Arme Azubis. Und bedauernswerte Ausbildungsbetriebe. Alles neben den vielen Fällen, in denen es gut läuft. Und eine bröckelnde Bildungsrepublik

Es hat sich offensichtlich eine Menge geändert. Jahrelang ging es um den Mangel an Lehrstellen und seit einiger Zeit liest und hört man (fast) nur noch was von einem Mangel an Auszubildenden. Es geht also wieder einmal um den „Ausbildungsmarkt“, der vor allem deshalb hier in Anführungsstriche gesetzt wird, weil es eben nicht wirklich einen „Markt“ mit den dort wirkenden Mechanismen gibt.

Dazu wurden in diesem Blog in dem Beitrag Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion? vom 4. November 2016 die folgenden zusammenfassenden Hinweise gegeben: »… sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.
Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.«

Es gibt eben nicht einen großen „Markt“, auf den man es mit einem Angebot und einer Nachfrage zu tun hat. Bereits innerhalb von Regionen wird man mit Passungsproblemen konfrontiert. Beispiel Berlin-Brandenburg: In diesen Tagen wurde von der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit (BA) bekannt gegeben, dass aktuell rund 9.000 Ausbildungsstellen unbesetzt sind, während noch über 10.000 Jugendliche nach ihrem frisch erworbenen Schulabschluss ohne Anschlussperspektive sind. Da hilft es dann angesichts der überaus ausgeprägten regionalen Verfasstheit von Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage auch nicht, wenn man feststellt, dass in München viele Abzubistellen nicht besetzbar sind, aber im Ruhrgebiet viele Jugendliche, selbst mit passablen Schulabschlüssen, eine Ausbildungsstelle suchen, aber nicht finden. Ein „einfacher“ Ausgleich in dem Sinne, dass dann die jungen Menschen eben nach München ziehen sollen, funktioniert nicht wirklich, was man angesichts der Rahmenbedingungen auch schnell nachvollziehen kann.

Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack wird dann auch mit diesen Zahlen zitiert: » „Die Lage ist nach wie vor angespannt, auch wenn es im letzten Jahr 43.000 unbesetzte Ausbildungsstellen gab. Ihnen gegenüber stehen 280.000 junge Menschen, die im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Insbesondere Hauptschulabsolventen haben es schwer auf dem Ausbildungsmarkt.« Speziell zu den Problemen der Hauptschüler (aber auch den Problemen von Betrieben mit ihnen) der Beitrag Trotz Azubi-Mangels: Viele Hauptschüler finden keinen Ausbildungsplatz von Deutschlandfunk Kultur.

Und zu den Rahmenbedingungen einer dualen Berufsausbildung in Deutschland gehören eben auch die Bedingungen, unter denen die Auszubildenden lernen und arbeiten – und schon sind wir mittendrin in der immer wiederkehrenden kritischen Diskussion – zuweilen auch überwiegend arbeiten müssen, aber wenig lernen können.

Dieser Vorwurf wird regelmäßig von der Gewerkschaftsseite ins Feld geführt. Unter der Überschrift Ausbildungsreport 2017: Ausbildungsqualität endlich verbessern! hat sich der DGB zu Wort gemeldet. Es geht dabei um diese Veröffentlichung:

DGB-Bundesvorstand (2017): Ausbildungsreport 2017, Berlin, August 2017

An der repräsentativen Befragung haben sich 12.191 Auszubildende aus den laut Bundesinstitut für Berufsbildung 25 häufigsten Ausbildungsberufen beteiligt.

Beginnen wir entgegen der heute üblichen Dramaturgie mit einer positiven Zahl, die man – auch – in dem neuen Ausbildungsreport der Gewerkschaften finden kann: Danach sind die meisten Auszubildenden (71,9 Prozent) mit ihrer Ausbildung zufrieden. Das ist erst einmal kein schlechter Wert – aber eben auch ein Durchschnittswert über alle Auszubildenden hinweg.

Bei den Zufriedenheitswerten gibt es aber erhebliche Branchenunterschiede: Mechatroniker, Industriekaufleute und Industriemechaniker sind über Durchschnitt zufrieden. Friseurinnen und Friseure, Auszubildende in Teilen des Hotel- und Gaststättenbereichs und Fachverkäufer des Lebensmittelhandwerks, bewerten ihre Betriebe hingegen mangelhaft. Nun ist es nicht verwunderlich, dass gerade in den Branchen mit hohen Unzufriedenheitswerten zum einen die Bewerberlage aus Sicht der Betriebe mangelhaft bis desaströs ist – und zugleich haben wir dort auch sehr hohe Abbrecherzahlen (vgl. dazu differenzierter am Beispiel der Köche den Beitrag Frust am Herd – Köche auf der Flucht? Von klagenden und zufriedenen Azubis, Ausbildungsabbrüchen und einem Azubimangel zwischen Hysterie und Realität vom 8. November 2016).

Die Liste der gewerkschaftlichen Kritikpunkte ist lang. »Über ein Drittel der Auszubildenden leistet regelmäßig Überstunden. Fast genauso vielen (35,4 Prozent) liegt kein betrieblicher Ausbildungsplan vor, eine Überprüfung der Ausbildungsinhalte ist ihnen daher nur schwer möglich. Mehr als jeder zehnte Azubi (11,5 Prozent) übt regelmäßig ausbildungsfremde Tätigkeiten aus. Die Abstimmung zwischen Betrieben und Berufsschulen ist oft schlecht.«

Die Vorwürfe werden auch in der Medienberichterstattung aufgegriffen. Ein Beispiel ist der Beitrag Ausbeutung statt Ausbildung: Wie Nachwuchsfachkräfte ausgenutzt werden des Politikmagazins „Report Mainz“ (ARD): »Viele Auszubildende werden in ihren Betrieben als billige Arbeitskraft missbraucht statt als Fachkraft für morgen ausgebildet zu werden. Die Politik könnte das Berufsbildungsgesetz ändern, um die Azubis besser zu schützen, tut es aber nicht«, so die These des Beitrags in der Sendung am 29.08.2017.

Der Beitrag greift eine der Forderungen des DGB direkt auf: »Nach Meinung von Gewerkschaften fehlen Kontrollen und Sanktionen gegen die betreffenden Unternehmen. Laut Berufsbildungsgesetz sollen die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern zwar ihre Mitgliedsunternehmen kontrollieren und gegebenenfalls dafür sorgen, dass deren Ausbildungsberechtigung entzogen wird. Doch das findet nur begrenzt statt. Die Gewerkschaften halten es für einen Systemfehler, dass die Kammern ihre eigenen Mitgliedsbetriebe kontrollieren sollen und fordern ein unabhängiges Institut. Dafür müsste allerdings das Berufsbildungsgesetz geändert werden. Doch die Bundesbildungsministerin sieht dafür keinen Bedarf.« Zu den Forderungen des DGB vgl. auch die Seiten 40 f. des Ausbildungsreports 2017.

