In den zurückliegenden zwei Wochen hat der designierte Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, einen Teil der öffentlichen Debatte beherrschen können mit der erst einmal nur vagen Andeutung, dass es eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I geben soll, wenn er was zu sagen hätte (vgl. dazu u.a. den Beitrag Am Welttag für soziale Gerechtigkeit mehr Gerechtigkeit für (ältere) Arbeitslose? Martin Schulz und der alte Wein in alten Schläuchen vom 20. Februar 2017). Sofort wurde eine (angebliche) Infragestellung der „Agenda 2010“ hin und her diskutiert, dabei wäre eine (nochmalige) Verlängerung der maximalen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I, die ja schon vor einigen Jahren für die über 50-jährigen Arbeitslosen (wieder) ausgeweitet worden ist, lediglich eine Korrektur an dem, was mit der „Agenda 2010“ über uns gekommen ist.
Die Systemfrage würde erst dann gestellt werden, wenn es um das Hartz IV-System gehen würde, in dem sich mittlerweile gut 70 Prozent der Arbeitslosen befinden, denn nur noch eine kleine Minderheit ist für einige Zeit überhaupt in der Arbeitslosenversicherung abgesichert. Nun aber hat Martin Schulz bzw. die von ihm mit der Konzepterstellung beauftragte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) einige weitere Umrisse erkennen lassen, was konkret verändert werden soll.
»Künftig sollen Arbeitslose ein Recht auf Weiterbildung haben, das es so bisher nicht gibt. Finden sie innerhalb von drei Monaten keine neue Stelle, sollen sie ein Angebot für eine „Qualifizierungsmaßnahme“ bekommen. Zuständig sein soll die Bundesagentur für Arbeit, die in „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ umbenannt würde. Für die Dauer der Qualifizierung soll der Teilnehmer ein neues „Arbeitslosengeld Q“ in Höhe des Arbeitslosengeldes I bekommen. Nach Ende der Qualifizierung bekommt der Betroffene dann wieder das normale Arbeitslosengeld. Neu daran ist, dass die Bezugsdauer des „Arbeitslosengelds Q“ nicht auf die Zeit angerechnet wird, die ein Betroffener Anspruch auf Arbeitslosengeld I hat. Bislang war es so, dass für die Zeit der Qualifizierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds um die Hälfte gemindert wurde«, kann man diesem Artikel von Christoph Hickmann entnehmen: So will Schulz bei der Agenda 2010 nachbessern.
Hickmann weist darauf hin, dass manche enttäuscht sein könnten, die auf eine schlichte Verlängerung der möglichen Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I gehofft hatten, bevor möglicherweise der Absturz in das Hartz IV-System ansteht.
»Verlängerung gibt es nur gegen Qualifizierung.« So lautet offensichtlich die Formel, die man gefunden hat – und die geht auf den ersten Blick konform mit dem „Fordern und Fördern“-Ansatz, der zu den Kernelementen der „Agenda 2010“ gehört.
Eine substanzielle Änderung zum ersten Stadium der Schulz-Vorschläge ist darin zu sehen, dass von diesem Ansatz auch Arbeitslose betroffen sind bzw. profitieren könnten, die jünger als 50 Jahre als sind. Und zum zweiten, darüber wird noch zu sprechen sein, verbindet man den möglichen längeren Bezug mit einer Art „Gegenleistung“ (also die Teilnahme an einer „Qualifizierung“) und überall wird doch hervorgehoben, wie wichtig die Qualifikationen heute so sind.
»Ein 58-jähriger Arbeitnehmer, der bislang Anspruch auf 24 Monate Arbeitslosengeld I hätte, könnte theoretisch künftig auf eine Bezugsdauer von maximal 48 Monaten kommen.« Genau an dieser Stelle setzen einige Kritiker ein. So hat sich beispielsweise Peter Clever vom Arbeitgeberverband BDA zu Wort gemeldet: „Je länger jemand arbeitslos ist, desto schwieriger wird der Wiedereinstieg in Beschäftigung.“ Und weiter: „Längere Bezugszeiten bauen gerade für ältere Arbeitslose keine Brücken in neue Beschäftigung.“ Diese gebe es für ältere Arbeitslose nur durch gezielte, praxisorientierte Qualifizierung, ausgerichtet an den Stärken des Einzelnen und den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts, so Clever. Das kann man diesem Artikel entnehmen: Arbeitgeber kritisieren Schulz‘ Agenda-Pläne. Die Arbeitgeberfunktionäre befürchten Anreize zur Frühverrentung bei den älteren Arbeitslosen.
