Alles unter einem Dach im Jobcenter: Vermuten, ermitteln, bestrafen. Zur Potenzierung der Asymmetrie zwischen angeblichen „Kunden“ und der Behörde

Die höchst kontroverse Diskussion über die Arbeit der Jobcenter wird immer wieder mit Hinweisen bzw. Vorwürfen angereichert, dass die enorme Asymmetrie zwischen der Behörde auf der einen Seite und den euphemistisch, aber nicht zutreffend „Kunden“ genannten Leistungsberechtigten auf der anderen ein eigener Belastungsfaktor sei, der zu vielen Konfrontationen beiträgt, da sich ein Teil der hilfesuchenden Menschen „in die Mangel“ genommen fühlt. Und die den Eindruck haben, sich nicht wirklich wehren zu können gegen vermeintliche oder tatsächliche Übergriffigkeit der anderen Seite. Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es hier um Leistungen geht, die das Existenzminimum sicherstellen sollen und die nicht m entferntesten üppig bemessen sind. Die „Kunden“ müssen sich völlig nackt machen was ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse angeht, handelt es sich doch um eine bedürftigkeitsabhängige Leistung und die Bedürftigkeit muss bis ins kleinste Detail ausgemessen und amtlich testiert werden. Legendär sind die Beispiele, was alles als Einkommenszufluss angerechnet werden muss und in der Folge den Leistungsanspruch mindert. Und wehe, es wird etwas nicht angegeben – auch, wenn dahinter gar keine betrügerische oder vorsätzliche Absicht steht.

Um voll durchgreifen zu können, benötigt die andere Seite der „Kunden“ repressive Instrumente, mit denen sie „ihre“ Ansprüche bzw. Vorstellungen auch durchsetzen kann. Dazu gibt es im hier relevanten Gesetz, dem SGB II, nicht nur umfangreiche Vorschriften, in denen geregelt ist, wann und was die Betroffenen (und auch Menschen um sie herum) gegenüber der Behörde anzugeben haben, sondern mit den §§ 63 und 64 SGB II auch ein eigenes Regelwerk unter der Überschrift „Straf- und Bußgeldvorschriften“ sowie „Bekämpfung von Leistungsmissbrauch“. Und die haben es im Zusammenspiel mit den – übrigens im Zuge der vor kurzem verabschiedeten SGB II-Änderungen nochmals verschärften – Mitwirkungspflichten in sich.

Zu diesem Regelwerk hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) nun neue Fachliche Weisungen – Das Bußgeldverfahren im SGB II herausgegeben, die offensichtlich aus der Zukunft gekommen sind, denn sie sind auf den 20. Oktober 2016 vorausdatiert, aber heute schon lesbar. Susan Bonath hat dies zum Anlass genommen, in ihrem sehr kritischen Artikel Ermitteln auf Verdacht einmal genauer hinzuschauen.

Es handelt sich um immerhin um eine 75 Seiten umfassende Handreichung, um akribisch und rigide alle möglichen Verfehlungen der „Kunden“ aufspüren und verfolgen zu können. Und das betrifft nicht nur die Hilfesuchenden selbst, sondern auch Menschen, die sicher oder vermutlich in einer finanziellen Beziehung zu ihnen stehen.

Und um die Maschine anzuwerfen, genügt der Vorwurf einer „mangelhaften Mitwirkung“. Die dann gegeben ist, wenn man sich – ob tatsächlich einen Missbrauchstatbestand begründend mutwillig oder vielleicht aus anderen Gründen ausgelöst – nicht vollständig und ohne Verzögerung den definierten Informations-, Auskunfts- und Nachweiserbringungspflichten der Behörde unterwirft.

Und Bonath weist in ihrem Artikel auf eine ganz besondere Eigentümlichkeit hin, die angesichts der sowieso schon gegebenen Asymmetrie zwischen den „Kunden“ und der Behörden durchaus als problematisch gewertet werden kann:

»Bemerkenswert ist, dass alles in einem Haus passiert: Sowohl die »Feststellung« des Verdachts, »ordnungswidrig« gehandelt zu haben, als auch weitere »Ermittlungen« und die Festsetzung der Geldbuße obliegen dem Jobcenter.«

Die Weisungen der BA formulieren den Anspruch, dass die für die einzelnen Hartz IV-Empfänger zuständigen Sachbearbeiter »Verdachtsfälle« erkennen und an die hausinterne Bearbeitungsstelle für Ordnungswidrigkeiten (OWi) weiterleiten. Diese OWi-Stelle soll dann mit den Unterlagen des Klienten sowie monatlichen automatischen Datenabgleichen gefüttert werden. Dabei geht es um  Konto- und Meldedaten sowie Geld- oder Postverkehre mit externen Behörden.

