Wenn Hartz IV bedarfsgemeinschaftlich „ansteckend“ wird – aber nicht für jeden. Nachtrag zur Kommentierung der neuen Hartz IV-Entscheidung des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht hatte mit Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11 wieder einmal ein „Hartz IV-Urteil“ gesprochen. Es geht um die Einkommensanrechnung in einer „Bedarfsgemeinschaft“ eines Vaters mit einer Erwerbsunfähigkeitsrente, der seinen bedürftigen Sohn bei sich in der Wohnung aufgenommen hat. Diese sei rechtmäßig und auch der abgesenkte Regelbedarf des noch nicht 25 Jahre alten Sohnes ebenfalls. Der Beschluss und die dort vorgenommene Argumentation wurde bereits in einer ersten Kommentierung auf dieser Seite kritisch unter die Lupe genommen: Das Bundesverfassungsgericht fordert elterlich-monetäre Solidarität mit den Kindern und fördert zugleich die Auflösung der familiären Bande? Ein Kommentar zum Beschluss 1 BvR 371/11 vom 7. September 2016.

Bevor der Staat Hartz IV nach den Regeln des SGB II zahlt, erzwingt er die Unterstützung von Partner und Familie – wenn alle in einem Haushalt leben. Dass das BVerfG diesen Tatbestand für rechtens erklärt hat, ist wenig überraschend – es segnet damit nur die gängige Praxis ab. Also grundsätzlich, aber eben nicht immer, worauf in der ersten Kommentierung bereits angewiesen wurde, denn vereinfachend und zuspitzend formuliert gilt das nur für die „gutmütigen“ Familien, nicht aber für die – ob faktisch oder nur auf dem Papier – „zerrütteten“ und auch die gut bestückten eigentlichen Bedarfsgemeinschaften können sich der Verpflichtung mehr oder weniger elegant entziehen.

In der ersten Kommentierung wurde mit Blick auf die differenzierte Argumentation der Verfassungsrichter zusammenfassend bilanziert:

»Wenn man die niedrigeren Leistungen für das volljährige Kind und die Anrechnung elterlichen Einkommens nicht schlucken will, wird man gezwungen sein, die gerade erst wieder vom BVerfG abgesegneten elterlich-monetären Fürsorgebande zu durchtrennen über eine (reale? simulierte?) familale Zerrüttung, deren Existenz oder Behauptung ja auch in den Augen der Verfassungsrichter dazu führt, dass die Kinder nicht mehr Bestandteil der Bedarfsgemeinschaft sein können. Wie sich dann die „zerrüttete“ Familie in der Wirklichkeit verhält, kann von Alpha bis Omega reichen und entzieht sich übrigens im Fall der nur auf dem Papier bestehenden Zerrüttung und des faktischen Zusammenhaltens und -wirtschaftens der eigentlich damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen, die nun ja auch durch das BVerfG abgesegnet worden sind. Mithin, so die nur auf den ersten Blick irritierende Zuspitzung, leistet der Beschluss des BVerfG einen aktiven Beitrag zur Auflösung der ansonsten verfassungsrechtlich so hoch gehaltenen familiären Bande.

Die offensichtlich erkennbare Malaise kann so formuliert werden: Wenn man sich dem doppelten Druck der a) Einkommensanrechnung bei den Eltern (was andere Erwachsene nicht haben) und b) dem auf 80 Prozent abgesenkten Regelbedarf (der niedriger liegt als bei den anderen Erwachsenen) entziehen will/muss, dann ist man gezwungen, die Situation einer Verweigerung der elterlichen Solidarität herbeizuführen oder – seien wir realistisch – zumindest eine solche zu simulieren. Dass die Ehrlichen wieder einmal die – vom Ergebnis her gesehen – Dummen sind, sei hier nur angemerkt.«

Gernot Kramper hat nun in seinem Kommentar diesen Aspekt und weiterführende Gedanken aufgenommen und unter der Überschrift Hartz-IV-Urteil – jetzt wird Armut ansteckend veröffentlicht.