Aber ist das alles realistisch? Bleiben wir bei dem Beispiel mit dem 58-jährigen Arbeitslosen, der bislang maximal 24 Monaten, nach dem neuen Konzept bis zu 48 Monaten Arbeitslosengeld I beziehen könnte. Dazu Christoph Hickmann in seinem Artikel: »Hier handelt es sich allerdings um ein Extrembeispiel. Häufiger sind bisher kürzere Qualifizierungsmaßnahmen zwischen vier und sechs Monaten.«
Genau da sind wir an einer wichtigen, wenn nicht der zentralen Problemstelle angekommen. Was genau versteht man denn unter „Qualifizierung“? Dass das Arbeitslosengeld I, das während der Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme weitergezahlt und nicht mehr teilweise angerechnet wird auf den Anspruchszeitraum, das ist nun wirklich nicht neu, sondern wäre nur die Wiederherstellung alten Rechts. Früher kannte man das als Unterhaltsgeld während der Maßnahme, deren Bezug den Arbeitslosengeld I-Anspruch nicht geschmälert hatte. Mit der teilweisen Anrechnung und später der Abschaffung hatte man schon vor vielen Jahren begonnen – nicht wirklich überraschend, um Ausgaben einsparen zu können. Insofern wäre die Nicht-Anrechnung des Arbeitslosengeld I-Bezugs während einer Weiterbildungsmaßnahme nur die Rückkehr zu altem Recht.
Aber der Vorschlag geht ja noch weiter, wie man dem Artikel Martin Schulz will mit „Arbeitslosengeld Q“ punkten entnehmen kann:
„Wir wollen ein Recht auf Weiterbildung einführen“, heißt es in der Beschlussvorlage. Die oberste Arbeitsbehörde soll in „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ umbenannt und gesetzlich verpflichtet werden, Arbeitslosen ein Angebot für eine Qualifizierungsmaßnahme zu machen, wenn sie innerhalb von drei Monaten keine neue Beschäftigung finden. Für die Dauer der Qualifizierung wird „Arbeitslosengeld Q“ in Höhe des Arbeitslosengeldes I gezahlt.
An dieser Stelle ergeben sich zwei für die weitere Debatte wichtige Fragen: Macht es wirklich inhaltlich Sinn, die BA zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ umzubenennen und wenn das bejaht wird – welchen? Bevor wir uns damit befassen, stellt sich die eben nicht triviale Frage: Was meinen die eigentlich mit „Qualifizierungsmaßnahmen“?
Im Bereich SGB III (also der Arbeitslosenversicherung, nicht im Hartz IV-System, da liegen die Werte noch niedriger) wurden ausweislich der Daten der Bundesagentur für Arbeit 2016 insgesamt 456.000 Personen mit Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gefördert. Die Aktivierungsquote im SGB III (= Anteil der Teilnehmenden an ausgewählten Maßnahmen an der Summe aus Arbeitslosen und diesen Maßnahmeteilnehmenden) lag 2016 bei 23,5 Prozent. Anders gesagt: Noch nicht einmal jeder Fünfte ist im SGB III mit irgendeiner Maßnahme versorgt worden, wobei die Betonung auf irgendeine Maßnahme liegt. Die Abbildung verdeutlicht, wie sich die diejenigen, die irgendeine arbeitsmarktpolitische Maßnahme im vergangenen Jahr begonnen haben, auf die einzelnen Bereiche verteilen, die natürlich von ganz unterschiedlicher Qualität sind.
Lediglich 13 Prozent aller Zugänge entfallen auf den Bereich der beruflichen Weiterbildung – und der ist auch nur eine Sammelkategorie für überaus unterschiedliche Weiterbildungsmaßnahmen.
