Überall gibt es Azubi-Mangel-Alarm. Ein Märchen? Eine statistische Illusion?

Mittlerweile scheint sich ein großes Problem der vergangenen Jahre irgendwie verflüchtigt zu haben – der Mangel an Ausbildungsplätzen. Wurde man früher ständig konfrontiert mit der Suche nach zusätzlichen Ausbildungsplätzen, um die noch nicht „versorgten“ Jugendlichen doch noch in eine Berufsausbildung bekommen zu können, muss man heutzutage beim Blick in die meisten Medien den Eindruck gewinnen, dass das Problem ein ganz anderes geworden ist: Azubi-Mangel wird landauf landab proklamiert. Unternehmen klagen darüber, Ausbildungsstellen nicht mehr besetzen zu können, weil sie keiner mehr darauf bewirbt. Und auch die Meldungen aus der Bundesagentur für Arbeit klingen vielversprechend: »Die von Seiten der Kammern bislang vorliegenden Daten zu den 2016 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen sprechen für eine stabile Entwicklung. Nach den Angaben des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, des Handwerkskammertages sowie der Kammern der Freien Berufe wurden bis zum 30. September 2016 insgesamt 474.700 Ausbildungsverträge neu abgeschlossen. Das waren rund 200 mehr als vor einem Jahr.« Und der Blick von oben bringt beruhigende Erkenntnisse:

»Rein rechnerisch zeigten sich Angebot und Nachfrage am Ausbildungsmarkt ausgeglichen. So kamen bundesweit auf 100 gemeldete betriebliche Ausbildungsstellen 106 gemeldete Bewerber. Gegenüber dem Vorjahr hat sich auch diese Relation leicht verbessert (damals 110).«

So die Bundesagentur für Arbeit (BA) in ihrer Mitteilung Ausbildungsmarktbilanz 2015/2016: Günstige Entwicklung, aber weiterhin deutliche Ungleichgewichte, die aber ein „aber“ bereits in der Überschrift enthält. Dazu schreiben die Arbeitsverwalter: »Es bestehen aber weiterhin erhebliche regionale, berufsfachliche und qualifikatorische Ungleichgewichte … Regional betrachtet gab es in Bayern, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Baden-Württemberg und im Saarland deutlich mehr Ausbildungsstellen, als Bewerber gemeldet waren. Im Gegensatz dazu fehlten betriebliche Ausbildungsstellen vor allem in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen und in Niedersachsen.«

Und dann erfahren wir, was die angesprochenen Ungleichgewichte in Zahlen bedeuten:

»So waren am Ende des Berufsberatungsjahres 20.600 Bewerber noch unversorgt, etwa so viele wie vor einem Jahr … Damit blieben 4 Prozent der gemeldeten Bewerber ohne Ausbildungsstelle oder alternatives Angebot … Insgesamt 43.500 Ausbildungsstellen waren am 30. September 2016 noch unbesetzt. Gegenüber dem Vorjahr waren das 1.900 mehr. Besonders schwer zu besetzen waren zum Beispiel Ausbildungsstellen im Lebensmittelverkauf, in der Gastronomie und Hotellerie, in Reinigungsberufen, im Bäcker- und Fleischerhandwerk, im Frisörhandwerk sowie in Bau- und Ausbauberufen.«

Nun wird der eine oder andere an dieser Stelle denken: Auch wenn jeder Einzelfall einer zu viel ist – aber bei Hunderttausenden junger Menschen sind doch 20.600 Bewerber, die noch „unversorgt“ geblieben sind, nicht wirklich viel und damit auch kein Grund zur Besorgnis. Dann doch eher die 43.500 Ausbildungsplätze, die von den Arbeitgebern nicht mit lebenden Azubis besetzt werden konnten.

Aber ist das so?

Die Zweifler werden sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlen, wenn sie dann auf solche Headlines stoßen: Das Märchen vom Azubi-Mangel: »Es gibt mehr freie Lehrstellen als Bewerber, der Ausbildungsmarkt ist extrem entspannt – das legen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit nahe. Der DGB hat die Statistik überprüft. Das Ergebnis: alles falsch.«
Das ist starker Tobak.

Die Hauptthese des DGB sei, dass die offiziellen Zahlen der BA verschleiern, wie es wirklich ist. Schauen wir genauer hin.

Eine der Aussagen aus der Mitteilung der BA zum Ausbildungsmarkt lautet: Es gibt mehr freie Plätze als Bewerber. Aber stimmt das?

Zahlreiche Jugendliche ohne Ausbildungsplatz werden der DGB-Analyse zufolge gar nicht in den Daten berücksichtigt.