Auch Kramper geht in seinen Ausführungen auf den Entstehungshintergrund der jetzigen Rechtslage ein, die mit der Einführung des SGB II und der damit verbundenen Ablösung der bis dahin geltenden Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes verbunden waren und die man durchaus als Paradigmenwechsel bezeichnen muss, denn bis zum SGB II gab es ein Rückgriffsrecht des Sozialamtes bei Bedürftigkeit eines – auch erwachsenen – Kindes gegenüber den unterhaltsverpflichteten Eltern. Man hat sich, wenn was zu holen war, das Geld bei den Eltern wieder geholt und diese in die Pflicht genommen. Das wurde – eigentlich – mit dem SGB II abgeschafft bei den erwachsenen Kindern. Aber eben nur eigentlich, wie auch Kramper anmerkt:

»Mit der Agenda 2010 fand die Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) 2005 einen cleveren, doch perfiden Dreh, die Unterhaltspflicht in der Theorie fallen zu lassen und in der Praxis noch zu verschärfen. Und das ging in etwa so: „Wir wissen, dass ihr keinen Unterhalt zahlen müsst. Aber wenn wir den Bedarf des Hartzers berechnen, rechnen wir euch trotzdem mit ein. Der kriegt einfach weniger vom Staat. Ihr werdet ihn ja nicht verhungern lassen.“ Bedarfsgemeinschaft nennt sich das Konstrukt der Schröder-Regierung. Und besonders toll: Beim Unterhalt von erwachsenen Kindern gab es immer strikte Höchstgrenzen, bei der Hartz-IV-Berechnung nicht. Hier wird so lange angerechnet, bis alle in der Bedarfsgemeinschaft auf Hartz-IV-Level sind.«

Und auch Kramper identifiziert den entscheidenden Punkt, auf den ich bereits in ersten Kommentar hingewiesen habe:

»Und der erfolgreiche Schutz vor Armut funktioniert genauso wie einst bei Lepra: Am besten meidet man jeden Kontakt zu den Befallenen. Im verhandelten Fall wurde der Vater nur Opfer seiner Gutmütigkeit und Naivität. Er war eben dumm, seinen Sohn weiter zu beherbergen. Hätte er ihn an die Luft gesetzt, wäre ihm eine Menge Ärger erspart geblieben.«

 Die Konsequenz daraus kann man mit Kramper durchaus als eine „sozial zersetzende Wirkung“ bezeichnen, denn: »Kam früher ein Familienmitglied in Not, war es der erste Impuls der Verwandten, ihm Obdach zu gewähren. Heute muss man sagen: Alles, nur das nicht! Ist der Arme erst einmal in der Wohnung, wird eine Bedarfsgemeinschaft vom Amt unterstellt und die Verwandten werden bis aufs Hemd ausgezogen. Eigeninitiative und Unterstützung von Verwandten ist schön und gut – aber mal Hand aufs Herz: Wer ist so großzügig, dass er selbst dauerhaft auf Sozialfall-Niveau absinken will?« Eine gute und notwendigerweise zu stellende Frage.

Aber Kramper geht in seiner Kritik auf eine weitere für die Lebenswirklichkeit wichtige Differenzierung ein, die hier herausgestellt werden soll: Die Inpflichtnahme der Eltern in einer Bedarfsgemeinschaft gilt – eigentlich – für alle, aber faktisch nur für die ärmeren Haushalte, wenn sie sich denn so verhalten, wie man es von ihnen erwartet, denn kann sind sie kaum bis gar nicht in der Lage, sich der Kollektivierung durch das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft zu entziehen: »Wer in seiner Mietwohnung mit drei Zimmern die Tochter mit Kind aufnimmt, die vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen ist, wird schnell auf die Bedarfsgemeinschaft festgenagelt. Eine Küche, ein Bad, ein Kühlschrank – da ist es schwer zu beweisen, dass man nicht aus einem Topf wirtschaftet.« Hier schlägt dann die Verbedarfsgemeinschaftlichtung voll durch.

