im Übergangsbereich wieder an. Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf Programme zum Erlernen der deutschen Sprache für jugendliche Flüchtlinge und Zugewanderte zurückzuführen.«

Abschließend ein Blick auf eine der Großbaustellen der bildungspolitischen Debatte der vergangenen Jahre- zugespitzt formuliert: Immer mehr wollen studieren, immer weniger eine klassische Berufsausbildung (ob dual oder fachschulisch) absolvieren. Zu diesem hoch kontroversen Themenfeld hat sich nun das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu Wort gemeldet mit einer neuen Studie:

Regina Dionisius und Amelie Illiger (2017): Trends ins Studium und in die duale Berufsausbildung unter Berücksichtigung ausgewählter Einflussfaktoren. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 182, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

Und das, was darin vorgetragen wird, ist für den einen oder anderen sicher überraschend: Während immer mehr junge Menschen ein Studium beginnen, sinken die Anfängerzahlen in der dualen Berufsausbildung. Die Zahlen allein lassen jedoch nicht auf einen veränderten Studier- oder Ausbildungstrend der Jugendlichen in Deutschland schließen. Die BIBB-Studie beleuchtet die Faktoren, welche die Anfängerzahlen in den unterschiedlichen Bildungsbereichen beeinflussen. Die Analyse basiert auf Daten der amtlichen Statistik für den Zeitraum 2005-2014 und berücksichtigt neben den Effekten der Einführung des achtjährigen Gymnasiums, der steigenden Zahl von Bildungsausländern/-ausländerinnen, der demografischen Entwicklung sowie der Situation am Ausbildungsmarkt auch länderspezifische Einflüsse. Panel Regressionen mit fixen Effekten weisen einen leichten Trend zu mehr Studierenden nach. Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung wird jedoch nicht festgestellt. »Eine Abwendung von der dualen Berufsausbildung kann für den gewählten Betrachtungszeit­ raum nicht festgestellt werden. Die Neigung zur Aufnahme einer dualen Berufsausbildung hängt im Wesentlichen vom Ausbildungsplatzangebot ab«, so Dionisius/Illiger (2017: 22).

Offensichtlich plädieren die beiden Autoren der Studie für eine Abkehr von der bisherigen getrennten Sicht auf die einzelnen Ausbildungssektoren:

»Es stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern die Bildungssäulen „duale Berufsausbildung“ und „Studium“ wei­terhin als Alternativmodelle nebeneinanderstehen. Rauner … beschreibt unter dem Titel „Akademisierung beruflicher und Verberuflichung akademischer Bildung“ einen Prozess, den Esser als „Entsäulung“ … bezeichnet. Dies bezieht sich insbesondere auf die Entwick­lung sogenannter „hybrider Ausbildungsformate“ … Hierunter fallen vor allem die dualen Studiengänge sowie die doppelqualifizierenden Bildungsgänge, in denen gleichzeitig Berufsabschluss und Hochschulzugangsberechtigung erworben werden kön­nen. Quantitativ erfährt insbesondere das duale Studium einen starken Zulauf. So hat sich das Angebot an dualen Studiengängen zwischen 2005 und 2014 mehr als vervierfacht … und die Zahl der Anfänger/-innen im dualen Studium an Hochschulen mehr als verzehnfacht.«

Flaschenhals Leitung. Die Kindertageseinrichtungen und ihre (nicht vorhandenen oder oft kurz gehaltenen) Leitungskräfte. Und wie es sein sollte

In den vergangenen Jahren war der Ausbau der Kindertagesbetreuung vor allem in Westdeutschland bei den unter dreijährigen Kindern immer wieder Gegenstand teilweise extrem kontroverser und emotionalisierter Debatten. Nach der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz zum August 2013 ist es dann wieder ruhiger geworden um das Thema, lediglich kurz unterbrochen von den Wochen des Kita-Streiks im Jahr 2015 (vgl. dazu u.a. den Beitrag Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig vom 7. Mai 2015). Das heißt aber noch lange nicht, dass jetzt alles gut ist – wenn, dann vielleicht in der Wahrnehmung der politisch Verantwortlichen, die den Eindruck haben, das Thema wäre vom Tisch. Für viele Eltern stellt sich die Situation ganz anders dar – sie müssen die teilweise sehr ernüchternde Erfahrung machen, dass ein Rechtsanspruch nicht immer auch bedeutet, dass daraus auch eine Realität wird (vgl. dazu beispielsweise den Artikel Wenn die Kita zwölf Kilometer entfernt ist). Und viele Kommunen müssen das „ausbaden“, was man ganz oben eingeführt hat, denn die Umsetzungsverantwortung liegt bei ihnen und viele Kommunen machen die Erfahrung, dass sie es beim „Bedarf“ an Kita-Plätzen mit einem „beweglichen Ziel“ zu tun haben, dass also der Bedarf deutlich größer ist als angenommen bzw. unterstellt und gerade dort, wo bereits erhebliche Kapazitäten aufgebaut wurden, der Bedarf weiter zunimmt.