Und die BA stellt in ihren Fachlichen Weisungen klar, mit wem man es hier zu tun hat:

»Die in einem OWi-Fall ermittelnden Sachbearbeiter/-innen oder Fachassistentinnen/Fachassistenten besitzen weitgehend dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten.« (BA 2016: 3)

Sie sollen sich an deren Vorschriften, etwa der Strafprozessordnung, orientieren. Ausgenommen seien „lediglich schwere Eingriffe, wie freiheitsentziehende Maßnahmen“ (BA 2016: 4).

Die bereits angesprochene erhebliche Asymmetrie zwischen den einen und den anderen wird auch an diesem Punkt erkennbar, auf den Bonath hinweist:

»Selbst wenn am Ende das Bußgeldverfahren eingestellt wird, so geht weiter aus der Weisung hervor, habe der Betroffene, obwohl »rehabilitiert«, seine Auslagen, etwa für einen Rechtsanwalt, selbst zu tragen. Nur auf Antrag könne das Jobcenter nach eigenem Gutdünken entscheiden, ob die Staatskasse doch dafür aufkommen könnte.«

Nach § 63 SGB II wird mit einem Bußgeld bis zu 5.000 Euro bestraft, wer „vorsätzlich oder fahrlässig“ eine vom Jobcenter geforderte Auskunft über persönliche Verhältnisse „nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig“ erteilt oder in gleicher Weise nicht einer Befragung von Dritten durch die Behörde zustimmt. Der letztgenannte Punkt ist mit dem kürzlich verabschiedeten 9. SGB II-Änderungsgesetz eingebaut worden.

Auch die sogenannten „Dritten“ können ganz erhebliche Probleme bekommen: Arbeitgeber zum Beispiel müssen mit bis zu 2.000 Euro Geldbuße rechnen, wenn sie von der BA verlangte Auskünfte über aufstockende oder ehemals aufstockende Beschäftigte vollständig oder teilweise verweigern. Sie sind demnach etwa verpflichtet, Einkommensnachweise für das Jobcenters auszufüllen.

Schaut man in das Gesetz, dann geht das sehr weit. Im § 60 SGB II, der die „Auskunftspflicht und Mitwirkungspflicht Dritter“ regelt, findet man diesen Absatz 5:

(5) Wer jemanden, der Leistungen nach diesem Buch beantragt hat, bezieht oder bezogen hat, beschäftigt, hat der Agentur für Arbeit auf Verlangen Einsicht in Geschäftsbücher, Geschäftsunterlagen und Belege sowie in Listen, Entgeltverzeichnisse und Entgeltbelege für Heimarbeiterinnen oder Heimarbeiter zu gewähren, soweit es zur Durchführung der Aufgaben nach diesem Buch erforderlich ist.

Mit der Möglichkeit eines Bußgeldverfahrens werden auch Träger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die zum Beispiel Ein-Euro-Jobber beschäftigen, konfrontiert, wenn diese Auskünfte über den Betroffenen verschweigen oder sich weigern, der BA Einblick in ihre Bücher und sonstigen Unterlagen zu gewähren.

Mit Blick auf die eingangs vorgetragene Skepsis gegenüber der ausgeprägten Asymmetrie zwischen den „Kunden“ und der Behörde und das in einem Bereich der Existenzsicherung, muss gesehen werden, dass es eben nicht um unumstößlich mess- und prüfbare Fakten geht, sondern eine „mangelhafte Mitwirkung“ ist immer auch Auslegungssache und damit auch ein mögliches Einfallstor für Willkür.

Und die geht leider oftmals zuungunsten der schwächsten Glieder der Kette aus (und im Ergebnis zugunsten der wirklichen missbräuchlich Leistungen inanspruchnehmenden Hartz IV-Empfänger).

Der abschließende Blick richtet sich auf ein benachbartes Feld, wo sich die Asymmetrie besonders markant ausformt: die Sanktionen im SGB II, also der teilweise bis hin zum völligen Entzug der eigentlich das Existenzminimum sicherstellenden Leistungen.
So wurden beispielsweise zwischen Mai 2015 und Mai 2016 insgesamt 940.000 Sanktionen mit Leistungskürzungen verhängt, davon der allergrößte Teil, 721.000, wegen „Meldeversäumnissen“. Das, woran die meisten Bürger denken, nämlich die Weigerung, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, war in 73.000 Fällen Auslöser der Sanktion, also lediglich in 7,7 Prozent der Fälle.
Und in diesem hochgradig asymmetrischen Feld muss man durchaus von Willküreffekten des Verwaltungshandelns ausgehen.