Aber bei anderen Familien ist das anders und damit legt Kramper den Finger auf eine weitere Wunde der eben nicht von allen eingeforderten Beteiligung der Eltern an der Bedürftigkeit des Kindes:

»Nehmen Besserverdiener und Cleverle ihre mittellose Tochter mitsamt Enkel auf, haben sie tausend Möglichkeiten der Hartz-Haftung zu entgehen. Das geht, weil sie wirtschaftlich so beweglich sind, dass sie durch passende Gestaltung der Anrechnung für die Leistungen der Tochter leicht entgehen können. Etwa so: Sie vermieten der Tochter einfach die leer stehende Einliegerwohnung. Damit umgehen sie die Bedarfsgemeinschaft – keine gemeinsame Wohnung – und lassen sich ihre Hilfsbereitschaft noch vom Amt honorieren. Vielleicht nicht fair, aber raffiniert. Doch selbst, wenn das gut situierte Elternpaar keine Einliegerwohnung hat, muss man nicht verzweifeln. Der Klassiker: Mama und Papa mieten eine Wohnung am Markt und vermieten die Bleibe an Tochter und Enkel unter.«

Man erkennt schon an diesen wenigen Zeilen, was für Gestaltungsoptionen sich denen eröffnen, die haben und die im Ergebnis nichts abgeben müssen, während die anderen, die wenig haben, auch noch in die Mangel genommen werden, wenn sie sich den „Fehler“ erlauben, familiäre Solidarität zu praktizieren auch unter sehr prekären Bedingungen. Dazu bemerkt Kramper mit Blick auf die aktuelle Entscheidung des BVerfG: Der unterlegene Kläger soll dagegen von seiner kümmerlichen Erwerbsunfähigkeitsrente abgeben. Mit 615 Euro Rente habe er schließlich „hinreichende Mittel“ und müsse „zur Existenzsicherung seines Sohnes beitragen“.

Das Bundesverfassungsgericht fordert elterlich-monetäre Solidarität mit den Kindern und fördert zugleich die Auflösung der familiären Bande? Ein Kommentar zum Beschluss 1 BvR 371/11

Immer diese Grundsicherung. Das „Hartz IV“-System war und ist höchst umstritten. Für die einen sind die Leistungen zu niedrig, für die anderen zu hoch. Die einen wollen die Insassen des Systems noch mehr fordern, die anderen lieber fördern. Und die einen beklagen eine zunehmende Drangsalierung der Hilfeempfänger und Kleinkrämerei auf der Seite der Leistungen, die anderen wollen da noch eine Schippe rauflegen. Und nun erfahren wir von einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), mit dem eine Verfassungsbeschwerde verworfen wird. Die den Kernbereich der Familie berührt. Schauen wir genauer hin.

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Berücksichtigung von Einkommen eines Familienangehörigen bei der Gewährung von Grundsicherung, so ist die Mitteilung des BVerfG überschrieben, die sich auf den Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11 bezieht. Bei diesem Beschluss geht es wie – wie zu zeigen sein wird – nicht nur um eine leistungsrechtliche Frage im engeren Sinne, sondern darüber hinaus werden hier ganz grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die darauf hindeuten, dass das Grundsicherungssicherungssystem aufgrund seiner Konstruktionsprinzipien selbst an die logischen Grenzen der ehrenwerten Verfassungsrichter stoßen muss.

Wie immer in solchen Fällen sollte zuerst der Blick auf den Sachverhalt, über den die Richter entscheiden mussten, gerichtet werden. Um den konkreten Sachverhalt aber richtig einordnen zu können, sind einige wenige Vorbemerkungen angebracht:

Grundsätzlich ist das Hartz IV-System dadurch gekennzeichnet, dass es ausgeht vom individuellen Bedarf, dessen Deckung aber immer auch im Haushaltskontext gesehen wird. Der „einfachste“ Fall ist also ein alleinstehender Mensch, der bekommt seinen Regelbedarf (zur Zeit noch 404 Euro) und die angemessenen Kosten für die Unterkunft, wenn er sonst nichts hat. Wenn er weitere Einkünfte hat, dann werden die angerechnet auf die Leistung des Trägers der Grundsicherung.
Leben zwei Erwachsene zusammen, ob nun verheiratet oder nicht, dann bilden sie eine Bedarfsgemeinschaft, in der sich nicht selten auch Kinder befinden. Eine solche bilden sie nur dann nicht, wenn es wie bei einer WG eine getrennte Haushaltsführung gibt. Wenn zwei Erwachsene zusammenleben und beide haben einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, dann bekommen sie den Regelbedarf – aber nicht den vollen, also 2 x 404 Euro, sondern beide jeweils nur 90 Prozent (derzeit also 364 Euro).

