Ein „weitgehend“ grundgesetzkonformes Tarifeinheitsgesetz. Aber geht das überhaupt – ziemlich schwanger, aber nicht ganz? Und wer muss das ausbaden?

Das hohe Gericht in Karlsruhe hat gesprochen, wenn auch nicht einstimmig: Das Tarifeinheitsgesetz ist weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar, so die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017. »Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind.« Damit ist der Widerstand gegen ein im Sommer 2015 vom Bundestag verabschiedetes Gesetz, das in den Kernbereich der Arbeitsbeziehungen eingreift, an den Klippen des BVerfG „weitgehend“ gescheitert, hatten doch die Kläger gehofft, in Karlsruhe würde die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes festgestellt werden – und im Vorfeld der heutigen Entscheidung gab es nicht wenige Arbeitsrechtsexperten, die dafür auch zahlreiche Anhaltspunkte gesehen haben. Es geht hier wahrlich nicht um irgendeine gesetzgeberische Petitesse, sondern letztendlich um das Streikrecht der Gewerkschaften: Wenn es sein muss, dann müssen Gewerkschaften auch streiken können. Nun ist das Streikrecht eine höchst diffizile Angelegenheit und es gibt ein solches eigentlich nur als abgeleitetes Recht aus der „Koalitionsfreiheit“, die im Grundgesetz verankert ist. Dort finden man im Artikel 9 Absatz 3 GG diese – man sollte meinen eindeutige – Formulierung: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.« Die Konkretisierung des aus diesem – nicht umsonst ganz vorne im Grundgesetz normierten – Grundrechts abgeleiteten Streikrechts für die Gewerkschaften basiert auf einer über Jahrzehnte andauernden ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.

Und da hatte sich in der Vergangenheit etwas verändert – und diese Kehrtwende zu verstehen ist wichtig, um die Stoßrichtung und die Konfliktintensität des Tarifeinheitsgesetzes verstehen zu können. Jahrzehntelang gab es in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine klare Linie pro Tarifeinheit. Darunter versteht man den Rechtsgrundsatz, dass in einem Arbeitsverhältnis oder in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag anzuwenden ist. In Deutschland galt dieser Grundsatz seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1957. 2010 wurde dann eine grundlegende Korrektur hin zur Tarifpluralität mit einer expliziten Bezugnahme auf die grundgesetzliche verankerte Koalitionsfreiheit vorgenommen.

Das Tarifeinheitsgesetz soll nun den Weg zurück zur Tarifeinheit ebnen. Allerdings nur für die Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften, nicht aber für die Arbeitgeber, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Was ist der Kerninhalt des neuen Gesetzes? Man will mit seiner Hilfe dafür sorgen, dass nicht eine kleine Berufsgruppe an wichtigen Schaltstellen – wie die Lokführer bei der Bahn, die Piloten bei der Lufthansa oder die Ärzte in den Krankenhäusern – durch ihren Streik alles lahmlegen und damit ihre Individualinteressen durchsetzen kann, womöglich sogar gegen die Interessen der Mehrheit der Arbeitnehmer in den jeweiligen Unternehmen. Den Lösungsansatz des Gesetzes beschreibt Dietmar Hipp in seinem Artikel Stoff für Zoff so: Es geht im Prinzip um die Installierung eines Mehrheitsprinzips: »Wenn sich zwei Gewerkschaften nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen können, gilt das Recht des Größeren. Zwar sollen auch die Kleineren weiter Tarifverträge abschließen können – diese würden aber im Kollisionsfall vom Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt.«

Und hier wird es dann richtig schwierig für die „kleine“ Gewerkschaft. Es ist die Stelle, an der die Kritik vieler Juristen vor der heutigen Entscheidung aus Karlsruhe hinsichtlich einer aus ihrer Sicht gegebenen Verfassungswidrigkeit des neuen Gesetzes angedockt hat, weil die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit faktisch für einen Teil der Gewerkschaften ausgehebelt wird, denn die kleineren Gewerkschaften können für ihre Mitglieder nichts mehr durchsetzen, sobald ein größerer Konkurrenzverband die Bühne betritt. Die faktische Außerkraftsetzung des Streikrechts für die kleinen Gewerkschaften resultiert wiederum aus der Arbeitskampfrechtsprechung: Als „unverhältnismäßig“ gilt in der Rechtsprechung ein Streik unter anderem dann, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist, das mit ihm gar nicht erreicht werden kann. Wenn aber ein angestrebter Tarifvertrag gar nicht erreicht werden kann, weil sowieso der der größeren Organisation gilt, dann müsste der Streik als „unverhältnismäßig“ bewertet und untersagt werden. Warum aber sollen sich dann Arbeitnehmer in der kleineren Gewerkschaft organisieren, wenn die nur im Windschatten der größeren Gewerkschaft segeln darf und kann? Damit aber stellt sich logischerweise die Existenzfrage der kleineren Organisationen.

Und die Entscheidung des BVerfG schafft jetzt leider keine Klarheit, sondern sie eröffnet zahlreiche Baustellen: Dass die kleinen Gewerkschaften prinzipiell streiken dürfen, wird vom BVerfG herausgestellt. Wenn ein Tarifvertrag aber ohnehin von einem Mehrheitstarifvertrag verdrängt werden kann, dürfte ein Streik oft unverhältnismäßig sein. Aber das Bundesverfassungsgericht verlangt ausdrücklich, dass die Minderheitsgewerkschaft in einem solchen Fall nicht dem Risiko ausgesetzt werden darf, für streikbedingte Verluste und Schäden zu haften – das müssten dann aber die Arbeitsgerichte sicherstellen. Und wie soll das funktionieren?

Offensichtlich ist auch die Mehrheit der Richter des BVerfG nicht wirklich wohl bei dem, was das Tarifeinheitsgesetz beinhaltet: Nach der Statuierung einer „weitgehenden“ Verfassungskonformität des Gesetzes schieben die Richter eine Einschränkung hinterher:

»Die Auslegung und Handhabung des Gesetzes muss allerdings der in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen; über im Einzelnen noch offene Fragen haben die Fachgerichte zu entscheiden. Unvereinbar ist das Gesetz mit der Verfassung nur insoweit, als Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber muss insofern Abhilfe schaffen. Bis zu einer Neuregelung darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Das Gesetz bleibt mit dieser Maßgabe ansonsten weiterhin anwendbar. Die Neuregelung ist bis zum 31. Dezember 2018 zu treffen.«

Darüber, wie das funktionieren soll, rätseln aber selbst Experten. Es stellt sich hier die Frage, ob der Gesetzgeber dafür überhaupt eine verfassungskonforme und zugleich praktikable Lösung finden kann.

Das Grundgesetz gibt den Gewerkschaften „kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen“, so einer der Leitsätze des Urteils. Man muss aber wie immer bei Juristen genau lesen – „unbeschränkte“ Verwertbarkeit steht da. Aber wann ist etwas noch nicht oder doch schon „unbeschränkt“? Wer genau legt die Grenze fest?

Die Entscheidung des BVerfG schafft weitere akrobatische Herausforderungen für die vor uns liegende Arbeitsrechtsprechung: Dass der Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft verdrängt wird, gilt zwar grundsätzlich, aber eben nur mit Ausnahmen. So sollen „längerfristig bedeutsame Leistungen“, die eine Minderheitsgewerkschaft in einem Tarifvertrag erstritten hat, und auf die sich Beschäftigte typischerweise in ihrer Lebensplanung einstellen, nicht durch einen Mehrheitstarifvertrag verdrängt werden. Dazu zählt das Urteil ausdrücklich Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit. Ja wie soll man das nun wieder überprüfen und einordnen?

Das hört sich nach einem veritablen Durcheinander an. Vielleicht macht das solche Artikel-Überschriften verständlicher: Karlsruhe stärkt die kleinen Gewerkschaften.  Wolfgang Janisch argumentiert so: »Das Gesetz ist keineswegs verfassungsgemäß, es ist sogar ziemlich grundgesetzwidrig – und war nur zu retten, weil die Richter es an allen Ecken und Enden so zurechtgebogen haben, dass es gerade noch in den Rahmen des „Gewerkschafts-Artikels“ im Grundgesetz passt.  Verfassungskonforme Auslegung nennt man das, eine schonende Methode, Gesetze durch die Brille des Grundgesetzes zu lesen, um sie nicht mit großem Aplomb einstampfen zu müssen.«

Und offensichtlich gab es im zuständigen Senat auch grundsätzlichen Widerstand gegen die nunmehr vorliegende Mehrheitsentscheidung, denn zwei der acht Richter haben ein abweichendes Votum abgegeben. Dazu kann man der Pressmitteilung des Gerichts entnehmen:

»Abweichende Meinung des Richters Paulus und der Richterin Baer:
Richter Paulus und Richterin Baer sind sich mit dem Senat hinsichtlich der Anforderungen einig, die aus dem Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG für Regelungen zur Sicherung der Tarifautonomie folgen. Sie können dem Urteil jedoch in der Bewertung des Mittels, mit dem der Gesetzgeber die Tarifautonomie stärken möchte, in der Entscheidung, das Gesetz fortgelten zu lassen, und in der Überantwortung grundrechtlicher Probleme an die Fachgerichte nicht folgen. Sie sind der Auffassung, das Ziel der Sicherung der Tarifautonomie sei legitim, aber das Mittel der Verdrängung eines abgeschlossenen Tarifvertrags sei zu scharf.«

Die beiden bringen es in ihrem abweichenden Votum klar auf den Punkt: »Die Reparatur eines Gesetzes, das sich als teilweise verfassungswidrig erweist, weil Grundrechte unzumutbar beeinträchtigt werden, gehört nicht zu den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts«, so Susanne Baer und Andreas Paulus.