Auch einige Azubis protestieren gegen die Bedingungen, unter denen sie ihre Ausbildung machen (müssen). Ein gerade bei Frauen immer noch überaus beliebter Ausbildungsberuf sei hier besonders erwähnt: Friseure. »Friseur-Azubis protestieren gegen Niedriglöhne, Überstunden und Zeitstress«, so Ines Wallrodt in ihrem Artikel Schlechter Schnitt:

Im Durchschnitt bekommen Friseur-Azubis nach Angaben von ver.di im Osten 269 Euro, im Westen 494 Euro im Monat. In Sachsen liegt die Durchschnittsvergütung bei 200 Euro, in Thüringen bei 205 Euro. Den Negativrekord hält Sachsen-Anhalt. Dort werden Azubis mit 153 Euro abgespeist – irgendwann wurde D-Mark in Euro umgerechnet, mehr hat sich in 25 Jahren nicht geändert. Im Osten ist es besonders schlimm, aber auch in Hamburg, einer der teuersten Städte Europas, verdienen angehende Friseure lediglich 325 Euro. Von ihrem Lohn müssen Azubis nicht selten teure Scheren und Kämme bezahlen, Überstunden sind häufig. Was für die Prüfung nötig ist, muss in der Freizeit gelernt werden. Der Gewerkschaftssekretär Marvin Reschinsky wird mit diesen Worten zitiert: »Azubis werden systematisch als billige Arbeitskräfte eingesetzt.« Anspruch auf Mindestlohn haben sie nicht. Ein Großteil sei deshalb auf Hilfe aus der Familie oder vom Staat angewiesen.

Auch in diesem Artikel wurde das Thema aufgegriffen: Vollzeit arbeiten für 153 Euro im Monat.

Die Spannweite bei dem, was Azubis bei tarifvertraglich geregelten Beträgen bekommen, ist enorm: Ausbildungsvergütungen: Regionale Unterschiede bis zu 299 Euro im Monat, so die Information des WSI-Tarifarchivs, der auch die Abbildung entnommen ist. Und da sind die Friseure noch nicht einmal enthalten.

Aber es geht nicht nur um die die Vergütung der Auszubildenden. Das gesamte System der dualen Berufsausbildung steht inmitten einer mehrfachen strukturellen Herausforderung – darauf wurde in diesem Blog in zahlreichen Beiträgen immer wieder hingewiesen. Zum einen sinkt die Zahl der an einer dualen Berufsausbildung interessierten jungen Menschen, nicht nur, aber eben auch aufgrund des Sogeffekts der hochschulischen Ausbildung, der einhergeht mit einer stetig steigenden Zahl an Schulabgängern, die irgendeine Form der Hochschulzugangsberechtigung erworben haben. Hinzu kommt, dass die Zahl der ausbildenden Betriebe rückläufig ist, teilweise auch bedingt durch Besetzungsprobleme der Betriebe, die irgendwann aufgeben. Und in anderen Branchen, in denen wir Beschäftigungswachstum verzeichnen, gibt es zwar mehr Unternehmen, von denen aber viele noch nie ausgebildet haben.

Da überrascht dann so eine Überschrift nicht wirklich: Arbeits- und Ausbildungsmarkt entwickeln sich auseinander. In dem Artikel wird über eine neue Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen berichtet. Die Zahl der Beschäftigten ist zwischen 1999 und 2015 um 12,1 Prozent gestiegen – im gleichen Zeitraum ging die Zahl der Auszubildenden um 6,7 Prozent zurück. »Der Studie zufolge gibt es zudem deutliche regionale Unterschiede: Während die Ausbildungsquote im Westen etwa in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen zwischen 1999 und 2015 fast konstant blieb, halbierte sie sich im selben Zeitraum in den ostdeutschen Bundesländern. Hinzu kommt: Der betriebliche Bedarf und die an einer Ausbildung interessierten Schulabsolventen passten immer weniger zusammen.  Der Entkoppelungseffekt zeigt sich über alle Betriebsgrößen und Branchen, jedoch unterschiedlich stark. Besonders deutlich ist der Rückgang der Ausbildungsquote bei den Kleinstbetrieben mit bis zu fünf Mitarbeitern. Lag die Ausbildungsquote hier 1999 bei 7,0 Prozent, waren es 2015 4,9 Prozent. „Für Kleinst- und Kleinbetriebe ist die Ausbildung am schwierigsten zu stemmen. Sie bilden überproportional Jugendliche mit schwächeren Schulabschlüssen aus, haben dafür aber am wenigsten Ressourcen“.« Mehr dazu in der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebenen Studie Entwicklung der Berufsausbildung in Klein- und Mittelbetrieben.

Aber zur dualen Berufsausbildung gehören nicht nur die Betriebe, sondern auch die Berufsschulen. Und auch dort werden wir konfrontiert mit den Auswirkungen struktureller Probleme. Schon seit langem wird im Kontext des um sich greifenden Lehrermangels auf die besonders schwierige Situation vieler Berufsschulen verwiesen. Auch der in jüngster Zeit wieder heftig beklagte Unterrichtsausfall an den Schulen insgesamt (vgl. dazu das Interview mit Heinz-Peter Meidinger, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes: „Es fallen jede Woche rund eine Million Unterrichtsstunden aus“) schlägt in vielen Berufsschulen überdurchschnittlich stark zu Buche.
Als dualer Lernortpartner ist die Teilzeit-Berufsschule eine wichtige Säule im Kontext der Ausbildung im dualen System. Sie hat die Aufgabe, die im Rahmenlehrplan verankerten fachtheoretischen Ausbildungsinhalte zu vermitteln und die Allgemeinbildung der Schüler/-innen zu vertiefen. Eine Bestandsaufnahme wurde kürzlich vom Bundesinstitut für Berufsbildung veröffentlicht:

Monika Hackel, Christoph Junggeburth, Anita Milolaza, Magret Reymers und Maria Zöller (2017): Berufsschule im dualen System – Daten, Strukturen, Konzepte. Wissenschaftliche Diskussionspapiere Heft 185, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2017

In der abgewogenen Sprache der Wissenschaftler findet man dort die folgenden Hinweise:

»Im Fokus der vorliegenden Studie steht die demografische Entwicklung. Bis 2035 wird ein starker Rückgang der Schülerzahlen prognostiziert. Dieser Rückgang hat auch Auswirkungen auf die Beschulung dualer Berufsbilder. Im Rahmen der Ord­nungsverfahren wird seit einigen Jahren vermehrt geprüft, ob eine Zuordnung von Berufen zu Berufsgruppen möglich ist, um besonders in strukturschwachen Regionen eine gemeinsame Be­schulung unterschiedlicher Berufe durchzuführen.«
Das muss vor dem Hintergrund der folgenden Befunde gesehen werden (S. 7 f.):

  • Der Rückgang der Schülerzahlen an beruflichen Schulen hat bereits zu Schließungen von Klassen und Teilzeit-Berufsschulen geführt; mit der Konsequenz, dass je nach Ausbildungs­gang eine wohnortnahe Beschulung im berufsspezifischen Unterricht zunehmend schwieri­ger wird. Insbesondere Berufsschulstandorte in Ostdeutschland sind betroffen.
  • Im Umgang mit dieser Entwicklung sind sehr unterschiedliche Strategien zu beobachten. Diese reichen von der zentralen Beschulung an einem Berufsschulstandort mit der Möglich­keit differenzierter Klassen bis hin zu einer Favorisierung wohnortnahen Unterrichts mit ho­hem Stellenwert der Binnendifferenzierung bei berufs- oder fachrichtungsübergreifenden Klassen.
  • Die Gewinnung von Lehrkräften für den berufsspezifischen Unterricht ist besonders in ge­werblich-technischen Berufen ein Problem. Hier sind Maßnahmen zur Attraktivitätssteige­rung des Lehramts an Berufsschulen erforderlich.
  • Künftige Lösungsoptionen, über die aktuell aufgezeigten Fallstudien-Ergebnisse hinaus, könnten möglicherweise die Gestaltung standortübergreifender Schulentwicklungsplanung, die Schaffung von Informations- und Kommunikationsstrukturen, E-Learning-Angeboten, jahrgangsübergreifenden Fachklassen, die Bereitstellung berufsspezifischer Lehr-/Lernkonzepte für einen binnendifferenzierten Unterricht oder finanzielle Förderung darstellen. Die finanzielle Förderung könnte sowohl bei der Ausstattung von Schulen als auch bei der Lehreraus- und -weiterbildung ansetzen.