Ein ganz wichtiger Punkt ist aber die Grundsatzentscheidung, die man hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren (volljährigen) Kindern getroffen hat, als das SGB II im Jahr 2005 Wirklichkeit wurde. In der alten Sozialhilfe nach dem BSHG war es so, dass das Sozialamt bei Bedürftigkeit immer auch auf die Unterhaltsverpflichtung der Eltern zurückgreifen konnte. Das hat sich mit dem SGB II dem Grunde nach geändert, denn nun kann ein junger Erwachsener bedürftig sein, auch wenn dessen Eltern über – wie auch immer definiert – genügend Einkommen verfügen. Aber eben nur dem Grunde nach, denn auch wenn wir uns in vielerlei Hinsicht an die Altersgrenze 18, mit der die Volljährigkeit verbunden ist, gewöhnt haben, ist im Grundsicherungssystem eine zweite Altersgrenze eingezogen worden: 25 Jahre. Denn für junge Erwachsene, die zwar volljährig und wahlberechtigt sind, gilt bis zu dieser höheren Altersgrenze, dass sie nur 80 Prozent des Regelbedarfs bekommen, wenn sie im Haushalt der Eltern leben. Und wenn sie dort nicht leben, sondern einen eigenen Haushalt begründen wollen, dann müssen sie sich das vom Jobcenter genehmigen lassen. Bekommen sie die nicht, sondern ziehen dennoch aus, bekommen sie gleichsam als Strafe bis zum 25. Lebensjahr auch nur die 80 Prozent. Hintergrund dieser Regelung war, dass man verhindern will, dass die jungen Erwachsenen aus dem elterlichen Haushalt ausziehen und nur deshalb einen eigenen Haushalt begründen, um an „höhere Leistungen“ zu kommen, was natürlich die Ausgaben steigern würde. Diese 2006 nachträglich eingeführte Regelung wird übrigens auch in dem neuen Beschluss seitens des BVerfG keinesfalls beanstandet:

»Der Gesetzgeber bezieht erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr in die Bedarfsgemeinschaft ein, weil er damit das legitime Ziel verfolgt, Ansprüche auf Sozialleistungen in Schonung der Solidargemeinschaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungsberechtigten Personen auszurichten. Dafür ist die Orientierung am Zusammenleben und am Lebensalter geeignet, denn die Annahme, dass zusammenlebende Eltern und Kinder über das 18. Lebensjahr hinaus „aus einem Topf“ wirtschaften, ist plausibel. Die Ungleichbehandlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt ist auch zumutbar.«

Soweit einige Vorbemerkungen – und nun der Blick auf den konkreten Sachverhalt, der dem Beschluss des BVerfG zugrunde liegt:

»Der Beschwerdeführer lebte mit seinem Vater zusammen, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog. Der Träger der Grundsicherungsleistung bewilligte dem Beschwerdeführer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in verringerter Höhe. Dies begründete er damit, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, weshalb nur 80% der Regelleistung anzusetzen sei und die Rente seines Vaters zumindest teilweise bei der Berechnung des Anspruchs des Beschwerdeführers bedarfsmindernd berücksichtigt werden müsse. Das Sozialgericht wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwerdeführers und seines Vaters ab; Berufung und Revision waren erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.«

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen – und das aus drei Gründen:

1. » Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben … Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit kann … grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann … Maßgebend sind nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften „aus einem Topf“.«

2. »Der Gesamtbetrag der Leistungen, die für die Existenzsicherung des Beschwerdeführers anerkannt wurden, unterschreitet das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum nicht. Zwar sind dem Beschwerdeführer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folgt jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstellt, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt ist. Der Vater verfügte jedenfalls über hinreichende Mittel, um zur Existenzsicherung seines Sohnes beizutragen … Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfsgemeinschaft führe zu einer regelbedarfsrelevanten Einsparung von 20%, kann sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen.«

Fußnote: Bei der Argumentation sind sich die Verfassungsrichter offensichtlich nur „empirisch sicher“ für den Zwei-Personen-Haushaltsfall, der dem Beschluss zugrunde liegt. Denn sie merken an: »Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Verfahren, ob und gegebenenfalls ab welcher Anzahl hinzutretender Personen eine Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr gewährleistet ist, wenn für jede dieser weiteren Personen eine um 20 % geringere Regelleistung berechnet wird.«

3. »Die unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung für unter und über 25-jährige Kinder in Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil sowie zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern … ist mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.« Wie bereits zitiert sei die „Schonung der Solidargemeinschaft“ ein legitimes Ziel des Gesetzgebers.