In diesem Kontext bewegt sich dann auch die Argumentation von Wolfgang Janisch:

»Rätselhaft ist …, warum der Erste Senat des Gerichts den leckgeschlagenen Dampfer Tarifeinheitsgesetz nicht einfach versenkt hat, statt ihn mühsam zu flicken. Die Mehrheit der Fachleute hatte das Gesetz ohnehin für verfassungswidrig gehalten. Für die beiden überstimmten Richter – Susanne Baer war sogar als Berichterstatterin für das Verfahren zuständig – war schon die politische Ausgangslage fragwürdig: „Es ist nicht zu übersehen, dass die angegriffenen Regelungen auf einen einseitigen politischen Kompromiss zwischen den Dachorganisationen Deutscher Gewerkschaftsbund und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zurückgehen.“«

Dazu passt dann die Reaktion der beiden angesprochenen Institutionen, also der BDA und des DGB: Wirtschaft erleichtert – Gewerkschaften gespalten, so eine der Überschriften. Zur Wirtschaft:

»In der deutschen Wirtschaft wird das Urteil mit Erleichterung aufgenommen. Arbeitgeberpräsident Kramer sprach von einem guten Tag für die Soziale Marktwirtschaft, weil nun Rechtssicherheit herrsche. Auf ein positives Echo stieß das Urteil auch beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall und dem Bundesverband mittelständische Wirtschaft. Dessen Präsident Ohoven sagte, es sei gut, dass die Möglichkeit der Spartengewerkschaften, das Wirtschaftsleben lahmzulegen, beschränkt bleibe.«

Bei den Gewerkschaften haben wir es mit einer ganz anderen Gemengelage zu tun, man kann das an zwei Beispielen verdeutlichen: „Klares Signal gegen Gruppenegoismen und Spaltung“ – so hat die IB Bergbau, Energie, Chemie (IG BCE) ihre Stellungnahme zum BVerfG-Urteil überschrieben. Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der IG BCE, wird mit den Worten zitiert, dass damit sichergestellt sei, „dass künftig der Ingenieur nicht gegen den Papiermacher ausgespielt werden kann“.

Und auf der anderen Seite aus dem Lager der DGB-Gewerkschaften die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di: Urteil zum Tarifeinheitsgesetz führt zu massiver Rechtsunsicherheit, so ist deren Mitteilung betitelt. „Wenig Licht, viel Schatten“, kommentierte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis das BVerfG-Urteil. Und die weiteren Ausführungen von ver.di leiten über zu der abschließenden Frage, wer das am Ende ausbaden muss:

»Wie soll ein Arbeitsgericht feststellen, ob die Minderheit in einem Mehrheitstarifvertrag ausreichend berücksichtigt wurde? Auch die Vorgaben an den Gesetzgeber, Minderheitsinteressen zu berücksichtigen, bleibe unklar. „Uneinheitliche Urteile und unzählige Prozesse drohen zu jahrelanger Rechtsunsicherheit zu führen.“ Gewerkschaften müssten nun immer wieder – vor, während und nach Tarifverhandlungen – den Beweis erbringen, ob sie die Mehrheiten an Mitgliedern in einem Betrieb haben.«

Ver.di kritisiert, dass die Regelung nun den Wettbewerb zwischen den Gewerkschaften anheizen werde. „Anstatt Ruhe trägt das Urteil nun Unfrieden in die Betriebe!“. Auf diese und weitere problematische Aspekte hinsichtlich der Umsetzung wurde in diesem Blog bereits am 22. Mai 2015 hingewiesen: Von der Tarifeinheit zur Tarifpluralität und wieder zurück – für die eine Seite. Und über die Geburt eines „Bürokratiemonsters“. In den vergangenen Jahren wurde das Thema Tarifeinheitsgesetz in diesem Blog mit mehreren Beiträgen begleitet.

Die beiden Richter mit dem abweichenden Votum weisen laut Mitteilung des BVerfG auf einen wichtigen Punkt hin, der gegen das Tarifeinheitsgesetz spricht: »Hinter der Annahme der Senatsmehrheit, die Nachzeichnung eines Tarifvertrags einer anderen Gewerkschaft halte den Verlust des eigenen Tarifvertrags in Grenzen, steht eine gefährliche Tendenz, die Interessen aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als einheitlich aufzufassen. Die Vorstellung, es komme nicht auf den konkret ausgehandelten Vertrag an, solange überhaupt eine Tarifbindung bestehe, privilegiert in der Sache die großen Branchengewerkschaften. Dies widerspricht dem Grundgedanken des Art. 9 Abs. 3 GG, der auf das selbstbestimmte tarifpolitische Engagement von Angehörigen jedweden Berufes setzt.«

Und am Anfang dieses Beitrags wurde darauf hingewiesen, dass das Tarifeinheitsgesetz die Tarifeinheit erzwingen soll – aber nur für die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften. Deshalb ja auch der Jubel bei den Arbeitgeberverbänden für das Gesetz, das eine sozialdemokratische Arbeitsministerin auf den Weg gebracht hat (vgl. zu der hier angesprochenen Unwucht aus der Zeit vor dem Gesetzgebungsverfahren beispielsweise den Kommentar Gesetz zur Tarifeinheit: Geschenk für die Arbeitgeber von Heiner Dribbusch aus dem Jahr 2014). Zugleich gilt das aber nicht für sie als Arbeitgeber, darauf wurde hier schon am 5. März 2015 in dem Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ hingewiesen: Damals wurden die Arbeitgeber zitiert mit ihrer Argumentation, dass Tarifkollisionen zu widersprüchlichen Regelungen führen, die sich im Betrieb nicht umsetzen lassen. Vielmehr tragen sie Streit in die Belegschaften.

»Nun könnte der eine oder die andere schon an dieser Stelle auf die Idee kommen, dass das irgendwie eine sehr einseitige Wahrnehmung dessen ist, was in vielen Betrieben passiert. Denn sind es wirklich (nur) miteinander konkurrierende Gewerkschaften, die zu „Tarifkollisionen“ führen? Was ist mit den vielen Unternehmen, die seit Jahren Teile ihrer Belegschaften „abschichten“ durch Auslagerung in Tochtergesellschaften mit einem anderen, niedrigeren Tarifgefüge? … Und was ist mit der teilweise hyperkomplexen Nutzung ganz unterschiedlicher Beschäftigungs- und damit auch Lohnarrangements durch Leiharbeit und Werkverträge neben den (noch) tariflich abgesicherten Stammbelegschaften? Da sind die Unternehmen offensichtlich sehr wohl in der Lage, komplexe, sich unterscheidende, nicht selten erheblich miteinander konfligierende Beschäftigungsbedingungen zu managen. Und wird dadurch kein Streit in die Belegschaften getragen?«

Vor diesem Hintergrund kann man der Kommentierung Kompliziert und mit Streitpotential von Christian Rath durchaus folgen: »Der Bundestag könnte nach der Wahl aber auch zum Schluss kommen, dass das Tarifeinheitsgesetz wenig bringt und nur Ärger macht – und es einfach wieder abschaffen.« Das wäre richtig und nur konsequent.

Die Angst vor den Millionen, die Rettung des Einzelnen und die problematische Ausblendung der Flüchtlingsfrage

Der folgende Text wird von vielen nicht gerne gelesen werden. Nicht nur, weil es um das Thema Flüchtlinge an sich geht, sondern um letztendlich unauflösbare Dilemmata des (Nicht-)Handelns. Es geht um einzelne Menschenleben, deren Schutz an allererster Stelle stehen muss, wenn man einen Rest an Ethik in sich trägt, zugleich geht es aber auch um den Blick auf gesellschaftliche Realitäten, die man nicht aufheben kann durch weltfremde Forderungen, will man nicht katastrophale Folgen in Kauf nehmen. Die aber auch so teilweise eintreten werden, wenn man explizit „flüchtlingspolitisch“ handelt. Das alles mit „Ambivalenz“ zu umschreiben, ist angesichts der existenziellen Dimension des Thema eine semantische Untertreibung. Aber es ändert nichts daran – man wird sich die Hände schmutzig machen müssen, so oder so.

Wir haben es mit Ängsten zu tun, mit verständlichen und nachvollziehbaren, aber auch mit aufgebauschten und produzierten Ängsten. Daraus erwachsen Stimmungen und mit ihnen politische Folgen. Nehmen wir als Beispiel den EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani, Nachfolger von Martin Schulz – und Italiener, was in diesem Fall zu wissen wichtig ist: „Wenn wir die Probleme in Afrika südlich der Sahara nicht gemeinsam lösen, dann werden in fünf, sechs Jahren Millionen Migranten kommen“, so wird er in diesem Artikel zitiert: Tajani warnt vor Millionen Flüchtlingen. Und auch an anderer Stelle wird Tajani, Politiker der konservativen Berlusconi-Partei Forza Italia, zitiert: ‚Millions of Africans‘ will flood Europe unless it acts now, warns European chief, as Paris evacuates huge migrant camp. »Europe is „underestimating“ the scale and severity of the migration crisis and „millions of Africans“ will flood the continent in the next five years unless urgent action is taken, a senior European official has warned.« Und was sollen das für Maßnahmen sein?

„Wir müssen so bald wie möglich ein Abkommen mit Libyen abschließen, so wie es bereits eines mit der Türkei gibt“, fordert der Parlamentspräsident. Ein umstrittener Vorschlag, der bereits vor Monaten auf den Tisch kam, von vielen europäischen Politikern aber wieder verworfen wurde, weil die politische Lage in Libyen viel zu instabil ist. Zudem spricht sich Tajani dafür aus, dass Flüchtlingslager in Afrika gebaut werden. Südlich der Sahara, dort wo viele Flüchtlinge herkommen. Mithilfe des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. „Man kann Lager in Niger bauen, in Nigeria und in der Zentralafrikanischen Republik“, fordert der Italiener. Und er steht damit nicht alleine, vgl. beispielsweise den Kommentar Europa braucht Türsteher von Ulrich Ladurner.