Allein diese (noch „liebevoll“ formulierten) Hinweise verdeutlichen, welche Planungs- und Investitionsbedarfe vorliegen, um einen mittelfristigen Zusammenbruch des Systems der dualen Berufsausbildung, das neben den Betrieben (und den Bewerbern) eben auch von den Berufsschulen abhängt, zu verhindern. Das zusätzlich zu den massiven Problemen, die wir im vorgelagerten allgemeinbindenden Schulsystem haben und diskutieren. Hinzu kommen die erheblichen Quantität- und Qualitätsprobleme der hochschulischen Ausbildung. Die „Bildungsrepublik“ Deutschland bröckelt und fault an vielen Fronten.

Auch und gerade vor diesem Hintergrund muss dann frustriert zur Kenntnis genommen werden, dass das Thema Bildung und Ausbildung im TV-Duell von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz (SPD) am Abend des 3. September 2017 vor einem Millionenpublikum exakt in 0 Minuten behandelt wurde. Also gar nicht. Was wirft ein schlechteres Licht auf die Angelegenheit, als dieser Befund. Das wird sich angesichts des Problemstaus in diesem für die Zukunftsfähigkeit des Landes so wichtigen Bereichs noch mal ganz bitter rächen. An Warnungen und dringenden Aufforderungen, endlich mal in die Pötte zu kommen, mangelt es nicht in der Mangelrepublik Deutschland.

Jetzt aber ein großer Schluck aus der Pulle? Der stärkste Anstieg „der“ Löhne seit Jahren wird gemeldet

Wenn man so die Berichterstattung verfolgt, kann man schon verzweifeln – was gilt denn nun? Diese Frage stellt sich bei vielen Sachverhalten, regelmäßig natürlich bei Arbeitsmarktfragen. Zu denen die Löhne gehören – für die einen zu hoch, für die anderen zu niedrig. Früher konnte man sicher sein, dass in der Wirtschaftspresse in der großen Mehrzahl der Fälle vor „schädlichen“ Lohnerhöhungsforderungen der Gewerkschaften gewarnt wurde – sie würden die Arbeitgeber „überfordern“, die „Wettbewerbsfähigkeit“ ruinieren oder bei staatlichen Dienstleistungen die klamme öffentliche Hand „übermäßig belasten“. Aber irgendwie scheinen sich die Zeiten geändert zu haben. Wir werden mit einem ganz anderen Tenor konfrontiert.

Aus dem Bundeswirtschaftsministerium wird berichtet: „Deutschland hat ein Lohnproblem“. Vor kurzem konnte man sogar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Artikel lesen, der mit einer für dieses Medium bemerkenswerten Überschrift versehen war: Warum steigen unsere Löhne nicht mehr? Dieser Frage ging Rainer Hank nach, der nun wirklich nicht bekannt ist als bekennender Gewerkschafter. Übrigens ist der Beitrag von ihm sehr lesenswert. Darin findet man am Anfang diesen Passus:

»EZB-Präsident Mario Draghi (weniger vollmundig sein deutscher Kollege Jens Weidmann) findet, was seine marktflutende Geldpolitik nicht schaffe, nämlich ein Inflationsziel von „nahe bei zwei Prozent“ zu erreichen, müsse ein kräftiger Einkommenszuwachs bewirken. Unterstützung erhalten die Zentralbanker vom Internationalen Währungsfonds, der den Deutschen aggressive Löhne zum Abbau des weltweit verhassten Leistungsbilanzüberschusses und zur Stärkung der Binnennachfrage empfiehlt. Der öffentliche Dienst habe Vorreiter zu sein, fordert Peter Bofinger, Mitglied im Sachverständigenrat, und schilt die Gewerkschaft Verdi für ihr mageres Tarifergebnis von gerade einmal zwei Prozent. Mindestens drei Prozent wären ökonomisch drin gewesen, findet Ökonom Bofinger: „Ich verstehe Verdi-Chef Bsirske nicht.“«

Man reibt sich verwundert die Augen – Notenbankchefs als Klassenkämpfer? „Die Belegschaften in den Industriestaaten hätten höhere Löhne verdient“, zitiert auch Markus Zydra in seinem Artikel „Arbeiter sollten mehr Geld fordern“ die Stimmen aus der Geldpolitik.

Und offensichtlich scheint die Botschaft angekommen zu sein. Das Statistische Bundesamt meldet sich mit dieser Pressemitteilung zu Wort und berichtet: »Die Tarifverdienste – gemessen am Index der tariflichen Monatsverdienste einschließlich Sonderzahlungen – waren im zweiten Quartal 2017 durchschnittlich 3,8 % höher als im Vorjahresquartal. Das ist der höchste Anstieg seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2011.« Und die angesprochene Zeitreihe – dazu die Illustration in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags – geisterte sofort durch die Medien. Als Beleg dafür, dass jetzt auch die Löhne kräftig zulegen und die Arbeitnehmer profitieren.

Man muss anmerken, dass die +3,8 Prozent Tariflohnanstieg natürlich ein Durchschnittswert sind. Das Statistische Bundesamt weist in der Darstellung der Entwicklungen in den einzelnen Wirtschaftssektoren auf auf die Spannbreite hin, mit der wir es zu tun haben. So könnten Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst einen überdurchschnittlichen Anstieg in Höhe von 4.5 Prozent verbuchen, während es im Gastgewerbe magere 0,9 Prozent und im Einzelhandel auch nur 1,1 Prozent sind, die dort als Plus notiert werden.

Man muss solche Nachrichten immer sehr genau lesen. In der Meldung der Statistiker ist nicht von „den“ Löhnen die Rede, sondern von den „Tariflöhnen“. Da gibt es auch noch andere Löhne, eben Nicht-Tariflöhne. Aber selbst, wenn wir uns auf die Tariflohnentwicklung fokussieren, kann man nicht schlussfolgern, die Arbeitnehmer haben jetzt 3,8 Prozent mehr Euros in der Tasche, die sie ausgeben – oder was auch immer sie damit machen – können. Ob man wirklich mehr in der Tasche hat, was man auch umsetzen kann in der Volkswirtschaft, bemisst sich eher an den Reallöhnen, also dem preisbereinigten Löhnen, denn wenn parallel zu den Löhnen auch die Preise steigen, dann bleibt real weniger übrig. Die Entwicklung der Reallöhne im Vergleich zu den Tarifverdiensten ist in der zweiten Abbildung dargestellt. Und bei den Reallöhnen sieht es am aktuellen Rand der Zeitreihe nun (wieder) ganz anders aus, als der Anstieg um 3,8 Prozent bei den Tariflöhnen suggerieren – wenn es um alle Löhne geht.