Die Beschwerde (und der dahinter stehende konkrete Mensch) wurde dreifach abgebügelt – so könnte man das zusammenfassen.

Aber der eigentlich problematische Kern kommt erst noch. Schauen wir an den Anfang der Mitteilung des BVerfG über den Beschluss:

»Wenn von Familienangehörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammen leben, zumutbar erwartet werden kann, dass sie „aus einem Topf“ wirtschaften, darf bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenzsichernder Leistungen unabhängig von einem Unterhaltsanspruch das Einkommen und Vermögen eines anderen Familienangehörigen berücksichtigt werden. Allerdings kann nicht in die Bedarfsgemeinschaft einbezogen werden, wer tatsächlich nicht unterstützt wird.«

Der letzte Satz ist der hier entscheidende. Was bedeutet das? Dazu teilt uns das hohe Gericht im weiteren Gang der Argumentation mit:

»Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft. Eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen scheidet dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung muss dann ohne nachteilige Folgen für den Grundsicherungsanspruch möglich sein … Kommt es zu einer ernstlichen Verweigerung der Unterstützung, scheiden Kinder nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aus der Bedarfsgemeinschaft mit der Folge aus, dass ihnen die volle Regelleistung zusteht und eine Einkommensanrechnung nicht stattfindet; sie dürfen dann ohne Anspruchsverluste ausziehen.«

Alles klar? Wenn also die Eltern oder das alleinstehende Elternteil sich der Unterstützung des Kindes verweigern, dann gilt das alles nicht mit der Anrechnung und dem niedrigeren Regelbedarf. Wozu führt eine solche Argumentation?

Spielen wir das mal gedanklich durch: Wenn man die niedrigeren Leistungen für das volljährige Kind und die Anrechnung elterlichen Einkommens nicht schlucken will, wird man gezwungen sein, die gerade erst wieder vom BVerfG abgesegneten elterlich-monetären Fürsorgebande zu durchtrennen über eine (reale? simulierte?) familale Zerrüttung, deren Existenz oder Behauptung ja auch in den Augen der Verfassungsrichter dazu führt, dass die Kinder nicht mehr Bestandteil der Bedarfsgemeinschaft sein können. Wie sich dann die „zerrüttete“ Familie in der Wirklichkeit verhält, kann von Alpha bis Omega reichen und entzieht sich übrigens im Fall der nur auf dem Papier bestehenden Zerrüttung und des faktischen Zusammenhaltens und -wirtschaftens der eigentlich damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen, die nun ja auch durch das BVerfG abgesegnet worden sind. Mithin, so die nur auf den ersten Blick irritierende Zuspitzung, leistet der Beschluss des BVerfG einen aktiven Beitrag zur Auflösung der ansonsten verfassungsrechtlich so hoch gehaltenen familiären Bande.

Die offensichtlich erkennbare Malaise kann so formuliert werden: Wenn man sich dem doppelten Druck der a) Einkommensanrechnung bei den Eltern (was andere Erwachsene nicht haben) und b) dem auf 80 Prozent abgesenkten Regelbedarf (der niedriger liegt als bei den anderen Erwachsenen) entziehen will/muss, dann ist man gezwungen, die Situation einer Verweigerung der elterlichen Solidarität herbeizuführen oder – seien wir realistisch – zumindest eine solche zu simulieren. Dass die Ehrlichen wieder einmal die – vom Ergebnis her gesehen – Dummen sind, sei hier nur angemerkt.