Was in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden soll, sind die Befunde aus einer neuen Studie (die im Original hier publiziert wurde: Franz Zahradnik et al.: Wenig gebildet, viel sanktioniert? Zur Selektivität von Sanktionen in der Grundsicherung des SGB II, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2/2016). Sanktionen treffen die Schwächsten, so ist ein Artikel überschrieben, der über diese Studie berichtet:

Neue Befunde des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) „deuten nun darauf hin, dass die Sanktionsregeln nur formal für alle gleich sind“. Die IAB-Forscher stützen sich dabei auf Statistiken der Arbeitsagentur. In einer quantitativen Analyse zeigen sie, dass Hartz-IV-Empfänger ohne oder mit niedrigem Schulabschluss häufiger sanktioniert werden als beispielsweise Abiturienten. Indem sie das Haushaltspanel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ hinzuziehen, können die Wissenschaftler außerdem nachweisen, dass dies nicht an mangelnder Arbeitsmotivation oder fehlender Konzessionsbereitschaft der Geringqualifizierten liegt. Sie werden ohne statistisch erkennbaren Grund häufiger sanktioniert.

Die Wissenschaftler meinen zeigen zu können, dass den Geringqualifizierten schlicht das nötige Know-how fehlt, um sich vor drohenden Sanktionen zu schützen.

Das Problem beginnt damit, dass sie oft die Regeln nicht richtig und vollständig verstehen. Zudem gelingt es ihnen schlechter, eine als subjektiv unzumutbar empfundene Maßnahme abzuwenden, weil sie sich nicht trauen, ihre eigenen Berufswünsche zu artikulieren und sich argumentativ dafür einzusetzen. Stattdessen sagen sie nichts – und besuchen den zugewiesenen Kurs einfach nicht. Auch von den rechtlichen Möglichkeiten, Sanktionen zu vermeiden, machen sie kaum Gebrauch. Oft wissen sie gar nicht, dass sie Entscheidungen der Vermittler anfechten können.

Die Forscher kommen daher zu dem Schluss, dass die Sanktionen in der Grundsicherung soziale Ungleichheit reproduzieren. Sie empfehlen, die Befunde künftig bei der Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte in den Jobcentern zu berücksichtigen und die Sanktionsregeln generell zu entschärfen.

Hartz IV: Wie viel mehr sollten es denn sein müssen oder dürfen? Der Streit um die (Nicht-)Erhöhung der Regelbedarfe im SGB II

Das ist schon eine ordentliche Spanne: Die einen sagen, gar keine Erhöhung (für die Kleinsten) und ein Plus von vier bzw. fünf Euro für die Großen sei in Ordnung, die anderen fordern 111 Euro mehr als heute bei den Alleinstehenden. Was für ein Zahlensalat. Mit handfesten Konsequenzen für Millionen Menschen, die jeden Euro umdrehen müssen.

Es geht um die Anpassung der Regelsätze in der Grundsicherung und hierzu hat die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 29.08.2016) vorgelegt. Darin enthalten ist beispielsweise die Ansage, dass die ganz Kleinen im Hartz IV-System, also Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres, im kommenden Jahr keinen Cent mehr bekommen sollen. Darüber wurde hier bereits berichtet am 31. August 2016: Ältere Kinder essen einfach mehr als jüngere und die ganz Kleinen haben genug? Zur Anhebung der Hartz IV-Regelsätze 2017.

Die Neuermittlung der Regelbedarfe auf der Basis der nunmehr ausgewerteten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) aus dem Jahr 2013 ist (nicht nur) bei den Sozialverbänden auf teilweise erhebliche Kritik gestoßen.

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Hartz IV: Die „Aufstocker“ zwischen großen Zahlen und interessanten Verschiebungen

Das umgangssprachlich als Hartz IV bezeichnete Grundsicherungssystem ist ein höchst komplexes und hinsichtlich der sich dort befindlichen Personen äußerst heterogenes System, das sich nicht auf Arbeitslose reduzieren lässt – was allerdings in der Berichterstattung und auch im Bewusstsein der Bürger oftmals passiert. Hartz IV-Empfänger = Arbeitslose. Aber allein die Differenz zwischen der monatlich aus Nürnberg verkündeten Zahl der (registrierten) Arbeitslosen, selbst unter Berücksichtigung der „Unterbeschäftigung, zu der Anzahl der Hartz IV-Empfänger verdeutlicht, dass es offensichtlich so ist, dass zahlreiche Menschen im SGB II-Bezug sind, nicht aber als Arbeitslose geführt werden und auch oft nicht sind. Man kann sich das an den offiziellen Zahlen für den Juni 2016 veranschaulichen: In diesem Monat wurden 1,86 Millionen Arbeitslose im Rechtskreis SGB II ausgewiesen, aber insgesamt 6,24 Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften, die Hartz IV-Leistungen bezogen haben. Eine gewaltige Differenz.