Der Anstieg aller Löhne wird im Index der Nominallöhne abgebildet. Schaut man sich die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren von 2008 bis 2016 an, die in der dritten Abbildung dargestellt ist, dann erkennt man in den Jahren vor 2014 ganz erhebliche Abweichungen zwischen den Nominallohnanstiegen und dem, was real für die Arbeitnehmer raus gekommen ist. Offensichtlich hat die Inflation eine Menge von den nominalen Lohnsteigerungen aufgefressen. Das andere Muster in den Jahren 2014 bis 2016 lässt sich größtenteils auf die niedrige bis offiziell gar nicht vorhandene Preissteigerung gemessen an der allgemeinen Inflationsrate zurückführen. Aber das ist langsam ein Auslaufmodell. Unabhängig davon könnte man an dieser Stelle kritisch diskutieren, dass es statistisch „die“ Inflationsrate gibt, aber in der wirklichen Wirklichkeit werden die Menschen mit mehreren ganz unterschiedlichen Inflationsraten konfrontiert, je nach ihrer Einkommenslage und dem damit verbundenen Ausgabeverhalten. Es ist offensichtlich, dass ein besonders ausgeprägter Anstieg der Wohnungsmieten, der in der allgemeinen Preissteigerungsrate teilweise kleingeschreddert wird aufgrund der vielen anderen Güter und Dienstleistungen, die da gemessen und gewichtet werden, für die Bezieher kleiner und mittlerer Lohneinkommen, die zur Miete wohnen (müssen), eine andere Bedeutung haben muss als für Besserverdienende, die oftmals im eigenen Wohneigentum leben können.

Aber wieder zurück zur aktuellen Berichterstattung über die neuen Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt. So eine Überschrift ist korrekt: Tariflöhne steigen deutlich. Aber man sollte weiter lesen, denn es werden Zweifel gesät: »So stark haben die Tarifverdienste schon lange nicht mehr zugelegt: Von April bis Juni stiegen sie um 3,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – das dürfte allerdings ein Ausreißer sein.« Sollte man sich etwa nicht zu früh freuen?

»Da die Preise im Zeitraum von April bis Juni lediglich um 1,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr stiegen, erhöhten sich auch die realen Tarifverdienste, also die Kaufkraft der Beschäftigten. Das deutet darauf hin, dass sich der Trend der vergangenen Jahre zu steigenden Reallöhnen fortsetzt.«

Das hört sich doch gut an. Aber jetzt wird Wasser in den Wein gegossen, denn:

»Allerdings lassen die aktuellen Zahlen der Statistiker nur begrenzt Rückschlüsse auf die gesamte Lohnentwicklung in Deutschland zu. Denn die Statistik umfasst ausschließlich die Löhne der Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt.«

Das haben wir bereits angesprochen. Und man muss berücksichtigen: » Diese Tarifbindung ist jedoch in den vergangenen Jahrzehnten stetig zurückgegangen, zuletzt lag sie nur noch bei 50 Prozent.«

Über die Erosion des Tarifvertragssystems – die übrigens trotz der eindeutigen Datenlage von der Bundesregierung nicht gesehen werden will, folgt man ihrer Stellungnahme: Bestandsaufnahme des deutschen Tarifvertragssystems. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Bundestags-Drucksache 18/13398 vom 24.08.2017 – wurde in diesem Blog erst vor kurzem ausführlich berichtet – in dem Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017 sowie am 27. Juni 2017 unter der Überschrift „Orientierung“ am Tarif kann auch 25 Prozent weniger bedeuten. Immer mehr Arbeitnehmer arbeiten in einer tariflosen Welt und das macht sich für sie in einer teilweise markant niedrigeren Vergütung bemerkbar im Vergleich zu den Beschäftigten, die (noch) unter die Tarifbindung fallen.

Und wie immer bei Statistiken muss man im Hinterkopf behalten, dass es sich auch um besondere und zumeist einmalige statistische Effekte handeln kann. So muss man auch einen Teil der nun so herausgestellten + 3,8 Prozent bei den Tariflöhnen lesen: Für den Öffentlichen Dienst der Länder gilt bereits seit Januar eine vereinbarte Lohnerhöhung von zwei Prozent. Ausbezahlt wurde diese aber erst im zweiten Quartal, mitsamt hoher Nachzahlungen für die ersten drei Monate des Jahres.

Fazit: Man sollte sich nicht zu früh freuen.

Die einen bekommen mehr, die anderen weniger: Besserstellung der tarifgebundenen Pflegedienste in der häuslichen Krankenpflege

Zuweilen sind es die kurzen Meldungen, hinter denen gewichtige Aspekte stehen, die man wahrnehmen sollte, gerade auch deshalb, weil sie neue und notwendige Wege aufzeigen. Ein Beispiel dafür wäre die Situation in der Pflege und die Vergütung der Pflegekräfte. Darüber wird seit langem geklagt. Und immer wieder hat man in der Vergangenheit seitens der Träger der ambulanten Pflegedienste und der Pflegeheime das Argument hören müssen, man würde ja gerne das Personal besser, beispielsweise nach Tarif bezahlen – aber man stehe in einem harten Wettbewerb mit anderen Anbietern und wenn sich die daran nicht halten, dann zieht man eine ganz schlechte Karte. Kurzum, man würde ja gerne, aber die Rahmenbedingungen der Finanzierung erlauben das leider nicht.
Nun hatte dass Bundessozialgericht mit Blick auf die Pflegesätze in der stationären Altenpflege schon vor Jahren entschieden, dass die Einhaltung einer Tarifbindung nicht dazu führen darf, einen solchen Anbieter wegen „Unwirtschaftlichkeit“ gleichsam zu bestrafen.

Zum Hintergrund sei an dieser Stelle nur auf die Ausführungen zum „externen Vergleich“ und dem richtungweisenden Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Januar 2009 hingewiesen, die man in dieser Veröffentlichung nachlesen kann:

Stefan Sell (2009): Das Kreuz mit der Pflege. Konfessionelle Träger von Pflegeheimen als Getriebene und Treiber in Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Pflegesektors. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 06-2009, Remagen, 2009

Von besonderer Rolle ist dabei der „externe Vergleich“ und die Orientierung der zugestandenen Pflegesätze an den in Rahmen dieses Vergleichs gewonnenen durchschnittlichen Beträgen bzw. Steigerungsraten. Als Hintergrund für die Anwendung dieses speziellen und mit Blick auf Träger, die eine z.B. tarifinduzierte höhere Personalkostenstruktur haben, nicht unproblematischen Verfahrens, muss die (alte) Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2000 gesehen werden.