Unzweifelhaft wird er damit die Stimmungslage von vielen besorgten EU-Bürgern treffen, denen eine Abschottung der Festung Europa intuitiv einleuchtet als ein notwendiges Übel. Vor allem, wenn man mit Vorhersagen über „Millionen“ Afrikanern konfrontiert wird, die nur darauf warten, die europäische Seite des Mare Nostrum zu erreichen. Und viele ahnen, dass diese scheinbar einfache „Lösung“ auch deshalb attraktiv daherkommt, weil wir parallel mit einem grandiosen Versagen der EU als Staatengemeinschaft konfrontiert sind.

Ein Versagen, das schon die erste Phase der „Flüchtlingskrise“ vorangetrieben hat. Man denke zurück an das Jahr 2015. Auslöser der einsamen und einmaligen Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Öffnung der deutschen Grenzen waren die sich auf der Balkanroute stauenden Flüchtlinge, die nicht mehr oder nur erschwert weitergekommen sind. Mitverursacher dieser Entwicklung war ein Konstrukt unter dem Namen „Dublin-Verfahren“, aktuell gilt „Dublin III“: Dabei geht es konkret um die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

Vereinfacht gesagt: Da, wo die Flüchtlinge EU-Boden erreichen, soll auch das Asylverfahren stattfinden.

Durch das Dublin-Verfahren wird faktisch den südlichen EU-Staaten (insbesondere Malta, Italien, Spanien und Griechenland, aufgrund der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU) sowie Ungarn (aufgrund der Balkan-Route) eine größere Verpflichtung bezüglich der Registrierung und Erstaufnahme auferlegt als nördlicheren Ländern der EU.

Dieses System erzeugt natürlich enorme Ungleichgewichte zuungunsten der europäischen Randstaaten und bereits vor der deutschen Grenzöffnung im Jahr 2015 konnte man beobachten, wie betroffene Staaten wie Italien Flüchtlinge wissentlich nach Frankreich, Deutschland und andere nördliche EU-Staaten durchgewunken haben.

Nach der Episode mit dem deutschen Sonderweg ist man nunmehr wieder formal zurückgefallen in die Zeit vor 2015. Der Druck auf die Balkan-Route hat abgenommen, zum einen durch die rigorose Abschottung seitens der Ungarn, zum anderen aber auch aufgrund des fragilen Abkommens mit der Türkei, das den Zuwanderungsdruck auf Griechenland zumindest deutlich begrenzt hat. Verschoben haben sich infolgedessen die Hauptfluchtrouten und nunmehr kanalisiert sich der Weg der Flüchtlinge auf den „failed state“ Libyen und die Mittelmeer-Überfahrt von dort in Richtung Italien. Und die Italiener sind verständlicherweise gerade in den betroffenen Küstenregionen mehr als überfordert. Formal müssen sie das mit den Flüchtlingen alleine regeln, denn der – zwischenzeitlich angesichts der eigenen Betroffenheit auch von den Deutschen geforderte, noch 2013 vehement abgelehnte – solidarische Umverteilungsmechanismus auf europäischer Ebene wird innerhalb der EU offen von den osteuropäischen Staaten und versteckt auch von anderen Mitgliedsstaaten (die hoffen, dass damit der Kelch an ihnen vorübergeht) blockiert.

Was das konkret bedeutet beispielsweise für Sizilien, wo viele der Flüchtlinge anlanden, vermittelt diese Reportage von Philipp Eins: Flüchtlinge als Erntehelfer auf Sizilien – Für eine Handvoll Euro. Sie verdeutlicht zum einen die Überforderung in den Küstenstädten, zum anderen aber auch, wie die Flüchtlinge in eine illegale Ökonomie integriert werden.

Und gerade mit Blick auf die Zuwanderung aus Afrika herrscht das Bild von „Wirtschaftsflüchtlingen“ vor – also Afrikaner, die sich auf den Weg gemacht haben, um ein wirtschaftlich besseres Leben in Europa zu finden.

Es gibt hinsichtlich der Fluchtursachen durchaus davon abweichende Stimmen, dazu beispielsweise der Artikel War and violence drive 80% of people fleeing to Europe by sea, not economics von Hannah Summers: »The vast majority of people arriving in Europe by sea are fleeing persecution, war and famine, while less than a fifth are economic migrants«, so die Kernaussage einer neuen Studie (d’Angelo, A., Blitz, B., Kofman, E., Montagna, N. (2017), Mapping Refugee Reception In the Mediterranean: First Report of the Evi-Med Project, 16 June 2017). Allerdings muss man aufpassen, denn die Aussagen beziehen sich auf die Flüchtlinge des Jahres 2015: »More than 80% of an estimated 1,008,616 arrivals in 2015 came from refugee-producing countries including Syria, Afghanistan and Iraq, and a quarter of that number were children.« Aktuell geht es aber zunehmend um die Migration von Menschen aus afrikanischen Ländern.

Im wirklichen Leben ist eine wirklich trennscharfe Unterscheidung zwischen dem einen oder anderen Fluchtgrund mehr als schwierig und eben nicht immer eindeutig zu machen – aber die Unterscheidung an sich ist von größter Bedeutung für die (Nicht-)Akzeptanz der Flüchtlinge in den aufnehmenden Ländern. Die Mehrheit der Bevölkerung hat hier sehr eindeutige Gerechtigkeitsvorstellungen im Kopf. So belegen beispielsweise Befragungen in Deutschland, dass dort die Mehrheit der Bevölkerung zum einen die Auffassung vertritt, dass „Wirtschaftsflüchtlinge“ kein Zugang eröffnet werden sollte, zum anderen aber wird sehr klar die Position vertreten, dass Menschen, die vor politischer oder militärischer Gewalt fliehen müssen, Asylrecht genießen sollten. Aber mit einem nicht unbedeutenden Zusatz – der zu gewährende Schutz für diese Menschen wird nicht gleichgesetzt mit dem Recht auf Daueraufenthalt, dahinter steht die Vorstellung, dass die Menschen auch wieder zurückkehren sollten, wenn die Fluchtursachen beseitigt wären.

Wenn man das politisch umsetzt, wird die ganze Ambivalenz erkennbar: Man müsste bereit sein, bestimmte Flüchtlinge auf unbestimmte Dauer aufzunehmen und sollte dann aber versuchen, ihnen die Integration in die Aufnahmegesellschaft zu erleichtern bzw. zu ermöglichen, beispielsweise durch einen schnellen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt des Landes. Und die Investition in Sprach- und Integrationskurse gehört dazu. Aber zu Ende gedacht kann auch nach Jahren des „Gastaufenthalts“ und bei vielleicht sogar erfolgreicher Integration die Option stehen, dass die betroffenen Menschen wieder zurück müssten in ihre Heimatländer, wenn dort die Fluchtursachen nicht mehr bestehen.

Aber die Zuwanderungswelle aus Afrika wird von vielen Menschen anders gewertet. Und sie ist angesichts der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Zahlen, mit denen die Menschen in Europa konfrontiert werden, mit ganz erheblichen Ängsten verbunden. Fragt man sie, wird man oft zu hören bekommen, dass Europa nicht in der Lage sei, die vielen Menschen, die aus bitterer Armut zu entfliehen versuchen, aufzunehmen. Es geht also nicht nur, aber eben auch immer um Quantitäten.

Die zentrale Mittelmeerroute von der libyschen Küste nach Italien ist spätestens seit der Schließung der Balkanroute wieder der wichtigste Weg für Migranten nach Europa. Gleichzeitig ist sie die gefährlichste Migrationsroute der Welt: 2015 kamen laut Missing Migrants, einem Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM), 153.842 Migranten auf diesem Weg nach Europa, (mindestens) 2.892 Menschen ließen bei der Überfahrt ihr Leben, sind ertrunken oder erstickt. 2016 waren es bei 181.436 Ankünften über die zentrale Mittelmeerroute (mindestens) 4.581 Tote. Ein Trend, der sich auch im laufenden Jahr fortsetzt – am 10. Juli 2017 wird auf der Website von Missing Migrants diese Zahl ausgewiesen: »2.297 migrant deaths in the Mediterranean in 2017.« Und das Jahr ist erst zur Hälfte vorbei. Und vor diesem Hintergrund geraten zunehmend die NGOs ins Visier, die versuchen, im Mittelmeer Flüchtlinge in Seenot zu retten und diese dann nach Europa zu bringen. Dazu Jan-Christoph Kitzler in seinem Beitrag Keine Beweise für Vorwürfe gegen NGO:

»Nichtregierungsorganisationen (NGO) wird vorgeworfen, ihre Präsenz auf dem Mittelmeer zur Rettung von Migranten sorge dafür, dass sich immer mehr Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten. Fachleute nennen diesen Ansatz die „Pull-Factor-Theorie“. Der Vorwurf ist nicht neu und war ursprünglich nicht nur gegen die NGO gerichtet. Von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex wurde er bereits in Bezug auf die italienische Rettungsmission Mare Nostrum erhoben. Gil Arias, der damalige stellvertretende Frontex-Chef, sagte am 4. September 2014 im Justizausschuss des Europaparlaments, dass „die Schleuser mehr Menschen auf See schicken, in der Annahme, sie würden schon bald gerettet. Das sei billiger für sie, denn sie bräuchten weniger Treibstoff, weniger Essen, weniger Wasser, was gleichzeitig aber auch die Risiken für die Migranten erhöht“. Dieser Vorwurf wird nun den NGO auf dem Mittelmeer gemacht.«