Eine Gruppe in der Zwischenwelt von Arbeitslosigkeit und Erwerbsarbeit sind die „Aufstocker“, also Menschen, die Einkommen aus Erwerbstätigkeit haben, aber dennoch – oder weil es so niedrig ist, deswegen – Anspruch auf ergänzende Leistungen vom Jobcenter haben. Sporadisch tauchen diese „Aufstocker“ in der Medienberichterstattung auf: Mehr als eine Million beziehen Hartz IV trotz Arbeit, so ist beispielsweise eine Meldung von heute überschrieben. Und das löst bei vielen Menschen, die sich nur am Rande mit der Materie beschäftigen, bestimmte Assoziationen aus, die nicht unproblematisch sind für die Bewertung sind: Also die Vorstellung, man geht einer „normalen“ Erwerbsarbeit nach (was viele Menschen ob bewusst oder unbewusst mit einem Vollzeitjob verbinden) – und dann liest oder hört man, dass die Menschen so wenig verdienen, dass sie trotzdem noch Hartz IV-Leistungen bekommen. Da nun lohnt ein genauerer Blick auf die tatsächlichen Zusammenhänge.

Schauen wir uns zuerst die heutige Berichterstattung an:

»Hunderttausende Menschen in Deutschland sind trotz Arbeit auf Hartz IV angewiesen. So wurden im vergangenen Jahr fast zehn Milliarden Euro an sogenannte Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen gezahlt … Der Wert schwankte in den vergangenen acht Jahren zwischen 9 und 10,4 Milliarden Euro … 2015 gab es durchschnittlich 1,03 Millionen Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen. Seit Jahren liegt der Wert über eine Million. In den Jahren von 2007 bis 2015 wurden insgesamt 87,5 Milliarden Euro an Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem abhängigen Erwerbstätigen gezahlt.«

Seit Jahren werden über eine Million Menschen als Aufstocker gezählt. Allerdings sinkt die Zahl langsam und 2015 durchaus erkennbar. Im vergangenen Jahr wurden 1,13 Mio. Aufstocker von der BA ausgewiesen, die einer abhängigen Beschäftigung nachgegangen sind und daraus Einkommen erwirtschaftet haben.

Der entscheidende Punkt ist nun: Es gibt solche und andere Erwerbsarbeit. Schaut man sich die Daten für die zurückliegenden drei Jahre an hinsichtlich der unterschiedlichen Formen der Erwerbstätigkeit (vgl. auch die Abbildung), dann erkennt man zum einen, dass nur eine kleine Gruppe der Aufstocker Menschen sind, die einer Vollzeitarbeit nachgehen. 2015 waren das knapp 200.000 und ihre Zahl hat gegenüber dem Vorjahr um 7 Prozent abgenommen.

Immer noch die größte Aufstockergruppe sind die ausschließlich geringfügig Beschäftigten mit 429.000 im vergangenen Jahr. Aber deren Zahl hat ebenfalls abgenommen – um kräftige 11 Prozent.

Um 5 Prozent angestiegen ist nur eine Gruppe – die der sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigten. Das sind im vergangenen Jahr mehr als 384.000 gewesen.

Eine übrigens seit Jahren höchst stabile Gruppe von etwa 120.000 Aufstocken sind Selbständige, deren Einnahmen so niedrig sind, dass sie ergänzende SGB II-Leistungen in Anspruch nehmen können.

Die hier skizzierten Verschiebungen sind durchaus von Bedeutung angesichts der Tatsache, dass ja Anfang 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt worden ist. Auch heute konnte man wieder die These hören, dass der offensichtlich nicht geholfen hat, die Aufstockerei zu verringern, was im Vorfeld der Einführung dieser Lohnuntergrenze von einigen als ein Argument vorgetragen wurde.

Das nun stimmt so nicht, zum anderen aber sollte man mögliche Effekte des Mindestlohns auch nicht zu hoch einschätzen, denn das kann dieses Instrument per se gar nicht leisten (vgl. dazu auch Die Aufstocker im Hartz IV-System: Milliardenschwere Subventionierung der Niedrigeinkommen und die (Nicht-)Lösung durch den gesetzlichen Mindestlohn vom 15. Januar 2016).