In zwei Urteilen hatte das BSG richtungweisend dargelegt, wie die Vergütung der vollstationären Pflegeheime zu ermitteln ist. Die Höhe der leistungsgerechten Vergütung ist nach den Vorschriften des Gesetzgebers auf der Grundlage einer marktorientierten Pflegeversorgung in erster Linie durch Marktpreise zu bestimmen. In der Entscheidung vom 14. Dezember 2000 (BSGE 87, 199 = SozR 3 3300 § 85 Nr 1) hatte der erkennende Senat ausgeführt, dass sich die leistungsgerechte Vergütung von Pflegeleistungen der Pflegeheime in erster Linie am jeweiligen Marktpreis orientiere; um diesen zu ermitteln, seien Angebot und Vergütung der Leistungen anderer Pflegeheime ähnlicher Art und Größe zum Vergleich heranzuziehen (externer Vergleich).

In der Bilanz hat die praktische Anwendung des externen Vergleichs eine (nach unten) nivellierende Wirkung auf die Preise ausgeübt. Der externe Vergleich wirkte tendenziell wie ein Treiber zugunsten der billigen Anbieter und als permanentes Kostenunterdeckungs-Damoklesschwert für die „teuren“ Anbieter.

In dieser Gemengelage war die im Januar 2009 vom BSG vorgenommene Neuausrichtung der bisherigen Vorgaben zur Berechnung der leistungsgerechten Vergütung von Pflegeeinrichtungen in den Schiedsstellenverfahren besonders hervorzuheben – und für alle Vertreter einer Aufrechterhaltung der Tarifbindung und einer ordentlichen Bezahlung war dieser Kurswechsel der Bundessozialrichter von zentraler Bedeutung.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hatte entschieden, dass die Pflegevergütungen für Pflegeheime auf einer neuen Basis zu berechnen sind, um einerseits den Pflegeheimen eine leistungsgerechte, ein wirtschaftliches Handeln ermöglichende Vergütung zu gewähren (§ 84 Abs. 1 und 2 SGB XI), ohne dabei zu dem vom Gesetzgeber abgeschafften „Selbstkostendeckungsprinzip“ hinsichtlich der Gestehungskosten zurückzukehren. Nach den Vorgaben des BSG sind die Pflegesätze in einem zweistufigen Verfahren zu berechnen:

In einer 1. Stufe erfolgt eine Plausibilitätsprüfung der vom Heimträger für den bevorstehenden Pflegesatzzeitraum prognostisch geltend gemachten einzelnen Kostenansätze. Dabei hat der Heimträger die Abweichung der Kostenansätze zu den Vorjahreskosten (interner Vergleich) plausibel zu erklären (z. B. „normale“ Lohnsteigerungen, verbesserter Pflegepersonalschlüssel). Die Pflegekassen haben die Plausibilität zu überprüfen.

Sind die Kostenansätze plausibel, erfolgt in einer 2. Stufe ein externer Vergleich der geforderten Pflegesätze mit den Pflegesätzen vergleichbarer Pflegeheime aus der Region, um die Wirtschaftlichkeit zu überprüfen. Dabei ist nicht nach tarifgebundenen und nicht-tarifgebundenen Pflegeheimen zu unterscheiden. Liegt der geforderte Pflegesatz im unteren Drittel der zum Vergleich herangezogenen Pflegesätze, ist regelmäßig ohne weitere Prüfung von der Wirtschaftlichkeit auszugehen. Liegt er darüber, sind die vom Heimträger dafür geltend gemachten Gründe auf ihre wirtschaftliche Angemessenheit zu prüfen. Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.

Der letzte Satz ist hier natürlich von entscheidender Bedeutung: „Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.“ Das ist der Schlüsselsatz für alle Vertreter einer Tariforientierung bei der Ausgestaltung der Pflegesätze.

Nun gibt es eine ganz neue Bewegung im Bereich der ambulanten Pflegedienste, bei der es explizit auch um die Frage der Tarifbindung (und der daraus resultierenden Kosten) geht. Es geht hier – das sei deutlich hervorgehoben – um den Bereich der häuslichen Krankenpflege, also um den SGB V-Bereich, nicht um die ambulanten Altenpflegedienste nach dem SGB XI, also der Pflegeversicherung. Kassen belohnen faire Pflegedienste, so die eindeutige Überschrift einer der Meldungen dazu. Oder dieser Artikel hier: Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten in Hamburg mehr Geld. Was ist passiert?
In Hamburg bieten rund 360 Pflegedienste häusliche Krankenpflege als vorübergehende Unterstützung nach Krankheit oder einem Unfall an. Die Arbeitsgemein­schaft der freien Wohlfahrtspflege Hamburg (AGFW), in der überwiegend tarifgebundene Dienste organisiert sind, hat mit dem Verband der Ersatzkassen (vdek) Hamburg einen neuen Vertrag zur häuslichen Krankenpflege vereinbart, nach der Pflegedienste von den Ersatzkassen dann mehr Geld bekommen, wenn sie ihren Beschäftigten Tariflohn zahlen. 
Konkret hat man ein interessantes 3-Stufen-Modell vereinbart, das so aussieht:

1. Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten ab dem 1. Juli 2017 eine um 2,5 Prozent erhöhte Vergütung.
Für Anbieter, die keinen Tariflohn bezahlen, verein­barten die Vertragspartner ein abgestuftes Verfahren.
2. Dienste ohne Tarifbindung erhalten ein Vergütungsplus von 2,2 Prozent, wenn sie belegen, dass sie die Löhne ihrer Beschäftigten durchschnittlich im gleichen Umfang erhöhen.
3. Unternehmen, die weder Tariflohn bezahlen noch die Weitergabe des Vergütungsplus an ihre Mitarbeiter nachweisen, erhalten eine Steigerung von lediglich 1,2 Prozent.

„Der Vertrag soll ein Signal an die Pflegedienste sein, noch stärker als bisher auf eine vernünftige Bezahlung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu achten.“ Mit diesen Worten zitiert der Verband der Ersatzkassen Claudia Straub, Referatsleiterin Pflege, in der Pressemitteilung Pflegekräfte sollen besser bezahlt werden. Ersatzkassen steigern Vergütung in der häuslichen Krankenpflege
Hier wird über eine abgestufte finanzielle Anreizregelung tatsächlich ein Signal in Richtung auf mehr Tarifbindung gesetzt. Man kann nur hoffen, dass diese Regelung viele Nachahmer findet und das Segment der häuslichen Krankenpflege überschreiten kann.

Das Bundesarbeitsgericht und der Schutz der Arbeitnehmer vor einer „dauerhaften Produktivitäts-Überwachung“

Streitfragen vor den Arbeitsgerichten berühren einen Kernbestandteil unseres Lebens, wenn man überlegt, wie viel Zeit die Menschen, die eine Erwerbsarbeit haben, mit dieser zubringen. Und notwendigerweise wird es bei arbeitsweltlichen Konflikten immer ganz unterschiedliche Perspektiven geben  und wo Verlierer und Gewinner sind, dann ist auch Frust und Freude. Und manche Entscheidung der Arbeitsgerichte wird auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen. Das lässt sich grundsätzlich nicht vermeiden. Immer wieder kann man mit Blick auf die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit lesen, sie sei „arbeitnehmerfreundlich“, womit man wohl zum Ausdruck bringen will, sie sei den Arbeitgebern nicht so zugewandt, wie sich die das wünschen.