Ältere Kinder essen einfach mehr als jüngere und die ganz Kleinen haben genug? Zur Anhebung der Hartz IV-Regelsätze 2017

Es geht um 7 Millionen Menschen, das ist nun wirklich keine kleine Gruppe. Und es geht um die Geldleistungen an Menschen, die sich im SGB II, im SGB XII und im AsylbLG befinden und auf diese Leistungen existenziell angewiesen sind. Deren Höhe wird regelmäßig „angepasst“, also erhöht oder eben auch nicht, das nennt man dann eine „Nullrunde“, was natürlich ein Euphemismus ist, denn faktisch ist eine „Nullrunde“ – wir kennen das auch aus anderen Bereichen wie der Rente – eine Kürzung des Realwerts des zur Verfügung stehenden Geldes. Im Hartz IV-System trifft das im kommenden Jahr beispielsweise die ganz Kleinen, also Kinder von ihrer Geburt bis zum 6. Lebensjahr, denn der Geldbetrag für sie – derzeit 237 Euro im Monat für deren Regelbedarf – bleibt auf der gleichen Höhe eingefroren. Da gibt es nichts oben drauf. Im Vergleich dazu fast schon jubeln können die Kinder vom 7. bis zum 14. Lebensjahr (bzw. ihre Eltern, denen das Geld zur treuhänderischen Verwendung überwiesen wird), steigt doch deren Regelbedarf von 270 auf 291 Euro pro Monat, also um 21 Euro, was einen Anstieg von 7,8 Prozent ausmachen wird. Die Eltern dieser Kinder müssen sich hingegen mit 4 bzw. 5 Euro mehr zufrieden geben.

Wer denkt sich sowas aus, wird der eine oder andere fragen? Wie kommt man zu solchen Anpassungen? Man liegt immer richtig, wenn man davon ausgeht, dass das alles eine gesetzliche Grundlage haben muss und wenn es so konkret wird, dann spielen Rechtsverordnungen auch immer eine Rolle. Wie teilt man die Menschen im Grundsicherungssystem in unterschiedliche „Regelbedarfsstufen“ ein und wie bemisst man die – auch mit Blick auf das kommende Jahr anstehende – Anpassung einmal gesetzter Beträge?

Fleißige Referenten in dem für das Grundsicherungssystem zuständigen Bundesarbeitsministerium haben das alles zu Papier gebracht in einem Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 29.08.2016), der jetzt noch die Ressortabstimmung sowie die Verabschiedung im Kabinett überstehen muss, damit das alles rechtzeitig zum 1. Januar 2017 Wirklichkeit werden kann. Aber wieso ein Gesetz? Geht es nicht (nur) um eine Fortschreibung?

Eine Fortschreibung der Bedarfssätze erfolgt in all den Jahren, für die keine Neuermittlung von Regelbedarfen auf Basis der alle fünf Jahre durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorzunehmen ist. Das wurde für 2016 noch auf der Basis der EVS 2008 gemacht. Aber für 2017 geht es um eine Neuermittlung, da nunmehr die Daten der EVS 2013 vorliegen (die schon früher hätten herangezogen werden können/müssen, so meine Kritik am 30.11.2015 in dem Beitrag Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden) sowie nachfolgend am 11.12.2015 in dem Beitrag Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber … Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren „System“, in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte „Ordnung“ sorgt).

Interessant und erwartbar die Reaktionen unmittelbar nach Bekanntgabe der Anpassungen der Hartz IV-Sätze: Zum einen aus den Reihen der Sozialverbände harsche Kritik: Hartz IV: Paritätischer bezeichnet Regelsatzpläne der Bundesregierung als „Affront“ oder – wenn auch etwas milder formulierend, aber ebenfalls kritisch – die Caritas mit Neuer Hartz-IV-Regelbedarf ist auf Kante genäht. Auch die Oppositionsparteien haben sich entsprechend zu Wort gemeldet: Hartz IV-Regelsatz weiter klein gerechnet, so hat der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Wolfgang Sprengmann-Kuhn, sein Statement überschrieben. Und die Linken im Bundestag haben diese Pressemitteilung herausgebracht, Katja Kipping zitierend: Frau Nahles, das ist beschämend!