Zum einen kann man durchaus einen Effekt des Mindestlohns erkennen – und zwar hinsichtlich der beschriebenen Verschiebungen innerhalb der Gruppe der Aufstocker. Vereinfacht gesagt verlieren die Minijobs, die in der Vergangenheit mit Abstand die größte Gruppe gestellt haben, an Bedeutung und das hängt mit dem Mindestlohn in vielen Fällen schon zusammen. Denn der gilt auch für die Minijobs und das hat die geringfügige Beschäftigung für die Arbeitgeber deutlich verteuert, gerade in diesem Bereich hat man früher – auch wegen der Brutto=Netto-Mechanik für die Arbeitnehmer – Löhne von 5 oder 6 Euro zahlen können. Das geht nun nicht mehr, wenn man sich an das Regelwerk hält. In der Folge sind einige Minijobs schlichtweg weggefallen, andere hingegen wurden umgewandelt in sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung (vgl. dazu bereits den Beitrag Mehr Hartz IV-Aufstocker trotz Mindestlohn, immer weniger Aufstocker in Berlin – ein (scheinbares) Durcheinander vom 4. Mai 2016).

Und auch der erkennbare Rückgang der Zahl der vollzeitbeschäftigten Aufstocker kann durchaus im Zusammenhang mit dem Mindestlohn gelesen werden.

Gegen eine von einigen erwartete und erhoffte deutliche Reduktion der Aufstockerei durch den Mindestlohn sprechen vor allem zwei grundsätzliche Effekte:

  • Zum einen ist die ganz überwiegende Zahl der Aufstocker mit einem geringen Arbeitszeitvolumen unterwegs. Hier müsste der Mindestlohn in sehr hohen Sphären angesiedelt sein, um aus einer Teilzeitarbeit ein auskömmliches Einkommen zu machen. Mit einem Minijob wird man kaum aus der Bedürftigkeit herauskommen können. Dieser Sprung gelingt angesichts der Höhe der Lohnuntergrenze nur Alleinstehenden, die Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten (und selbst das nicht in allen Regionen, wenn man die Kaufkraft berücksichtigt).
  • Zum anderen sind viele Aufstocker deshalb in der Situation, dass sie ergänzende Leistungen in Anspruch nehmen, weil sie in einer Bedarfsgemeinschaft leben und sich die Hartz IV-Leistungen immer auf die Bedarfsgemeinschaft beziehen. Angesichts der Defizite hinsichtlich der Leistungen für Kinder könnte jemand auch mit einem höheren als dem derzeitigen Mindestlohn gar nicht aus der Bedürftigkeit seiner Bedarfsgemeinschaft herauskommen.

Die Aufstocker sind nun nicht gleichverteilt über alle Bereiche der Wirtschaft. Sie konzentrieren sich in bestimmten Branchen:

  • Der Anteil der Aufstocker an allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen belief sich am Jahresende 2015 auf 1,9 Prozent (dabei 1,6 Prozent in Westdeutschland und 3,2 Prozent in Ostdeutschland). Das ist aber nur der Durchschnitt über alle Wirtschaftszweige. Am oberen Ende der Skala finden wir – nicht überraschend – drei Branchen: Reinigungsdienste mit einem Anteil von 12 Prozent, Gastgewerbe mit 7,7 Prozent und die Leiharbeit mit 5,7 Prozent.
  • Der Anteil der Aufstocker an allen ausschließlich geringfügig Beschäftigten belief sich auf 10,5 Prozent (8,8 Prozent in Westdeutschland und 22,2 Prozent in Ostdeutschland). Auch hier waren die Reinigungsdienste mit 18,2 Prozent und das Gastgewerbe mit 15,8 Prozent die beiden Spitzenreiter, dicht gefolgt von Verkehr und Lagerei mit 15 Prozent.

Zusammenfassend: Die Zahl der Aufstocker geht langsam zurück und damit auch die Anteile an allen Beschäftigten. Der Staat muss weniger Geld für Aufstocker aufbringen (vgl. zu diesem Aspekt den Beitrag Nach Mindestlohn-Einführung: Aufstocker kosten den Staat 300 Millionen Euro weniger) und die Art der Arbeitsverhältnisse hat sich verschoben. Weniger Minijobs, mehr in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit beschäftigte Aufstocker.

Sowohl bei den Minijobbern als auch bei den sozialversicherungspflichtigen Aufstockern sind Reinigungsdienste und Gastgewerbe weiterhin die Branchen mit den höchsten Aufstocker-Anteilen.