Dabei haben sich die Arbeitsrichter zuweilen mit nicht wirklich jugendfreien Themen zu beschäftigen und entscheiden diese auch letztinstanzlich: Griff ans Geschlechtsteil führt zur Kündigung: »Ein Mann wird gefeuert, weil er einem Kollegen in den Schritt fasst – aus Gehässigkeit, nicht aus Lust. Trotzdem ist das sexuelle Belästigung, stellte das Bundesarbeitsgericht nun klar.« Ein kräftiger Griff ans Gemächt des Kollegen, die Bemerkung: „Du hast aber dicke Eier!“ Einem Stahlarbeiter aus Bremen war wegen dieses Verhaltens gekündigt worden. Dagegen wehrte er sich vor Gericht. Beim Landesarbeitsgericht in Bremen hatte er recht bekommen: Zwar habe er sich falsch verhalten. Aber weil er seit 23 Jahren ohne Beanstandung bei der Firma arbeitete, hätte als Sanktion eine Abmahnung gereicht. Offensichtlich eines diese Urteile im Sinne des Arbeitnehmers.

Das sieht das Bundesarbeitsgericht als höchste Instanz anders: Die absichtliche Berührung der Geschlechtsteile eines anderen gilt immer als sexuelle Belästigung und kann am Arbeitsplatz die Kündigung nach sich ziehen. Auf eine sexuelle Motivation der Berührung kommt es dabei nicht an (Az: 2 AZR 302/16).
Nur um den Sachverhalt abzurunden: Dass es bei der Kündigung bleibt, ist trotz des eindeutig daherkommenden Urteils nicht sicher, denn nach der Klarstellung durch das BAG soll das Landesarbeitsgericht Bremen nun prüfen, ob der gekündigte Arbeitnehmer gewichtige soziale Gründe anführen kann, die schwerer wiegen als das Kündigungsinteresse der Firma.

In diesem Beitrag soll es aber um eine andere neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gehen, deren Bedeutung man nicht gering schätzen sollte: Arbeitgeber dürfen die Produktivität ihrer Beschäftigten nicht dauerhaft technisch überwachen. Auch eine entsprechende Betriebsvereinbarung ist unzulässig und daher unwirksam, wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem Urteil entschieden hat, kann man beispielsweise dieser Meldung entnehmen: Dauerhafte Überwachung ist unzulässig.

Das Bundesarbeitsgericht hat einen Schiedsspruch über eine „Belastungsstatistik“ bei einem Versicherungsunternehmen aufgehoben.

Schauen wir uns den Sachverhalt einmal genauer an, Details dazu finden wir in diesem Artikel: Bundesarbeitsgericht: Dauerhafte Produktivitäts-Überwachung der Arbeitnehmer ist nicht erlaubt.

Mit einer „Belastungsstatistik“ wollte das Versicherungsunternehmen »die Belastung der Sachbearbeiter überprüfen, die in den Außenstellen für die Schadensregulierung zuständig sind. Grund waren die nach Angaben des Unternehmens erheblichen Unterschiede in der Produktivität der Außenstellen.«

Nun ist es so, dass der Betriebsrat bei technischen Überwachungen der Arbeitnehmer ein  Mitspracherecht hat und im vorliegenden Fall konnten sich Unternehmen und Betriebsrat nicht verständigen, so dass eine Einigungsstelle eine Betriebsvereinbarung zu dem Thema verfasst hat:

»Danach sollten unter anderem für jeden Sachbearbeiter die Zahl der erledigten Fälle und die „Rückstände“ auf dem jeweiligen Schreibtisch ermittelt werden. Diese und detaillierte weitere Daten sollten dann wöchentlich durch den Firmencomputer ausgewertet werden.«

Damit nun war der Gesamtbetriebsrat des betroffenen Unternehmens nicht einverstanden – und klagte gegen die Regelung in der Betriebsvereinbarung.

Das BAG gab nun dem Betriebsrat recht. Der Spruch der Einigungsstelle verletze die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Mit welcher Begründung?

»Zwar sei es grundsätzlich ein legitimes Anliegen des Arbeitgebers, die Ursachen der unterschiedlichen Produktivität der Außenstellen in Erfahrung zu bringen. Das BAG äußerte allerdings Zweifel, ob die „Belastungsstatistik“ in der vorgesehenen Form hierfür überhaupt geeignet ist.

Denn vorrangig werde nicht die Belastung, sondern die Produktivität der einzelnen Sachbearbeiter erfasst. Dabei bleibe der Schweregrad des jeweiligen Falls völlig unberücksichtigt. Gründe für die bestehenden Unterschiede würden gar nicht ermittelt.

Zudem sei nicht ersichtlich, warum nicht eine Stichprobenerhebung ausreicht. Dadurch könnte der Überwachungsdruck für die Arbeitnehmer erheblich gemindert werden, so das BAG. Weiter rügten die Erfurter Richter, dass die einzelnen Sachbearbeiter gar nicht erkennen könnten, ob ihre Leistung von der ihrer Kollegen abweiche.«

„Für diesen schwerwiegenden dauerhaften Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer gibt es keine hinreichende Rechtfertigung“, urteilte das Bundesarbeitsgericht.

Das Bundessozialgericht und die „Rente mit 63“

Gerade in unserer aktualitätsfixierten Zeit ist es immer wieder interessant, wenn man mal nachschaut, was aus einem Vorstoß geworden ist. Beispielsweise aus einer bestimmten Kritik an der „Rente mit 63“, die neben der „Mütterrente“ 2014 am Anfang der jetzt (vorerst) auslaufenden Großen Koalition ins Leben gerufen wurde.

Die abschlagfreie Rente ab dem 63. Lebensjahr trat zum 1. Juli 2014 in Kraft. Nach dieser – zeitlich befristeten, weil gleichzeitig die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beibehalten wurde – Regelung können Versicherte, die mindestens 45 Jahre Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben, ohne Abschläge bereits mit 63 Jahren in den Rentenbezug gehen. Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen, dass diese Regelung, von der vor allem (überwiegend männliche) langjährig beschäftigte Arbeitnehmer und damit typische Gewerkschaftsmitglieder profitieren, auf Bestreben vor allem der Industrie-Gewerkschaften über die SPD in den Koalitionsvertrag und dann in die gesetzgeberische Umsetzung eingeflossen sind.

Vor diesem Hintergrund mag es den einen oder anderen überrascht haben, als am 9. Januar 2015 in diesem Blog davon berichtet wurde: Die Rentendiskussion ist sicher: Die IG Metall will gegen die „Rente mit 63“ klagen. Warum waren gerade die auf einmal unzufrieden mit „ihrem Geschenk“?

Dazu muss man einen genaueren Blick werfen auf die gesetzgeberische Konkretisierung: Wie so oft ging und geht es um die in gesetzlichen Bestimmungen notwendigerweise vorzunehmenden Abgrenzungen, die in bestimmten Fallkonstellationen als „Ungerechtigkeit“ wahrgenommen werden (können). Und genau um ein solche Unwucht bei der Operationalisierung der zu erfüllenden Zugangskriterien geht es im nun wieder aufzurufenden Fall:
Die IG Metall sah in einem Teil des Gesetzes eine willkürliche Ungleichbehandlung von Arbeitslosen und hatte damals angekündigt, Musterverfahren gegen die Rente mit 63 vorzubereiten. Es geht um Ausnahmeregelungen, die im letzten Moment in das Gesetz aufgenommen wurden, um die Union zu besänftigen. Wo genau lag und liegt das Problem?