An den nackten Zahlen – sowohl absolut wie auch relativ gemessen an allen geretteten Flüchtlingen – kann man den Bedeutungszuwachs der NGOs für die Rettung von Menschenleben im Mittelmeer erkennen. Und schon sind wir mittendrin in einem fatalen Dilemma: Aus einer ethischen Perspektive kann und darf es keine Verweigerung menschenrettender Maßnahmen geben, ansonsten würde man sich der bewussten Tötung schuldig machen. Jeder Mensch hat das Recht, gerettet zu werden. Auf der anderen Seite sind die in der „Pull-Factor-Theorie“ angelegten ökonomischen Anreizeffekte auf den ersten Blick nicht von der Hand zu wischen. Natürlich „erleichtert“ man den Schleppern die Arbeit, wenn die wissen, dass man die „Kunden“ auch mit absolut seeuntauglichen Booten aufs offene Meer schicken kann, werden sie doch alsbald aufgesammelt. Und werden dann dahin gebracht, wo sie ja auch hinwollten, also an die europäische Küste. Aber, so Jan-Christoph Kitzler in seinem Artikel zu der Frage, ob die Einsätze der NGO für mehr Flüchtlinge sorgen:

»Eine Forschungsgruppe des Goldsmith-College der University of London hat den Vorwurf in zwei Studien überprüft: So konnte die Pull-Factor-Theorie für 2014/15 widerlegt werden, weil auch nach dem Ende von Mare Nostrum die Zahl einiger Migrantengruppen auf der zentralen  Mittelmeerroute anstieg … Die Zahl der ost- und westafrikanischen Flüchtlinge, die heute den Großteil der Migranten auf dem Weg von Libyen nach Europa stellen, ist hingegen stetig angestiegen: 2015 kamen 42% mehr Menschen aus Ländern wie Eritrea, dem Sudan, Nigeria oder Mali als 2014. Dieser Anstieg war bereits im Gange, bevor die NGO in großem Stil aktiv wurden.«

Was also musste passieren, wenn man die Menschen wirklich vor der Festung Europa stoppen wollte? Ein heikles Thema, Stephan Schulmeister hat das in seinem Beitrag Was ist christlich an der Schließung der Mittelmeerroute? einmal gedanklich durchgespielt und zeigt damit die logischen Konsequenzen auf, die zugleich auf die ethischen Untiefen des Themas verweisen:
Ausgehend von der Annahme, dass menschliches Verhalten durch Anreize gesteuert wird, konstatiert Schulmeister für die Flüchtenden: »Man muss ihnen jede Hoffnung nehmen, dass sie über das Mittelmeer ein besseres Leben finden.«

Dazu, so Schulmeister, gab es bereits Vorschläge. Beispiel: »Man interniert sie auf Inseln wie Lesbos oder Lampedusa ohne Chance auf ein Weiterkommen. Die EU solle sich daher das „australische Modell“ zum Vorbild nehmen. Dazu müssten diese Inseln vorher zu „Niemandsland“ werden, denn in der EU gilt das Völkerrecht.« Geht rechtlich nicht. Auch die NGOs mit ihren kompensatorischen Rettungsaktivitäten sind ins Visier genommen worden: »Einstellung des „NGO-Wahnsinns“ der Rettung der Flüchtenden. Wenn jene, die in Nordafrika auf ihre Chance warten, erfahren, dass immer weniger Menschen gerettet werden, wird ihr Anreiz zur Flucht geschwächt.« Aber was, wenn die Verzweifelten dennoch hoffen und es versuchen? Und auch diese Option spricht er an: »Die Flüchtenden werden von der Frontex gerettet und nach Libyen, Tunesien oder Ägypten zurückgebracht. Doch diese Länder nehmen sie nicht, und sie in Ufernähe ins Meer zu werfen geht wegen der Hoheitsgewässer nicht (außerdem können die meisten nicht schwimmen).«

Vor diesem Hintergrund entwickelt er einen wahrhaft zynischen Gedankengang, mit dem man doch noch das eigentliche Ziel, die Menschen abzuhalten, erreichen können. Man muss sich jetzt anschnallen:

»Ausgangspunkt ist folgende Frage: Wann entfalten Ertrunkene die größte Abschreckungswirkung? Sterben sie einfach deshalb, weil sie von Rettungsbooten zu spät gefunden wurden, so wird dies die Hoffnung der Verzweifelten, dass sie es schon schaffen werden, kaum mindern. So sind 2016 etwa 5000 Menschen ertrunken, dennoch wird weiter geflüchtet.

Hätte man aber eine viel kleinere Zahl von Flüchtenden dadurch am Eindringen in EU-Hoheitsgebiet gehindert, indem man ihre Schlauchboote versenkt, so wäre die Abschreckungswirkung enorm gewesen. Denn wenn die EU so ihre Entschlossenheit demonstriert, die eigenen Grenzen zu schützen, gibt es keine Hoffnung für die Wartenden – Schlauchboote versenken ist ein Kinderspiel.

Gewiss: Aus moralischen Gründen kann kein Politiker diese effektivste Art, die Mittelmeerroute zu schließen, vorschlagen. Doch die Identitären würden die Aufgabe übernehmen – es geht ja um höhere Werte. Mehr als ein paar Boote und Luftdruckgewehre braucht es nicht, es dürfen nur keine Weicheier dabei sein. Zur Abschreckung müsste man die hässlichen Bilder via Internet verbreiten, doch dann kehrte Ruhe ein im Mittelmeer. Damit wäre auch den Schleppern ihr schändliches Handwerk gelegt – niemand wird sie bezahlen, um dann versenkt zu werden.«

Nur ein Phantasiegebilde? Dann sollte man diesen Artikel von Katja Thorwart lesen: Identitärer Bilderkampf: »Mit einem von Spendengeldern finanzierten Schiff will die Identitäre Bewegung Stimmung gegen die Flüchtlingsrettung machen. Die visuelle Inszenierung solcher Aktionen spielt dabei eine zentrale Rolle.«

„Defend Europe“ ist der neueste Coup der Identitären Bewegung unter dem österreichischen Chefstrategen Martin Sellner. Mit einem von Spendengeldern finanzierten Schiff gedenkt der als rechtsextrem eingestufte Verein, NGOs auf dem Mittelmeer zu „konfrontieren (…), um das Unrecht dort zu beenden, wo (…), Migranten das Seerecht beinhart ausnutzen und (…) Europa illegal fluten“, wie Sellner auf Facebook am 5. Juni formulierte.

Und aus dem Umfeld der Rechtsextremisten wird mittlerweile Vollzug gemeldet – auch wenn man den Wahrheitsgehalt solcher Meldungen nicht überprüfen kann: „Schlepperei beenden“: Identitäre haben ein Schiff.

Man sieht, aus gedanklichem Wahnsinn kann sehr schnell ein realer Irrsinn werden. Wieder zurück zu Schulmeister und seiner Argumentation: »Mit der harten Methode würden weniger Menschen ertrinken und mehr von einer Flucht abgehalten, also gerettet werden. Wahrscheinlich reichen schon ein paar Hundert Versenkte, um Tausenden jede Hoffnung zu nehmen und sie so zu retten.«
Und er beendet seinen Ausflug in die Untiefen der Konsequenz so:

»Im Idealfall wird ihr Schicksal andere abhalten, eine Flucht zu versuchen. Dann bleiben alle dort, wo sie wegwollen – besser geht’s nicht. Das Nachdenken über die Ursachen von Flucht, etwa über die Politik des Westens im Nahen Osten oder die Produktion des Klimawandels oder die Beschädigung der afrikanischen Landwirtschaft durch EU-Agrarexporte zu Dumpingpreisen, das überlassen wir dem Papst Franziskus und seinen Enzykliken. Eine moderne Politik auf neuen Wegen braucht das nicht.«

Ich kann auch nichts dafür. Ein deprimierendes Thema. Wahrscheinlich wird die Entwicklung – auch durch den Druck der zunehmenden Spannungen innerhalb der EU aufgrund des Versagens eines gemeinschaftlichen Politikansatzes – in die Richtung gehen, dass man mit allen Mitteln versuchen wird, Libyen zu einem Satelliten-Staat aufzubauen, um dort die Lager außerhalb der europäischen Zone aufbauen zu können (vgl. dazu bereits den Beitrag Flüchtlinge: Konturen der Festung Europa, zugleich die Unwahrscheinlichkeit einer europäischen Lösung und die kommenden Lager jenseits des Mittelmeers vom 29. Januar 2017).

Und bei uns? »Es ist Wahlkampf in Deutschland – aber die Flüchtlingsfrage spielt kaum noch eine Rolle. Dabei spitzt sich die Lage gerade zu, vor allem in Italien«, so Anna Reimann in ihrem Artikel Deutsche Wahlkämpfer ignorieren die Flüchtlingskrise: »Es ist offensichtlich: Mit dem Flüchtlingsthema ist politisch nichts zu gewinnen, deshalb wird es an den Rand gedrängt. Das machen sie nicht nur in der Kanzlerinpartei so, sondern auch bei der SPD steht die Flüchtlingsfrage nicht im Zentrum.«

Und seien wir ehrlich – auch in den meisten Medien spielt das Thema kaum (noch) eine Rolle, hin und wieder fragt mal der eine oder andere nach, wo denn eigentlich die Flüchtlinge geblieben sind, die schon nach Deutschland gekommen sind (vgl. dazu beispielsweise diesen Beitrag: Nicht einmal jeder zweite Flüchtling ist arbeitslos – jedenfalls nicht offiziell). Viele der „Altfälle“ schlagen jetzt im Hartz IV-System auf – und werden sort absehbar auf viele Jahre bleiben:. Hinzu kommen immer noch in den Großstädten Unterbringungsprobleme. So sind in Berlin noch 10.000 Asylsuchende in Notunterkünften untergebracht. Viele von ihnen leben seit anderthalb Jahren ohne Privatsphäre, ohne die Möglichkeit selbst einzukaufen, zu kochen, ihren Alltag zu gestalten.