Schauen wir für etwas mehr Klarheit in diese neue Studie, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vor kurzem veröffentlicht worden ist:
➔ Alexandra Bläsche, Ruth Brandherm, Christoph Eckhardt, Bernd Käpplinger, Matthias Knuth, Thomas Kruppe, Michaela Kuhnhenne und Petra Schütt (2017): Qualitätsoffensive strukturierte Weiterbildung in Deutschland. Working Paper Forschungsförderung Nr. 25, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, Februar 2017
Dort dient man unter der Überschrift „Weiterbildung im Rahmen der Arbeitsförderung“ (S. 27 f.) folgende Hinweise:
»Die berufliche Weiterbildung innerhalb der Arbeitsförderung (SGB III/SGB II) ist seit Jahren rückläufig. Vorrangiges Interesse ist eine möglichst kurzfristige Eingliederung in Arbeit. Dem entsprechend werden mehr kurzfristige Weiterbildungen bis zu einem Jahr eingesetzt. Die abschlussbezogene Weiterbildung (Umschulungen, Teilqualifikationen, Vorbereitungskurse auf die Externenprüfung) wird zwar programmatisch hervorgehoben, die Eintritts- und Bestandszahlen stehen aber im Missverhältnis zu der hohen Zahl an- und ungelernter sowie langzeitarbeitsloser Personen unter den Arbeitslosen.«
Und dann zitieren die Autoren (S. 27) angeblich die Bundesagentur für Arbeit selbst, allerdings findet man das folgende Zitat nicht in der angegebenen BA-Quelle, sondern in diesem Text des IAQ: Teilnehmer in ausgewählten arbeitsmarktpolitischen Instrumenten 2006 – 2015:
»Die Rückführung der Förderung beruflicher Weiterbildung ist in erster Linie eine Folge der Neuausrichtung der Förder- und Geschäftspolitik der Bundesagentur für Arbeit. Die Förderung beruflicher Weiterbildung hat gegenüber der direkten Vermittlung immer mehr an Bedeutung verloren. Insbesondere längerfristige Qualifizierungen (abschlussbezogene Maßnahmen) sind abgebaut worden. Im Mittelpunkt steht das Zielder direkten Verwertbarkeit der Qualifikationen und der zügigen Vermittlung in Beschäftigung. Kurzfristige Erfolge, gebunden an strengen Förderkriterien, bestimmen die Vergabe von Fördermitteln. Diese Anforderungen an einen effektiven Mitteleinsatz führen dazu, dass von der Förderung vor allem die bereits besser Qualifizierten profitieren.«
Und auch mit Blick auf die andere Komponente des Modells bleiben zum jetzigen Zeitpunkt große Fragezeichen. Die BA als „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“? Kann die das mit der Qualifizierung? Da haben sicher eine Menge Leute ganz erhebliche Zweifel, ob die BA das nach der inhaltliche Entleerung und dem fachlichen Downgrading beim Personal wirklich kann. Darüber muss offen gestritten werden – und die BA muss Rechenschaft ablegen, ob und wo sie denn (noch) die Kompetenz hat für diesen Aufgabenbereich. Vorher sollten wir das vorläufig abbuchen unter der Rubrik Simulation von Verbesserungen.
Zur Vollständigkeit gehört aber auch abschließend der Hinweis auf weitere Korrekturen, die nach der Berichterstattung im SGB III und jetzt zum erstmal auch im SGB II vorgenommen werden sollen: »Die SPD will zudem den Kreis derjenigen ausweiten, die Anspruch auf ALG I haben. Derzeit müssen dafür innerhalb von zwei Jahren mindestens zwölf Monate lang Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt worden sein. Künftig sollen zehn Beitragsmonate innerhalb von drei Jahren reichen … In der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) soll es höhere Vermögensfreibeträge geben. Das aus Steuern finanzierte Arbeitslosengeld II (ALG II) erhalten Erwerbsfähige, die arbeitslos sind, aber keinen Anspruch auf ALG I haben. Bevor sie Hartz IV bekommen, müssen sie bis zu einem bestimmten Freibetrag auf eigenes Vermögen zurückgreifen. Den Freibetrag, der davon verschont bleibt, will die SPD von derzeit 150 auf 300 Euro pro Lebensjahr erhöhen. Im Falle eines 60-Jährigen bliebe demnach Erspartes von bis zu 18.000 Euro unangetastet.«
Nachtrag: Beschluss des SPD-Parteivorstandes: Qualifizierung stärken, Versicherungsschutz verbessern: Die Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung vom 06.03.2017