Die Rente ab 63 ohne Abzüge vom Altersgeld erhält, wer 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann. Dabei werden auch Zeiten anerkannt, in denen Arbeitslosengeld I (nicht Hartz IV) bezogen wurde. So weit, so scheinbar eindeutig. Damals gab es seitens der Kritiker aber die Befürchtung, dass diese Regelung eine neue Frühverrentungswelle auslösen können, da bei einer Nicht-Begrenzung der Arbeitslosengeld I-Berücksichtung faktisch eine „Rente mit 61“ realisiert werden können, also dadurch, dass die Arbeitnehmer, die abschlagsfrei mit 63 in Rente gehen wollen,  schon vorher in den Arbeitslosengeld I-Bezug gehen, da der ja anerkannt wird bei den Zugangsvoraussetzungen.
Folglich hat der Gesetzgeber eine Ausnahme in die Zugangsvoraussetzungen eingebaut: Bei den letzten zwei Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn werden Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet, um Frühverrentungen mit 61 zu vermeiden. Problem gelöst – oder doch nicht?

In meinem Blog-Beitrag vom 9. Januar 2015 kann man dazu diesen Passus finden:

»Durch die Ausnahmeregelung die letzten beiden Jahre vor Eintritt in die abschlagsfreie Rente bei der Anrechnungsmöglichkeit von Arbeitslosengeld I-Bezug schien man das „Problem“ beseitigt zu haben – und hatte gleichzeitig ein neues zum Leben erweckt, denn die Regelung mag das Ausgangsproblem einer bewusst herbeigeführten Frühverrentung blockieren, aber was ist mit den Fällen, in dem der betroffenen Arbeitnehmer gegen seinen Willen den Arbeitsplatz verloren hat, also unfreiwillig? Und dem beispielsweise gerade ein oder zwei Jahre fehlen, um die 45 Beitragsjahre erfüllen zu können, die ihm einen Zugang zum abschlagsfreien Bezug der Altersrente ermöglichen würde?«

Natürlich wurde dieses Problem erkannt und man versuchte, dem mit einer neuen Sonderregelung innerhalb der Sonderregelung zu begegnen. Für die erste Ausnahmeregelung wurde eine zweite Ausnahme ins Gesetz geschrieben: Ist die Arbeitslosigkeit vor Rentenantritt durch die vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers – etwa wegen einer Insolvenz – bedingt, so ist die Zeit der Arbeitslosigkeit bis zu zwei Jahre vor Rentenantritt doch anzurechnen. Damit sollte Arbeitnehmern Gerechtigkeit widerfahren, die ohne eigenes Verschulden ihren Job verlieren.

Nun aber alles in Ordnung – oder?

Natürlich nicht, wenn man weiß, dass in der Juristerei der Teufel seine Heimat gefunden hat. In den jeweiligen Tiefen und Untiefen der semantischen Detaillierung. Die Rentenversicherung musste die gesetzgeberische Vorgabe der Ausnahme konkretisieren und hat das dann in den Arbeitsanweisungen so gemacht: Eine „vollständige Geschäftsaufgabe“ ist danach nur gegeben, wenn Unternehmen „ihre gesamte Betriebstätigkeit auf Dauer einstellen“, nicht aber, wenn lediglich einzelne Unternehmensteile stillgelegt werden.

In der damaligen Zeit war gerade die mittlerweile vollzogene Schließung des Opel-Werks in Bochum auf der Tagesordnung (die Produktion im Werk Bochum wurde im Dezember 2014 nach 52 Jahren Fahrzeugproduktion eingestellt, vgl. hierzu Opel beendet Autoproduktion in Bochum). Und an dem Beispiel kann man das Problem mit der (eingeschränkten) Ausnahmeregelung illustrieren, was Stefan Sauer in seinem Artikel Gewerkschaften bereiten Klage gegen Rente mit 63 vor gemacht hat:

»Opel-Mitarbeiter, die mit der Schließung des Werks in Bochum ihre Stellen verloren, würden bei der Beitragszeitanrechnung benachteiligt, weil zwar ihr Werk, aber nicht Opel als ganzes Unternehmen dicht gemacht wurde. Dabei ist unstrittig, dass die Bochumer Opelaner den Jobverlust gewiss nicht willentlich herbeiführen oder auch nur beeinflussen konnten. Sie sind ebenso schuldlos an ihrer Arbeitslosigkeit wie zum Beispiel Kollegen eines Zuliefererbetriebs, die aufgrund der Opel-Werksschließung ihren Job verlieren. Ginge ihr Betrieb pleite,  würde ihnen aber die Arbeitslosigkeit vor Rentenantritt angerechnet. Plausibel ist das nicht.«

Fakt ist: Arbeitnehmer, die ihren Job nicht freiwillig verlieren, werden höchst unterschiedlich behandelt, weil die Deutsche Rentenversicherung in ihren Arbeitsanweisungen den Willen des Gesetzgebers dergestalt konkretisiert, dass der Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe „eng auszulegen“ sei.

Zurück in die Gegenwart: In dem Beitrag Bundessozialgericht billigt Regelung für Rente ab 63 berichtet Thorsten Blaufelder über eine neue Entscheidung des BSG:

»Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat gegen die abschlagfreie Rente ab 63 für besonders langjährige Versicherte keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Es verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz, dass für den Rentenanspruch Zeiten der Arbeitslosigkeit in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nur ausnahmsweise bei Insolvenz oder Geschäftsaufgabe berücksichtigt werden, urteilte am Donnerstag, 17.08.2017, der 12. BSG-Senat (AZ: B 5 R 8/16 R und B 5 R 16/16 R).« (Anmerkung: Nach den Angaben des BSG handelt es sich tatsächlich nicht um den 12., sondern um den 5. Senat, so zumindest BSG, Terminbericht Nr. 39/17 vom 17.08.2017).

Konkret ging es um zwei Fälle, über die die Bundessozialrichter zu entscheiden hatten. Schauen wir uns die Sachverhalte aus dem realen Arbeits- und Versichertenleben einmal genauer an, man kann auch wieder viel lernen, wie komplex die sozialrechtliche Wirklichkeit sein kann. Dazu wieder ein Blick in den Beitrag von Thorsten Blaufelder:

Fall 1: »Im ersten vom BSG entschiedenen Fall ging es um einen Versicherten aus Niedersachsen, der im Alter von 62 Jahren die Kündigung erhielt. Der Arbeitgeber hatte diese mit einer drohenden Insolvenz begründet. Nur zwei Monate nach der Kündigung ging das Unternehmen auch tatsächlich pleite. Der Mann meldete sich arbeitslos und wollte nach Inkrafttreten der neuen Altersrente für besonders langjährige Versicherte mit 63 Jahren abschlagfrei in Rente gehen.

Der Rentenversicherungsträger lehnte den Antrag ab. Der Versicherte habe die 45 Beitragsjahre nicht erreicht. Die Arbeitslosigkeitszeit kurz vor Rentenbeginn könne nicht berücksichtigt werden. Ihm sei bereits vor Stellung des Insolvenzantrags gekündigt worden, so die Begründung. Damit fehlten ihm für die abschlagfreie Rente noch sieben Beitragsmonate.