Und es kommen jeden Monat neue Menschen dazu, auch wenn das kaum noch im Bewusstsein zu sein scheint: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden im ersten Halbjahr 90.389 neue Asylsuchende gezählt. Hochgerechnet auf das gesamte Jahr landet man bei rund 180.000 Schutzsuchenden. Und dann gibt es noch eine weitere Dimension, die derzeit eher nicht thematisiert wird: Das Auswärtige Amt schätzt, dass bald zusätzlich 200.000 bis 300.000 Syrer und Iraker infolge des Familiennachzugs zu Angehörigen in Deutschland reisen dürfen, so Manuel Bewarder in seinem Artikel Bis zu 300.000 Flüchtlinge in der Warteschleife.

Fakt ist: Derzeit kommen weiterhin Tausende Menschen Monat für Monat in Deutschland an. Das scheint zwar zu bewältigen zu sein, aber neue Krisen in Europa bahnen sich an – und die alten Herausforderungen sind längst nicht gelöst.

Das bedeutet: Es stimmt nicht, dass ein Durchkommen auf der Balkanroute oder über andere Landwege nach Deutschland nur noch im Ausnahmefall gelingt. Denn die Herkunft der Asylsuchenden in Deutschland – ein großer Teil stammt aus Syrien und dem Irak – legt nahe, dass diese Menschen eben nicht hauptsächlich von Afrika aus über das Mittelmeer nach Italien und von dort nach Deutschland gelangen. In Italien kommen nämlich zum allergrößten Teil Afrikaner an den Küsten an. Zugleich spitzt sich wie dargestellt die Situation in Italien weiter zu.

Ganz offensichtlich hofft vor allem die Union, dass sie das Thema und die damit verbundenen Emotionen bis zur Bundestagswahl am 24. September unter den Teppich kehren kann und auch die anderen Parteien (mit Ausnahme der AfD) haben wenig Ambitionen, sich mit Flüchtlingspolitik an die Oberfläche zu wagen. Das kann sicher eine Zeit lang funktionieren. Aber die Realität lässt sich nicht totschweigen auf Dauer.

Zwischen Erwerbsarmut und Erbschaftsfreuden. Zwei Schlaglichter auf die fortschreitende Polarisierung in Deutschland

Studien können immer wieder Schlaglichter werfen auf gesellschaftliche Prozesse, beispielsweise die bieldiskutierte und damit an sich nicht unumstrittene fortschreitende Polarisierung zwischen „oben“ und „unten“. In dieser Woche wurden parallel zwei solcher Studien veröffentlicht, die zum Nachdenken anregen können. Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut in Europa und Deutschland, so ist die Arbeit von Dorothee Spannagel, Daniel Seikel, Karin Schulze Buschoff und Helge Baumann überschrieben, die vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) publiziert wurde. Was genau untersucht die WSI-Studie?

Der Anteil der Working Poor in der EU betrug im Jahr 2014 rund zehn Prozent – gemessen an den Erwerbstätigen zwischen 18 und 64 Jahren. Obwohl sie regel­mäßig arbeiten, müssen diese Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in ihrem Land auskommen. Am höchsten war der Anteil in Rumänien mit 18,6 Prozent, gefolgt von Griechenland mit 13,4 Prozent und Spanien mit 13,2 Prozent. Mit 4,5 Prozent oder weniger hatten Belgien, die Tschechische Republik und Finnland die geringsten Erwerbsarmutsquoten. Deutschland lag mit 9,6 Prozent genau im Durchschnitt der EU-Länder. Aber: Für Deutschland zeigt sich dieses „besonders bemerkenswerte“ Phänomen, wie die Forscher schreiben: Einerseits stieg die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in den meisten europäischen Ländern, andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut – nämlich schlichtweg eine Verdoppelung seit 2004.

Wie interpretieren die Wissenschaftler das? Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs nicht angemessen entlohnt werden oder die Stundenzahl gering ist. Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruhe zu einem großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung, vor allem Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden.

Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden. Der Druck auf Arbeitslose sei gestiegen, möglichst schnell eine Arbeit zu finden. „Maßnahmen, die Arbeitslose dazu zwingen, Jobs mit schlechter Bezahlung oder niedrigem Stundenumfang anzunehmen, können dazu führen, dass die Erwerbsarmut steigt, weil aus arbeitslosen armen Haushalten erwerbstätige arme Haushalten werden“, kann man dieser Zusammenfassung der Studie entnehmen: Weiter arm, trotz Arbeit.

»Die Forscher können einen direkten Zusammenhang zwischen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Erwerbsarmut belegen: Während niedrige Lohnersatz- und Sozialleistungen sowie strenge Auflagen für den Bezug von Transferleistungen zu höherer Erwerbsarmut führen, wirken sich hohe Ausgaben für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen wie Aus- und Weiterbildung positiv aus: „Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass eine Kombination aus investiver aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik in Form von auskömmlichen Lohnersatz- und Transferleistungen der beste Weg ist, um Erwerbsarmut zu bekämpfen.“ Immerhin sei der Mindestlohn ein erster Schritt zur Reduzierung der Armutsgefährdung von Erwerbstätigen. Weitere Maßnahmen zur Eindämmung des Niedriglohnbereiches müssten folgen. Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation und Weiterbildung sollten ausgebaut und für atypisch Beschäftigte beziehungsweise für Beschäftigte im Niedriglohnbereich geöffnet werden, empfehlen die Wissenschaftler. Hartz-IV-Leistungen sollten erhöht, Sanktionen und Zumutbarkeitsregeln entschärft werden.«

Zu der neuen Studie nur eine ergänzende Anmerkung: Die Zahlen sind eigentlich noch dramatischer und beeindruckender, wenn man nicht die mittleren bedarfsgewuchteten Einkommen (die sich ja aus mehreren Quellen speisen) heranzieht, sondern einen spezifischen Blick wirft auf die Entwicklung bei den Löhnen und das auch wieder im europäischen Vergleich:

Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch. So verdienen 22,5 Prozent der Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde. Zum Vergleich: Im Euroraum insgesamt kommen nur 15,9 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause und haben aber mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner: Im Euroraum beginnt der Niedriglohn erst unterhalb von 14,10 Euro.« Als Niedriglohn gilt nach einer Definition der OECD ein Verdienst, der unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Bruttostundenlohns (gemessen am Median, nicht am arithmetischen Mittel) liegt. In Frankreich arbeiten nur 8,8 Prozent der Beschäftigten für einen Niedriglohn, der dort mit nur zehn Euro etwas niedriger liegt als in Deutschland. An der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde wird auch erkennbar, dass eine Vergütung nach dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde nicht dazu führen kann, die betroffenen Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnbereich herauszuholen – er ist ja auch „nur“ eine Lohnuntergrenze.

Was wir hier sehen, das ist der Effekt dessen, was Gerhard Schröder in Davos mal als den „besten Niedriglohnsektor“, der in Europa geschaffen worden ist, bezeichnet hat. Die „Früchte“ dieser Entwicklung werden jetzt geerntet. Das wirft natürlich einen ganz erheblichen Schatten auf das deutsche „Jobwunder“, das es quantitativ gegeben hat, was aber wenig bis gar nichts über die Qualität aussagt.

Arbeitsmarktlich gesehen werden wir Zeugen einer hoch problematischen Polarisierung der Beschäftigungsstrukturen in unserem Land. Zum einen haben wir „oben“ ganz klar Gewinner, die oberen 60 Prozent verdienen heute mehr als Mitte der 1990er Jahre und das sind auch die, die am aktuellen Rand profitieren können beispielsweise von den Tarifabschlüssen.
Das hilft den unteren 40 Prozent aber nicht, die haben heute weniger in der Tasche als Mitte der 1990er Jahre. Warum? Zum einen aufgrund der Aspekte, die auch in der WSI-Studie angesprochen werden – also vor allem der deutlich erhöhte Druck, irgendeine Beschäftigung anzunehmen, auch wenn die schlecht entlohnt ist. Sowie – das wird nicht explizit angesprochen – der psychologische Aspekt auf die, die Arbeit haben und deren Vertreter, also die Gewerkschaften, die sich bei Lohnforderungen in der Vergangenheit erkennbar zurückgehalten haben (selbst die aktuellen Tarifabschlüsse sind angesichts der veränderten Angebots-Nachfrage-Konstellation in vielen Branchen, vor allem bei den Qualifizierten) von außen betrachtet erstaunlich moderat.

Nun muss man ergänzend berücksichtigen, dass der Ausbau des Niedriglohnsektors auch einhergegangen ist mit einer Abnahme gut bezahlter Normaljobs in der Mitte – u.a. durch die Tarifflucht vieler Arbeitgeber, was das Lohnniveau gesenkt hat. Hierzu die Abbildung aus meinem Blog-Beitrag vom 5. Juni 2017: Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck. Anders formuliert: Die bisherige Mitte wird zusammengedrückt, unten (und oben) wachsen. Das wird auch bestätigt durch neue Berechnungen des DIW (die sich wie das WSI auf die Haushaltseinkommen beziehen):

»Wir stellen fest, dass die Schichten um das Median-Einkommen herum geschrumpft sind. Am stärksten waren die Veränderungen Mitte der 2000er Jahre, aber die Entwicklung reicht bis in die jüngsten Befragungen. Wir sehen gleichzeitig zu dieser „schrumpfenden Mitte“ eine Verbreiterung an den Rändern, sowohl in den unteren Einkommensschichten, unterhalb der so genannten Armutsrisikoschwelle, als auch bei den Haushalten mit den höchsten Einkommen. Heute gehören mehr Menschen diesen Schichten an als noch 1995.«

Oder noch prägnanter in Zahlen:

»Die mittleren Einkommensschichten sind im Zeitraum 1995 bis 2015 um etwa sechs Prozentpunkte geschrumpft. Am oberen Rand sehen wir im selben Zeitraum einen Zuwachs von gut zwei Prozentpunkten und am unteren Rand einen Zuwachs von gut dreieinhalb Prozentpunkten.«