Man nehme nur als ein Beispiel die Situation in der Hauptstadt Berlin. In Berlin gibt’s fast keine Kita-Plätze mehr, so ist einer der vielen Artikel überschrieben. »Wie schnell der Bedarf wächst, zeigt ein Vergleich zwischen 2014 und 2015: In nur einem Jahr kamen rund 10.000 unter Siebenjährige hinzu. Inzwischen sind es mehr als 241.000. In derselben Zeit stieg die Zahl der Kitakinder um mehr als 5000.« Derzeit gibt es in Berlin knapp 154.000 Plätze. Die Aufgabe ist gewaltig: Es werden rund 140 zusätzliche Kitas benötigt, für die Bauplätze aber erst noch gefunden werden müssen.

In den vergangenen Jahren hat es eine enorme Expansion der in den Kitas Beschäftigten gegeben. Die Entwicklung der Beschäftigung in den Kindertageseinrichtungen verdeutlicht die Abbildung am Anfang des Beitrags. »Von 1990/91 bis 2015 ist die Anzahl aller Beschäftigten bundesweit um 78% auf insgesamt rund 642.300 gestiegen. Ein deutlicher Personalzuwachs ist insbesondere seit 2006 zu beobachten. Seitdem wurden rund 227.300 (+55%) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kitas eingestellt«, kann man dem Fachkräftebarometer Frühe Bildung entnehmen. Und auch die Kitas haben sich verändert – die Kinder kommen heute in deutlich jüngeren Jahren in die Einrichtung, sie bleiben oftmals länger in der Kita und die Öffnungszeiten haben sich von den Betreuungszeiten der Kinder entkoppelt. Gleichzeitig hat sich das Personal von der Menge her in vielen Kitas vergrößert (auch durch andere Personalschlüssel aufgrund der Kinder unter drei Jahren) und der Anteil der Teilzeitbeschäftigten unter den pädagogischen Fachkräften hat weiter zugenommen. Hinzu kommt eine sehr hohe Erwartungshaltung seitens vieler Eltern und der Politik aufgrund der „bildungspolitischen Aufladung“ der Kitas. Das alles muss organisiert werden.

An dieser Stelle sind wir bei den Leitungskräften in den Kindertageseinrichtungen angekommen, denn die müssen genau das leisten. Müssten, sollten – aber das können sie natürlich nur, wenn sie dazu auch in die Lage versetzt werden, also konkret: für diese Leitungsaufgaben anteilig oder ganz freigestellt werden von der Arbeit an und mit den Kindern.

Und hinsichtlich der eigentlich erforderlichen Leitungsfreistellung sieht es schon seit Jahren mehr als bescheiden aus, was ebenfalls seit Jahren immer wieder beklagt wird. Dabei ist die Bedeutung der Leitungsarbeit und damit der Leitungskräfte nicht hoch genug einzuschätzen, denn die Leitungskräfte sind nicht nur dazu da, den Laden am Laufen zu halten, sondern wir wissen aus der Forschung gesichert, dass sie eine entscheidende Bedeutung haben für die (Nicht-)Qualität der konkreten Einrichtung. Vgl. dazu umfassend Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (Hrsg.): Leitung von Kindertageseinrichtungen, München 2014.

Nun hat die Bertelsmann-Stiftung einen genaueren Blick auf die Situation der Leitungskräfte geworfen und zugleich berechnet, wie es eigentlich sein sollte, aber (noch?) nicht ist: Kita-Leitungen fehlt Zeit für Führungsaufgaben – Qualität leidet, so ist der Bericht über die neue Studie überschrieben. »Für Pädagogik, Personal, Budget und Elterngespräche fehlt den Leitungskräften durchschnittlich etwa die Hälfte der eigentlich notwendigen Zeit.« Und die Situation unterscheidet sich bereits zwischen den Bundesländern ganz erheblich.

Zur Bewertung zu wenig oder ausreichend braucht man einen Maßstab. Nach diesem Maßstab »sollten jeder Kita unabhängig von ihrer Größe 20 Stunden pro Woche für Führungsaufgaben zur Verfügung stehen. Für jedes rechnerisch ganztags betreute Kind sollten zusätzlich 0,35 Stunden wöchentlich hinzukommen, um die Mehrarbeit bei einer wachsenden Kita-Größe bewältigen zu können. Das bedeutet: In einer Kita mit 30 Kindern hätte eine Leiterin 30,5 Wochenstunden, um mit Eltern und externen Partnern zusammenzuarbeiten oder am Kita-Konzept zu feilen. Fast doppelt so viele Leitungsstunden würden einer Einrichtung mit 115 ganztags betreuten Kindern zur Verfügung stehen.«

Fangen wir mit den „guten“ Kitas an, gemessen an diesen Vorgaben: »Nur 15 Prozent der mehr als 51.000 Kitas in Deutschland erfüllen derzeit unsere Empfehlungen.«