Ohne Erfolg verwies der Kläger darauf, dass doch die Insolvenz gedroht habe und diese kurze Zeit später auch tatsächlich eingetreten war.«

Fall 2: »Auch im zweiten Fall wurde dem Kläger die abschlagfreie Rente ab 63 verwehrt, da Zeiten der Arbeitslosigkeit kurz vor Rentenbeginn nicht berücksichtigt wurden. Hier hatte der Kläger, ein früherer Autoverkäufer der Daimler AG, mit seinem Arbeitgeber aus gesundheitlichen Gründen einen Aufhebungsvertrag unterschrieben und war damit arbeitslos geworden.

Solch ein Grund der Arbeitslosigkeit müsse ebenfalls ausreichen, um bei den 45 Beitragsjahren berücksichtigt zu werden, so der Kläger. Er habe ja nicht freiwillig, sondern aus gesundheitlichen Gründen das Arbeitsverhältnis beendet. Dass nur Zeiten der Arbeitslosigkeit nach Insolvenz oder Geschäftsaufgabe, nicht aber vergleichbare Gründe berücksichtigt werden, sei willkürlich und stelle einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes dar. Der Gesetzgeber dürfe nicht Gleiches ungleich behandeln, betonte der vom Sozialverband VdK vertretene Kläger.«

Aber auch dieses Begehren wurde vom BSG zurückgewiesen. Nur bei Arbeitslosigkeit bedingt durch eine Insolvenz oder Geschäftsaufgabe sei eine Anrechnung auf die 45 zu erfüllenden Beitragsjahre möglich. »Maßgeblich sei hier die Stellung eines Insolvenzantrags. Allein eine drohende Insolvenz reiche nicht aus. Anderenfalls bestehe eine Missbrauchsgefahr. Arbeitgeber und Arbeitnehmer könnten die Insolvenzgefahr für eine abschlagsfreie Rente vortäuschen«, so der Hinweis bei Blaufelder.

Aber auch zur Frage nach einer – möglichen – Verfassungswidrigkeit äußern sich die Bundessozialrichter. Ausweislich BSG, Terminbericht Nr. 39/17 vom 17.08.2017 haben sie diese Position bezogen:

»Ein erweiterndes Verständnis der Norm in dem Sinn, dass jede unfreiwillige und unverschuldete Beendigung der Beschäftigung ausreichen könnte, ist mit deren Wortlaut und ihrem engen Ausnahmecharakter als Regelung allein aus der Sphäre des Arbeitgebers stammender bestimmter Gründe im Rahmen der Missbrauchsabwehr unvereinbar. Gegen dieses Verständnis bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken im Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG). Dem Gesetzgeber, dem es im Rahmen der gewährenden Staatstätigkeit frei stand, bestimmte Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen auf die 45‑jährige Wartezeit anzurechnen, war es ‑ vergleichbar der Rechtslage bei Stichtagsregelungen ‑ nicht verwehrt, von dieser Grundregel zur Verhinderung einer missbräuchlichen Frühverrentung für die letzten zwei Jahre vor Rentenbeginn Ausnahmen zu machen.«

Der unterlegene Kläger im Fall 2 hat bereits angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen. Er wird sich bestimmt motiviert fühlen zu diesem über Kassel und das BSG hinausreichenden Schritt aufgrund der Diskussionen über eine (mögliche) Verfassungswidrigkeit der Zugangsregelungen zur Rente mit 63, an der sich in der Vergangenheit auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages beteiligt haben.

Bereits 2014 hat der Wissenschaftliche Dienst diese Ausarbeitung veröffentlicht:

Die rollierende Stichtagsregelung für die Altersrente an besonders langjährig Versicherte. Zulässigkeit der Privilegierung der durch Insolvenz und vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingten Arbeitslosigkeit, WD 6 – 3000 – 133/14, 3. Juli 2014.

Darin findet man auf Seite 11 dieses Fazit:

»Die unterschiedliche Behandlung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld in den letzten zwei Jahren vor dem Beginn einer Altersrente an besonders langjährig Versicherte bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers einerseits und anderen zur Arbeitslosigkeit führenden Gründen andererseits gemäß § 51 Abs. 3a SGB VI dürfte wohl gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, da sie zwar aus anderen Gründen, aber ebenfalls unfreiwillig, beispielsweise aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung, arbeitslos gewordene Personen unverhältnismäßig stark benachteiligt. Eine abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bleibt dessen ungeachtet dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.«

Und 2016 meldete sich der Wissenschaftliche Dienst noch mal zu Wort:

Vollständige und teilweise Geschäftsaufgabe im Zusammenhang mit der Altersrente für besonders langjährig Versicherte, WD 6 – 3000 – 028/16, 11. Februar 2016

Darin ging es um den Prüfauftrag, ob die unterschiedliche Behandlung von vollständiger und teilweiser Geschäftsaufgabe im Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen für eine Altersrente an besonders langjährig Versicherte – der sogenannten Rente mit 63 – verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügt. Das Fazit dazu findet man auf der Seite 6 der Ausarbeitung:

»Wenn … bereits die unterschiedliche Behandlung von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers einerseits und anderen zur Arbeitslosigkeit führenden Gründen andererseits als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG angesehen und damit für verfassungswidrig gehalten wird, muss dies folgerichtig auch für den Fall einer nur teilweisen Geschäftsaufgabe gelten.

Aufgrund einer nur teilweisen Geschäftsaufgabe arbeitslos gewordener Personen werden durch die eine volle Geschäftsaufgabe voraussetzende gesetzliche Regelung unverhältnismäßig stark benachteiligt. Eine abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit muss dessen ungeachtet dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleiben.«

Wie immer auf hoher See und vor Gericht bedeutet die beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erkennbare Positionierung der Regelung als verfassungswidrig nicht zugleich, dass das Bundesverfassungsgericht das auch so sehen wird. Kann sein, muss aber nicht. Das Bundessozialgericht zumindest kann eine Verfassungswidrigkeit nicht erkennen, gesteht dem Gesetzgeber mal wieder einen weiten Gestaltungsspielraum zu – aber richtig überzeugend, warum das denn nun kein Verstoß ist gegen die Verfassung erschließt sich dem Leser nicht auf den ersten Blick. Also muss dann doch in Karlsruhe mal eine Entscheidung getroffen werden.

Wie gesagt – wie das ausgeht, steht in den Sternen. Es gibt allerdings durchaus skeptische Stimmen beim Blick nach Karlsruhe: Kaum Chancen für die Kläger, so ziemlich eindeutig hat Markus Grabitz bereits im Januar 2015 seinen Artikel dazu überschrieben. Darin führte er aus: »Beobachter gehen davon aus, dass eine Klage in Karlsruhe wenig Aussichten auf Erfolg hat. So hätten die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber im Sozialrecht traditionell einen hohen Gestaltungsspielraum eingeräumt. Es gebe so gut wie keine rentenpolitische Entscheidung, die jemals vom höchsten deutschen Gericht wieder gekippt worden sei. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass es für einige wenige Jahrgänge schon einmal die Möglichkeit gab, mit 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen. Dies war Anfang der 2000er Jahre. Seinerzeit habe es dagegen auch Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe gegeben. Bezeichnenderweise habe sich das höchste deutsche Gericht damals sogar geweigert, die Verfassungsbeschwerde auch nur anzunehmen.«

Warten wir also ab.

Foto: © Stefan Sell