Abgerundet wird das alles durch eine weitere Studie, die einen Blick geworfen hat auf die Erbschaften. Die Nachkriegsgenerationen konnten in Deutschland über Jahrzehnte hinweg große Vermögen aufbauen, die sie in den nächsten Jahren an die Nachkommen vererben werden. Die Summen, um die es dabei geht, dürften deutlich höher sein als bislang angenommen. Das zeigt eine Studie, die Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und WSI-Expertin Anita Tiefensee im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erstellt haben, so die Zusammenfassung dieser Studie:

Anita Tiefensee und Markus M. Grabka (2017): Das Erbvolumen in Deutschland dürfte um gut ein Viertel größer sein als bisher angenommen, in: DIW Wochenbericht Nr. 27/2017

»Die Wissenschaftler haben – anders als bei früheren Untersuchungen – nicht nur auf den aktuellen Vermögensbestand geschaut, sondern erstmalig eingerechnet, wie sich Wertsteigerungen und regelmäßiges Sparen in den kommenden Jahren auf die zu erwartenden Erbschaften auswirken. Ergebnis: Im Zeitraum bis 2027 wird das jährliche Erbvolumen in Deutschland inklusive Schenkungen bis zu 400 Milliarden Euro betragen. Damit fällt es etwa 28 Prozent größer aus als in früheren Analysen geschätzt.«

Nun ist bekanntlich alles ungleich verteilt und das zeigen auch diese Befunde aus der Studie: »Die im Einzelnen zu erwartenden Erbschaften betragen laut Studie im Mittel rund 79.500 Euro – im obersten Fünftel der Verteilung gut 248.000 Euro, im untersten Fünftel 12.000 Euro.«
Nun ist klar, dass man vor allem dann etwas vererben kann, wenn man etwas hat – und ob und wie viel jemand hat, ist bekanntlich sehr ungleich verteilt, weitaus ungleicher beim Vermögen als schon bei den laufenden Einkommen. Tiefensee und Grabka bilanzieren in ihrem Beitrag:

»Insgesamt ist davon auszugehen, dass in den kommenden Jahren hohe Volumina an Schenkungen und Erbschaften eintreten werden. Ob diese sich aber in einem deutlich steigenden Steueraufkommen aus der Erbschaft- und Schenkungssteuer auswirken, ist fraglich. Die Mehrzahl der Erbschaften kann aufgrund der aktuell geltenden hohen Freibeträge steuerfrei übertragen werden. Das gilt auch für sehr hohe Vermögen, die als Betriebsvermögen weitgehend steuerfrei übertragen werden können. Dies kann unter dem Aspekt der Chancengleichheit Anlass zu Kritik sein. Ein Überdenken der letzten Reform der Erbschaft- und Schenkungssteuer im Hinblick auf die gewährten Freibeträge und die Steuerprivilegien für Unternehmensvermögen ist hier anzuraten.« (Tiefensee/Grabka 2017: 570)

Ceteris paribas wird das die bereits vorhandene Schere zwischen unten und oben weiter öffnen müssen. Damit wird die beobachtete Polarisierung der Einkommens- und vor allem der Vermögensverhältnisse potenziert werden angesichts der gegebenen Konzentration der Erbschaftsvolumina auf einige wenige. Die beiden Studienautoren deuten mögliche verteilungspolitische Konsequenzen an – aber wir werden sehen, dass in den kommenden Tagen die Verteidiger des Status Quo ihre Stimmen erheben und vor einem steuerlichen Zugriff auf große Erbschaften warnen werden. Und sie werden das dann wieder vermischen mit der Angst des Kleinbürgers vor dem Verlust seiner überschaubaren Erbschaften – die aber auch bei denen, die wie in anderen Ländern eine höhere Erbschaftsbesteuerung  fordern, niemals davon betroffen sein würden. Macht aber nichts, zum Schüren von Enteignungsängsten reicht es allemal.

Sich krank pflegen. Alarmierende Zahlen zur Arbeitsunfähigkeit bei Pflegekräften

Wir reden von dem großen Jobmotor des Landes: Mehr als jeder zehnte Arbeitnehmer in Deutschland ist in einen Gesundheitsberuf beschäftigt, insgesamt 3,2 Millionen – fast die Hälfte davon in der Pflege.
Er habe gewusst, dass es schlimm ist. „Aber dass Pflegekräfte in Deutschland so viel öfter als die Beschäftigten anderer Branche im Job arbeitsunfähig werden, habe ich mir nicht vorstellen können“ sagt Franz Knieps, Vorstandschef des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen. „Das Ausmaß ist erschreckend.“
Mit diesen Worten beginnt ein Artikel von Peter Thelen, in dem über den BKK Gesundheitsatlas 2017 berichtet wird. Die dort präsentierten Zahlen sind alarmierend: Beschäftigte in der Pflege weisen inzwischen mit den höchsten Krankenstand auf. »Zu wenig Personal, zu viele Überstunden, geringe Bezahlung, viele Teilzeitjobs und befristete Arbeitsverträge: Der Gesundheitssektor ist nicht nur ein wichtiger Jobmotor für Deutschland, sondern für viele Beschäftigte auch eine wahre Knochenmühle«, so Julia Frisch in ihrem Bericht Krank schuften für Pflege und Gesundheit. Die AU-Tage im Gesundheitswesen, also die krankheitsbedingten Ausfalltage, liegen weit über dem Durchschnitt aller Beschäftigter.

Die Zahlen sind mehr als eindeutig:

»Während 2015 für alle beschäftigten BKK-Mitglieder im Schnitt 16,1 AU-Tage anfielen, kamen Mitarbeiter in Pflege- und Altenheimen laut Gesundheitsatlas auf 23,8 beziehungsweise 23,5 AU-Tage. In der sozialen Betreuung waren es 20,8 Tage, in Kliniken 18,2 AU-Tage. Überdurchschnittlich oft sind psychische Störungen der Grund für die Erkrankungen: 4,5 Tage waren etwa Beschäftigte in der Altenpflege deswegen krankgeschrieben. Bei allen arbeitenden BKK-Mitgliedern waren es dagegen nur 2,3 AU-Tage.«

Das und generell die Arbeitsbedingungen in der Pflege spiegeln sich auch in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Auf der Basis einer Umfrage unter 2.000 Beschäftigten ergibt sich dieser Befund:

»Knapp acht Prozent der Arbeitnehmer in der Kranken- und Gesundheitspflege und sogar 21 Prozent in der Altenpflege sehen ihre psychische und physische Gesundheit durch die Arbeit mindestens als stark gefährdet an. Betrachtet man alle Beschäftigten zusammen, äußerten nur 4,4 Prozent diese Befürchtung.«

Der differenzierte Blick auf den Krankenstand verdeutlicht neben der überdurchschnittlich hohen Belastung der Pflegeberufe auch die Spaltung innerhalb der Pflege zwischen der Gesundheits- und Krankenpflege auf der einen und der Altenpflege auf der anderen Seite. Hier sieht man, dass die Altenpflege nochmals stärker betroffen ist von den krankmachenden Effekten der Arbeit. Die angesprochene und in Deutschland besonders ausgeprägte Spaltung zwischen der Pflege in den Krankenhäusern und der Altenpflege wurde jüngst wieder mehr als deutlich bei der beabsichtigten und dann schlussendlich mit einem keinen wirklich befriedigenden Kompromiss (vorläufig) abgeschlossenen Reform der Pflegeausbildungen (vgl. dazu den Beitrag Reform der Pflegeausbildung: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Von der Dreigliedrigkeit zum 1.+2. (+3.) Generalistik- bzw. (ab 3.) Y-Optionsmodell vom 24. Juni 2017).

ie Altenpflege ist in mehrfacher Hinsicht besonders unter Druck – und zugleich die große „Boombranche“, was die Zuwachsraten bei der Beschäftigung angeht. »Während über alle Branchen seit 2013 die Beschäftigtenzahlen um 5,9 Prozent gestiegen sind, gab es bei den Fachkräften in der Altenpflege  einen Zuwachs von 14,2 Prozent und bei den Pflegehelfern sogar von 16,8 Prozent. In der Krankenpflege lagen die Zuwachsraten mit sieben Prozent für die Krankenhelfer und 4,7 Prozent für die Krankenpfleger deutlich niedriger. Das hat auch damit zu tun, dass die Krankenhäuser aus Kostengründen die Personaldecke straff halten, weiß Sylvia Bühler, Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Verdi«, so Peter Thelen in seinem Artikel. Damit das hier nicht falsch verstanden wird: Eine Differenzierung zwischen Krankenpflege auf der einen und Altenpflege auf der anderen Seite ist eine zwischen schlecht und noch schlechter. Zur Pflege in den Krankenhäusern: »In Deutschland sei eine Pflegefachkraft pro Schicht für durchschnittlich 13 Patienten zuständig, in den Niederlanden für sieben. In der Nachtschicht sind es durchschnittlich 26. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern machen notgedrungen Überstunden ohne Ende: Nach einer Erhebung von Verdi im vergangenen Jahr schieben die Beschäftigen in den Kliniken einen Berg von 35,7 Millionen Überstunden vor sich her, 32,5 pro Kopf.«

Zur Altenpflege: »Mit 1.945 Euro brutto im Osten und 2.548 Euro brutto im Westen legen die Einkommen für eine Vollzeitstelle im Durchschnitt um 21 Prozent unter dem Niveau in der Krankenpflege. Auch bei Vollzeitarbeit drohe daher vielen Altenpflegekräften Armut im Alter. Zum Vergleich: Das Durchschnittsgehalt über alle Branchen liegt bei 3.462 Euro brutto. Bis zu 70 Prozent der Pflegekräfte arbeiten aber in Teilzeit.«

Die Arbeitsbedingungen haben messbare Folgen: Die meisten Fehltage pro Beschäftigten gibt es bei den Beschäftigten in Pflegeheimen und Altenheimen mit rund 24 Tagen, in Krankenhäusern mit 18 Tagen und in der sozialen Betreuung mit 20 Tagen. In der gesamten Wirtschaft fallen pro Jahr und Kopf 16,1 Arbeitsunfähigkeitstage an.