Nu in jeder zweiten Kita in Deutschland ist wenigstens eine halbe Stelle für Leitungsaufgaben vorhanden. »Allen anderen knapp 25.000 Kitas in Deutschland steht noch nicht einmal der von uns empfohlene Sockel von 20 Leitungsstunden zur Verfügung. Fast 11 Prozent der deutschen Kitas haben sogar überhaupt keine zeitlichen Ressourcen für Leitungs- und Verwaltungsaufgaben. Davon betroffen sind vor allem kleinere Einrichtungen. Jeder vierten Kita mit weniger als 40 Plätzen steht keinerlei Zeit für Leitung und Verwaltung zur Verfügung.«

Wir krass die Unterschiede sind zwischen den Bundesländern verdeutlicht dieser Passus:

»Überhaupt keine zeitlichen Ressourcen haben in Bremen 28 Prozent der Kitas, in Sachsen-Anhalt und Thüringen hingegen nur knapp 1 Prozent. Und während in Hamburg jede zweite Kita unsere Empfehlungen erfüllt, erreichen in Thüringen nur 3 Prozent der Kitas den empfohlenen Wert. Nicht viel besser ist die Lage in Sachsen-Anhalt (4 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (5 Prozent) und Bayern (6 Prozent).«

Bundesweite Standards sind nicht nur angesichts der Bedeutung der Leitungsarbeit, sondern auch vor dem Hintergrund dieser massiven Streuung unabdingbar. Aber man kann sich vorstellen, dass das angesichts der Unterausstattung eine Menge zusätzliches Personal und – keine Überraschung – zusätzliche Finanzmittel erfordern würde, um den Standard flächendeckend erreichen zu können.  Auch das hat die Bertelsmann-Stiftung dankenswerterweise berechnet:

»Um den Standard zu erreichen, ist vor allem eines notwendig: mehr Personal. Für die Leitungsebene fehlen umgerechnet 21.800 Vollzeitkräfte in Deutschland. Würde man sie einstellen, würden die Personalkosten bundesweit um jährlich bis zu 1,3 Milliarden Euro ansteigen. Das entspricht in etwa 5 Prozent der öffentlichen Ausgaben für die Kindertagesbetreuung.«

Wenn das jetzt dem einen oder anderen viel vorkommt: Der von der Bertelsmann-Stiftung berechnete Idealzustand bei der nötigen Zeit für das Führungspersonal liegt sogar noch unter der Forderung des Bundesfamilienministeriums. Dieses berücksichtigt bei der Berechnung der für Leitungsaufgaben nötigen Zeit in Kitas auch Faktoren wie Mitarbeiterzahl und soziales Umfeld (vgl. dazu Kitaleitern fehlt Zeit für Führungsaufgaben). Gerade der letzte Punkt ist von enormer sozialpolitischer Bedeutung, wenn man berücksichtigt, wie groß die Heterogenität zwischen den Kitas ist, die ja im Regelfall Kinder versorgen aus ihrem räumlichen Umfeld. Insofern wären Kitas in „schwierigen“ Stadtteilen grundsätzlich mit mehr Fachkräften auszustatten, aber auch die Managementfunktionen sind hier nochmals anspruchsvoller und ressourcenintensiver als in einer Kita, die sich in einem Wohngebiet befindet, in dem vor allem gut situierte Kinder leben.

Hierzu als ein Beispiel von vielen der Artikel 100 Kinder, 37 Nationen, zu wenig Geld, der über eine Studie der Hochschule Niederrhein berichtet, nach der die (meisten) Kitas mit den Landespauschalen in Nordrhein-Westfalen finanziell nicht über die Runden kommen (können). Auch hier taucht die Leitungsfrage wieder auf:

»Sabine Howaldt muss nicht lange überlegen. Was sie sich als Leiterin einer evangelischen Kindertagesstätte in Essen wünschen würde? „Dass die Träger finanziell besser ausgestattet werden.“ Dann, so die 61-Jährige, könnte sie sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren und müsste nicht noch stundenweise in den Gruppen tätig werden. „Ich leite schließlich ein mittelständisches Unternehmen; bei uns sind 100 Kinder aus 37 Nationen“, sagt Howaldt.«

Aber schlussendlich muss auf eine weitere Baustelle hingewiesen werden: Selbst wenn die Politik sich entscheiden würde, dass man nicht nur die Leitungsfrage lösen, sondern auch die seit Jahren geforderten besseren Personalschlüssel für die Arbeit an und mit den Kindern  zur Verfügung stellen will – es fehlt in vielen Gegenden schlichtweg an qualifiziertem Personal. Der bisherige Ausbau und der damit verbundene personelle Mehrbedarf (wohlgemerkt, auf Basis der aus fachlicher Sicht zu schlechten Personalschlüssel) konnte noch mehr oder weniger erfolgreich gemeistert werden. Aber woher das Fachpersonal kommen soll, wenn a) der quantitative Ausbau weitergehen muss, weil die Bedarfe der Eltern weiter ansteigen und b) dann auch noch zusätzliches Personal erforderlich wird, um die Qualität zu steigern, dass kann derzeit wohl kaum einer schlüssig beantworten.

Abbildung: Fachkräftebarometer Frühe Bildung. in Projekt der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte; www.fachkraeftebarometer.de/personal/beschaeftigte/ (Abruf am 07.03.2017)