»Unstrittig ist demnach, dass rund 20.000 junge Bewerber in diesem Jahr weder eine Lehrstelle noch eine Ersatzmaßnahme abbekommen hätten. Sie seien nach den BA-Zahlen offiziell „unversorgt“. Die Agentur zähle hier aber nur diejenigen mit, die als „ausbildungsreif“ gelten. Die anderen fielen unter den Tisch.«

Und dann kommt nach was oben drauf:

»Zehntausende Jugendliche, die zwar formal ausbildungsreif sind, aber trotzdem noch keine Lehrstelle haben, gelten nach den BA-Zahlen als „versorgt“. Dabei hängen sie in einer Art Warteschleife, weil sie etwa Praktika oder berufsvorbereitende Maßnahmen absolvieren.«

Wir haben noch die 20.000 „unversorgten“ jungen Menschen im Kopf. Aber die DGB-Bilanz sieht ganz anders aus: Rund 283.000 Jugendliche, die von der Bundesagentur für Arbeit als ausbildungsreif eingestuft wurden, hätten keinen Ausbildungsplatz bekommen.
„Die Mehrheit von ihnen wird in Ersatzmaßnahmen geparkt“, so Elke Hannack, stellvertretende Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes (DGB).

Bereits am 4. März 2016 wurde in dem Beitrag Wie viele junge Menschen sind 2015 wo im Ausbildungssystem gelandet? Neue Daten aus der Integrierten Ausbildungsberichterstattung darauf hingewiesen, dass entgegen der landläufigen Berichterstattung vom Azubi-Mangel das sogenannte „Übergangssystem“, in dem die Jugendliche teilweise geparkt werden, bereits 2015 wieder angewachsen ist – nach einer mehrjährigen Phase des Rückgangs: »Ein besonders auffälliger Befund mit Blick auf das vergangene Jahr ist der Anstieg der Zahl der jungen Menschen, die in das „Übergangssystem“ eingetreten sind – über 7 Prozent mehr im Vergleich zu 2014. Insgesamt waren das 270.783 Personen. Dabei waren die Jahre bis 2014 von einem kontinuierlichen Rückgang geprägt: 2005 hatte es noch 417.600 Anfängerinnen und Anfänger im Übergangsbereich gegeben. Seither ist ihre Zahl bis 2014 kontinuierlich auf 252.700 gesunken.«

Wer die statistische Analyse des DGB im Original einsehen möchte, der wird hier fündig:

Matthias Anbuhl: „Keine geeigneten Bewerber? – Wie die öffentliche Ausbildungsstatistik die Lage auf dem Ausbildungsmarkt verschleiert“. DGB-Kurzanalyse der BA-Statistik für das Ausbildungsjahr 2016, Berlin: DGB Bundesvorstand, Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit, 02.11.2016

Dort findet man diese Zusammenfassung: Die »Statistik zeigt, dass insgesamt 283.281 junge Menschen, die im Laufe des Berichtsjahres 2016 ein ernsthaftes Interesse an einer Ausbildung hatten – und als „ausbildungsreif“ deklariert wurden – ohne Ausbildungsplatz geblieben sind. Viele von ihnen wurden in Ersatzmaßnahmen geparkt. Dem stehen 43.478 offene Ausbildungsplätze gegenüber.
Die These, dass es in Deutschland mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber gibt, ist schlicht falsch.«

Allerdings sollte man aus der Analyse auch nicht schlussfolgern, dass es keine Probleme gibt oder das alles ein Märchen sei. Denn sowohl die eine Seite – also die Proklamation eines „Azubi-Mangels“ – wie auch die andere – also die rechnerische Widerlegung – leiden darunter, dass sie aus der jeweiligen Vogelperspektive auf ein überaus heterogenes und dann auch noch räumlich ganz erheblich begrenztes Geschehen blicken. Vor Ort findet man zahlreiche Passungsprobleme zwischen dem Angebot und der Nachfrage. Das manifestiert sich in bestimmten Berufen bzw. Tätigkeitsfelder wie dem Hotel- und Gaststättenbereich (wo man auch im nachgelagerten Bereich der Arbeitskräfte erhebliche Personalbeschaffungsprobleme hat) oder in bestimmten handwerklichen Berufen. Das kann sicher mit den schlechten oder von vielen als schwierig bewerteten Arbeitsbedingungen zu tun haben. Aber auch das gehört zur Wahrheit: Manche Jugendliche haben erhebliche Probleme nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch auf der Verhaltensebene, die es selbst gutmütigen und offenen Arbeitgebern schwer machen, diesen jungen Menschen eine Ausbildungsmöglichkeit zu eröffnen.

Während sich Jugendliche in Süddeutschland vielerorts tatsächlich Ausbildungsplätze aussuchen können, wenn sie halbwegs laufen können, ist das in Regionen wie dem Ruhrgebiet ganz anders, dort finden selbst junge Menschen mit einem ordentlichen Schulabschluss und vorhandener Motivation häufig keine Lehrstelle, weil es einen quantitativen Mangel gibt. Rechnerisch ließe sich das sicher ausgleichen, wenn man die Bundeszahlen betrachtet, aber dann müsste man eine sehr umfangreiche Kinderlandverschickung organisieren.

Hinzu kommt – und das sollte nicht unterschätzt werden – eine weiterhin durchaus sehr eingeschränkte und dann auch noch geschlechtsspezifische Wahl der Ausbildungsberufe, wobei gerade die jungen Frauen immer noch Berufe wählen, von denen man nicht wird leben können oder nur unter sehr restriktiven Bedingungen.

Es ist halt alles nicht so einfach im wirklichen Leben jenseits der Zahlen.