Es sind vor allem psychische Störungen, die in der Pflegebranche weit häufiger vorkommen als in der übrigen Wirtschaft.

Bei der Präsentation der neuen Daten seitens der BKK wurde natürlich auch über mögliche Konsequenzen debattiert. Sylvia Bühler von der Gewerkschaft Verdi sieht hier eindeutig den Gesetzgeber gefordert. Er muss schneller und durch strengere Vorgaben als bisher dafür sorgen, dass in Kliniken und Pflegeeinrichtungen deutlich mehr Pflegepersonal eingestellt wird. Nötig, so Bühler, sei auch ein Sofortprogramm, das gewährleiste, dass keine Schicht mehr von einer Person allein bestritten wird.

»Bei den Krankenkassen stößt die Forderung nach starren Personalvorgaben grundsätzlich auf Kritik. So hat sich der GKV-Spitzenverband nur sehr unwillig vom Gesetzgeber zwingen lassen, in den kommenden Jahren mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft zumindest Personaluntergrenzen auszuhandeln. BKK-Chef Franz Knieps teilt noch aus seiner Zeit als Chef der zuständigen Abteilung im Gesundheitsministerium diese Bedenken gegen starre Vorgaben. Trotzdem, so sagt er  heute, sehe er inzwischen keinen anderen Weg, das Problem der chronischen Arbeitsüberlastung in der Pflege anzugehen. „Am Ende sind es ja auch die Kranken- und Pflegebedürftigen, die das ausbaden müssen“, sagt Knieps.«

Immer wieder geht es um die desaströse Personalausstattung in der Altenpflege, aber auch in vielen Krankenhäusern, was die Pflege angeht. Während sich im Krankenhausbereich – wenn auch nur im embryonalen Umfang – etwas bewegt und die Debatte über verbindliche Personalvorgaben Fahrt aufgenommen hat (vgl. beispielsweise Viel Zustimmung für Personalvorgaben in Kliniken), ist die Lage in der Altenpflege mehr als prekär, in vielen Fällen ist sie unerträglich. Nicht ohne Grund wird man bei einer Suche unter dem Stichwort „Pflegenotstand“ in vielen Fällen auf den Bereich der stationären Altenpflege stoßen. Aber Hilfe für diesen Bereich ist schwer zu bekommen – selbst das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang erfolgreich Verfassungsbeschwerden gegen den Pflegenotstand vom richterlichen Körper halten können. Zu diesem Thema sei an dieser Stelle auf eine neue Publikation verwiesen, die in diesen Tagen im Nomos-Verlag erschienen ist: Christian Helmrich (Hrsg.) (2017): Die Verfassungsbeschwerden gegen den Pflegenotstand. Dokumentation und interdisziplinäre Analysen, Baden-Baden 2017: »Der Pflegenotstand ist in der politischen Landschaft ein seit langem bekanntes Problem. Systemische Mängel wie unzureichende Personalausstattung und Unterfinanzierung führen zur Verletzung von Grundrechten stationär Gepflegter. Im Jahr 2014 erhoben sieben Beschwerdeführende mit Unterstützung des Sozialverbands VdK Verfassungsbeschwerden: Der Gesetzgeber habe trotz der Reformbestrebungen keine Abhilfe geschaffen und damit seine sich aus dem Grundgesetz ergebenden Schutzpflichten verletzt. Den Bestrebungen um Besserung in der stationären Pflege fügt diese Argumentation eine neue Perspektive hinzu. Erstmals steht nicht das politisch Gewollte, sondern das grundrechtlich Geforderte im Mittelpunkt. Juristisch war dem Verfahren kein Erfolg beschieden – das Gericht nahm die Beschwerden nicht zur Entscheidung an.«
Der Sammelband dokumentiert und analysiert das Verfahren in der Rückschau. Er bezieht dabei neben verschiedenen rechtlichen auch sozialpolitische und pflegewissenschaftliche Aspekte ein.

Sowohl im Krankenhausbereich wie auch in der Altenpflege wird noch eine lange Wegstrecke zurückzulegen sein, um die Verhältnisse endlich zum Besseren zu wenden. Was passiert, wenn man das nicht tut oder zu lange wartet, das kann man auch in den Zahlen zur Entwicklung der Arbeitsunfähigkeit in den Pflegeberufen ablesen. Und damit potenziert sich das Grundproblem in vielen Pflegebereichen, dass es schlichtweg zu wenig Personal gibt. Wenn man dann auch noch die, die da sind, im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst krank pflegen lässt, dann darf man sich nicht wundern, wenn das kranke System kollabiert.

Selbst schuld am Minijob-Dasein, wenn man nicht was Ordentliches gelernt hat? Ein Tweet und eine komplexe Realität, die von einigen sehr weit weg ist

Erneut werden wir Zeugen, wie man twitternd eine ziemlich große Welle auslösen kann. Diesmal ist es nicht der amerikanischen Präsident, sondern jemand, der einige Kampfgewichte leichter, aber immerhin Generalsekretär der CDU Deutschland ist. Und seine Partei hat erst diese Tage als letzte in der Riege der zur Bundestagswahl antretenden Parteien ihr Wahlprogramm der Öffentlichkeit vorgelegt: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017 – 2021, so ambitiös ist das überschrieben. Darin findet man beispielsweise diese Aussage: »Sozial ist, was Arbeit schafft. Jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Wir setzen uns ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen bis spätestens 2025 Vollbeschäftigung für ganz Deutschland. In West und Ost, in Nord und Süd. Wir werden die Zahl der Arbeitslosen nochmals halbieren.« Das ist an vielen Stellen mittlerweile kommentiert worden, vgl. beispielsweise Voll mit fremden Federn von Florian Diekmann: »Vollbeschäftigung bis zum Jahr 2025. Das ist nicht nur wohlfeil. Es ist dreist. Denn die Union hat beim entscheidenden Punkt bisher gebremst, nicht gefördert« – und er meint hier die Nicht-Aktivität der Union hinsichtlich einer wirklichen Bekämpfung der sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland.«
„Sozial ist, was Arbeit schafft“ – so steht es im Wahl-, bzw. Regierungsprogramm der Union. Das allein wäre schon ausreichend Stoff, um über den Un-Sinn einer solchen Formulierung nachzudenken, denn es sollte eigentlich nicht wirklich schwer zu erkennen sein, dass gerade nicht jede Arbeit sozial ist.

Aber hier geht es um einen ganz besonderen Aspekt unseres Arbeitsmarktes: die Minijobs. Und um die Vorstellungen, die offensichtlich ein Spitzenpolitiker von dieser sehr deutschen Ausformung einer Teilzeit-Beschäftigung hat. Grundsätzlich muss man wissen, dass es zwei Formen der geringfügigen Beschäftigung gibt: Zum einen die ausschließlich geringfügig Beschäftigten und zum anderen die geringfügig Beschäftigten im Nebenjob, also Arbeitnehmer, die einer sozialversicherungspflichtigen Teil- oder Vollzeitbeschäftigung nachgehen und dann noch einen Minijob zusätzlich ausüben.

Man braucht keine drei Minijobs, wenn man was Ordentliches gelernt habe, so Peter Tauber. Bei ihm und sicher vielen anderen schwirrt da im Kopf herum, dass es Leute gibt, die mehrere 450-Euro-Jobs nebeneinander machen (müssen). Nun muss man an dieser Stelle zum einen klar stellen, dass es zwar durchaus die Möglichkeit gibt, mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nebeneinander auszuüben, aber dies 1.) im Grunde nur für die ausschließlich geringfügig Beschäftigten gilt* und 2.) darf die Grenze von 450 Euro insgesamt nicht überschritten werden. Man kann schlichtweg nicht mehrere eigenständige 450-Euro-Jobs parallel nebeneinander ausüben.

*Wenn man eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat und nebenbei einen oder mehrere Minijobs ausüben will, gilt die Regelung: Zwar bleibt der 450-Euro-Job abgabenfrei, den der Arbeitnehmer zuerst angenommen hat, aber alle weiteren Entgelte aus den Minijobs werden mit dem aus der Hauptbeschäftigung zusammengerechnet.

Die Abbildung zeigt auf Basis von aktuellen Daten der Minijob-Zentrale, dass im gewerblichen Bereich 97,3 Prozent der Minijobber lediglich eine geringfügige Beschäftigung ausüben, in den Privathaushalten sind es mit 88 Prozent etwas weniger. Zwei oder gar noch mehr Minijobs haben keine wirkliche Relevanz. Dann bleibt die Frage, wie es denn aussieht mit dem Vorwurf, die Leute, die geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ausüben (müssen), hätten besser „was Ordentliches“ gelernt, dann müssten sie das jetzt nicht machen.

In diesem Zusammenhang lohnt der Blick in die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag: Minijobs in Deutschland, Bundestags-Drucksache 18/7840 vom 10.03.2017. Die dort in aller Tiefe ausgewiesenen Daten beziehen sich auf den Juni 2015:

  • Hinsichtlich des Anforderungsniveaus der Tätigkeiten, die Minijobber ausüben, zeigen die Daten folgenden Befund: Bei den geringfügig entlohnt Beschäftigten waren im Juni 2015 insg. 44,4 Prozent Personen mit Helfertätigkeiten. Die Anteile der Personen, die als Fachkraft, Spezialist oder Experte arbeiten, unter den Minijobbern, stellt sich folgendermaßen dar: Fachkräfte: 43,7 Prozent; Spezialisten: 4,6 Prozent; Experten: 3,6 Prozent. 
  • Von den Minijobbern haben 48,9 Prozent einen anerkannten Berufsabschluss, nur 19,3 Prozent haben keinen Berufsabschluss.

Der DGB hat im November 2015 diese Studie veröffentlicht: Minijobs: Sackgasse für qualifizierte Arbeitskräfte. Analyse der Qualifikationsprofile von ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten. In dieser Studie wurden die ausschließlich geringfügig Beschäftigten betrachtet und darunter die Gruppe der „im klassischen Erwerbsalter von 25-64 Jahren“ befindlichen Personen. Fast drei von vier in dieser Altersgruppe sind weiblich. Wenn wir über Minijobs reden, sprechen wir über typische Frauenjobs.

Es handelt sich um eine Beschäftigtengruppe, in der sich viele gut ausgebildete Arbeitskräfte befinden: 51 Prozent dieser Gruppe verfügen über einen beruflichen oder zum Teil sogar akademischen Abschluss, 13 Prozent haben jedoch keine abgeschlossene Ausbildung. Von weiteren 36 Prozent ist das Qualifikationsniveau unbekannt.

»Betrachtet man nur die bekannten Qualifikationen und setzt sie ins Verhältnis, so kommt man zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent keinen Abschluss (404.481), 71 Prozent (1.414.747) einen Berufsabschluss und weitere 9 Prozent (177.632) sogar einen akademischen Abschluss haben.« (DGB 2015: 6)

Nach DGB-Berechnungen unter der Annahme, dass sich die Qualifikationen bei denen, für die keine Angaben vorliegen, so verteilen wie bei den anderen, kommen unter den 3,1 Mio. Minijobbenden im klassischen Erwerbsalter (25-64 Jahre) auf eine Person ohne Berufsabschluss etwa vier qualifizierte Arbeitskräfte.
Man kann schon an diesen Daten erkennen, dass Tauber völlig falsch liegt. Aber schauen wir weiter in die Ergebnisse der empirischen Forschung. Bereits 2012 veröffentlichte das Bundesfamilienministerium diese Studie:

Carsten Wippermann (2012): Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin, Oktober 2012

Wippermann hat die Erfahrungen von rund 2.000 aktuellen oder ehemaligen Minijobberinnen erhoben. Ergebnis: Eine geringfügige Beschäftigung taugt in der Regel nicht als Brücke in einen regulären Job. Die Befreiung von Steuern und Sozialabgaben bis zu einem Einkommen von 450 Euro und die beitragsfreie Krankenversicherung über den Ehegatten böten sogar Anreize, auf Dauer in einem Minijob beschäftigt zu bleiben. In dem die Studie zusammenfassenden Beitrag Minijob: Sackgasse für viele Frauen werden weitere Befunde referiert:

»Minijobberinnen haben zwar in der Regel eine fundierte Berufsqualifikation … Dennoch werden sie in der Regel nicht mehr als qualifizierte Fachkraft wahrgenommen. Damit ist ihre Verhandlungsposition in späteren Einstellungsgesprächen schlechter als die vergleichbarer Bewerber – sollten sie zu den 40 Prozent gehören, die den Weg zurück in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überhaupt schaffen. Knapp zwei Drittel der Frauen, die vorher ausschließlich in einem Minijob gearbeitet haben, erhalten in ihrem neuen, sozialversicherungspflichtigen Job ein Nettoeinkommen unter 1.000 Euro. Das gilt sogar für gut 28 Prozent der Vollzeit-Beschäftigten.

Damit führe der Minijob nicht nur während der Minijob-Tätigkeit, sondern auch in seinen Spätfolgen zu einer signifikanten Zementierung der Entgeltungleichheit … Im Lebensverlauf vergrößere sich so die Entgeltdifferenz zwischen den Geschlechtern. Denn mit jedem Jahr im Minijob sinken die für die Frauen künftig möglichen Lohnsteigerungen und Entgelte.«

Wippermann ging es in seiner Studie vor allem um die Motivlage der Minijobberinnen, also warum machen die das. Als Gründe nannten die Frauen:

  • Eine geringfügige Beschäftigung biete „gute Bedingungen“. 72 Prozent der Frauen im Minijob „pur“ berichteten, der Arbeitgeber habe bei der Gestaltung des Arbeitsvertrages auf ihre Wünsche geachtet. Gerade junge Mütter schätzen die Möglichkeit, nur wenige Stunden zu arbeiten. 
  • Mit zunehmendem Alter gewinnt ein weiterer Grund an Bedeutung: „Ich habe einen Minijob angenommen, weil ich keine bessere Alternative habe“, sagte knapp die Hälfte der 50- bis 64-Jährigen in ausschließlich geringfügiger Beschäftigung. Mit zunehmender Dauer komme also der „Realitätsschock“ … Denn Minijobberinnen gälten trotz Berufsausbildung als unqualifiziert und würden dauerhaft niedrig entlohnt – ohne Aufstiegs- und Karriereperspektive. 

Man muss also durchaus differenzieren – für viele Frauen, vor allem Mütter, ist eine ausschließlich geringfügige Beschäftigung in der Eigenwahrnehmung nicht per se eine von außen aufgedrückte Unannehmlichkeit, sondern sie passt durchaus in die jeweilige Lebensphase. Das auch deshalb, weil es sich um eine subventionierte Beschäftigungsform handelt, bei der beispielsweise die beitragsfreie Familienmitversicherung in der Krankenversicherung erhalten bleibt, die natürlich von anderen Beitragszahlern quersubventioniert werden muss. Hinzu kommt der „Brutto=Netto“-Aspekt, was sich bei einer regulären Beschäftigung aufgrund der Steuerklassen und der Sozialabgabenpflicht erheblich verändert.

Zu dem hier angesprochenen Themenfeld vgl. auch Markus Krüsemann: Fehlsubventionen, von denen die Falschen profitieren vom 11.05.2017. Er weist auf zwei Gruppen hin, die von der staatlichen Subventionierung der Minijobs besonders profitieren:

»Dies sind zum einen die im Nebenjob geringfügig Beschäftigten. Sie werden gegenüber jenen Beschäftigten bessergestellt, die ihren regulären Verdienst durch (der Steuerpflicht unterworfene) bezahlte Überstunden und Mehrarbeit aufstocken. Zum anderen sind es Ehe- bzw. Lebenspartner, die neben ihre Tätigkeit als Hausfrau und -mann per Minijob das gemeinsame Einkommen aufbessern ohne damit die aus gemeinsamer Veranlagung resultierende Steuerlast zu vergrößern. Von der Subventionierung der Minijobs profitieren insbesondere Personen, die selbst oder deren Ehe- oder Lebenspartner ein hohes Einkommen generieren, und gleichzeitig ein relativ hohes Einkommen aus dem Minijob erzielen. Letztlich sind es also die Haushalte mit höherem Einkommen, für die der Minijob ein gutes Geschäft ist.«

Eine genauere Bilanzierung findet man in der 2017 veröffentlichten Studie Die fiskalischen Kosten der Minijobs von Tobias Peters.

Und vollends abstrus wird die Taubersche Argumentation, wenn man bedenkt, welche Entwicklungen wir am aktuellen Rand bei „den“ Minijobs sehen. »Nach Rückgängen im Jahr 2015 steigt die Zahl der Minijobs seit dem zweiten Quartal 2016 wieder leicht an. Diese Entwicklung hat sich im dritten Quartal 2016 fortgesetzt. Erneut ist der Boom bei den Minijobs im Nebenjob die treibende Kraft«, berichtet Markus Krüsemann. Während die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten aufgrund deren Verteuerung durchaus Bremseffekte gezeitigt hat, stellt sich die Situation bei den  im Nebenjob geringfügig Beschäftigten ganz anders dar: »Ihre Zahl steigt schon seit Jahren und unbeeindruckt vom Mindestlohn an. Ende September 2016 lag das Plus im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 4,4 Prozent. Damit gab es fast 2,76 Millionen Beschäftigte mit einen zusätzlichen Minijob als Nebenjob, womit mal wieder ein neuer Höchststand markiert wurde.« Darunter sind eben auch viele Beschäftigte mit einer „ordentlichen“ Ausbildung, die sich auf diesem Weg etwas dazuverdienen (müssen).

Und selbst wenn man eine „ordentliche“ Ausbildung gemacht hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man auf der Sonnenseite des Lebens lustwandeln kann. Vgl. dazu den Beitrag Der nach Gerhard Schröder „beste Niedriglohnsektor“, der in Europa geschaffen wurde, betrifft mehr als jeden fünften Arbeitnehmer in Deutschland vom 17. Juni 2017:

2017, nach Jahren des angeblichen „Jobwunders“ in Deutschland, wird man mit so einer Meldung konfrontiert: Knapp jeder Vierte arbeitet für Niedriglohn: »Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch. So verdienen 22,5 Prozent der Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde … Zum Vergleich: Im Euroraum insgesamt kommen nur 15,9 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause und haben aber mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner: Im Euroraum beginnt der Niedriglohn erst unterhalb von 14,10 Euro.« Als Niedriglohn gilt nach einer Definition der OECD ein Verdienst, der unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Bruttostundenlohns (gemessen am Median, nicht am arithmetischen Mittel) liegt. In Frankreich arbeiten nur 8,8 Prozent der Beschäftigten für einen Niedriglohn, der dort mit nur zehn Euro etwas niedriger liegt als in Deutschland. An der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde wird auch erkennbar, dass eine Vergütung nach dem gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde nicht dazu führen kann, die betroffenen Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnbereich herauszuholen – er ist ja auch „nur“ eine Lohnuntergrenze.

Es erübrigt sich für diejenigen, die sich mit der Lebenswirklichkeit der Menschen auseinandersetzen, die nicht nur zu den Privilegierten gehören, darauf hinzuweisen, dass ganz viele der hier angesprochenen Arbeitnehmer über eine grundsolide Ausbildung verfügen. Sie sind aber nicht CDU-Generalsekretär.