In nicht wenigen Medien hingegen wird man mit einer anderen Sichtweise konfrontiert: Hartz IV ist besser als sein Ruf, so hat Guido Bohsem seinen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung überschrieben: »Die Sozialleistung wird massiv kritisiert. Dabei ist sie eine Errungenschaft.« Darüber kann man nun trefflich streiten, aber es geht ja hier um die Anpassung der Hartz IV-Sätze und dazu schreibt er in seinem Kommentar:

»Eine wesentliche Errungenschaft dabei ist, dass sich die Höhe der Unterstützung inzwischen am Bedarf orientiert, höhere Lebenskosten und Lohnanstiege berücksichtigt werden. Das Verfahren ist nachvollziehbar und überprüfbar – politische Willkür im Positiven wie im Negativen ausgeschlossen.«

Als hätten sie sich abgesprochen stößt Kerstin Schwenn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in das gleiche Horn. Unter der Überschrift Hartz IV mit Methode schreibt sie, zugleich das „gegnerische Lager“ klar im Visier: »Die Erhöhungen folgen dabei strikten Vorgaben – und trotzdem kommt Kritik von den üblichen Verdächtigen. Das hat Methode.« Lesen wir weiter:

»Die üblichen Verdächtigen fallen derweil wieder mit Geschrei auf: die Linkspartei, der Paritätische Wohlfahrtsverband und diesmal auch das Kinderhilfswerk. Dabei folgen die Erhöhungen strikten Vorgaben. So zählt für die Festlegung der Leistungen ein Vergleich: Es wird geprüft, wie viel andere Geringverdiener, die ohne staatlichen Hilfe auskommen, für das tägliche Leben ausgeben, für Essen, Trinken, Kleidung und Mobilität. Sie sind der Maßstab für die Fürsorge des Staates. Außerdem orientiert sich die Anpassung der Grundsicherung an der Lohn- und Preisentwicklung. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Berechnungsmethode längst abgesegnet. Die Kritiker werfen der Regierung nun Trickserei vor und verlangen die Offenlegung der Statistiken.«

Da nähern wir uns doch dem fachlich interessanten Kern der (eigentlich zu führenden) Debatte, die aber mit solchen im „So ist es“-Stil vorgetragenen Feststellungen natürlich gerade im Keim erstickt werden soll. Aber wenn man sich der Sache aus einer fachlichen Sicht widmet, wird man schnell feststellen, dass es eben nicht so ist, dass wir es mit einem rationalen Verfahren zu tun haben, durch das Willkür ausgeschlossen sei und dass das Bundesverfassungsgericht „diese Berechnungsmethode längst abgesegnet“ hat und sich damit jegliche Kritik verbietet.

Wie so viele anderen Dinge in der Sozialpolitik kann man das nur historisch verstehen. Ein wichtiger Meilenstein war sicher das erste Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 (vgl. hierzu BVerfG 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. sowie für eine Analyse dieser wichtigen Entscheidung beispielsweise Anne Lenze: Hartz IV Regelsätze und gesellschaftliche Teilhabe
Das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 und seine Folgen, Bonn 2010). Bei diesem Urteil ist es aber nicht geblieben – weitere Meilensteine waren das Urteil aus dem Jahr 2012 zur Verfassungswidrigkeit der damaligen Höhe der Geldleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz  (vgl. dazu BVerfG 18.7.2012 – 1 BvL 10/10 u.a.) sowie dann im Jahr 2014 die vorerst letzte Entscheidung, auf die sich auch die Journalisten in ihrer Kommentierung berufen (vgl. hierzu BVerfG 23.7.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. ). Dazu schreiben Anne Lenze und Wolfgang Conrads in ihrem 2015 veröffentlichten Beitrag Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts vom 23.7.2014 zu den Regelbedarfen und die Folgen für die Praxis:

»Die mittlerweile dritte Entscheidung in vier Jahren, in denen das Bundesverfassungsgericht sich zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums geäußert hat, hinterlässt einen äußerst ambivalenten Eindruck. Einerseits werden als sicher geglaubte Errungenschaften aus der ersten Grundsatzentscheidung vom 9.2.2010 fast kommentarlos wieder zurückgenommen, andererseits mäandert das Gericht zwischen einem „noch“ verfassungsgemäßen Zustand der derzeitigen Regelbedarfs-Ermittlung und dem Aufzeigen eines erheblichen verfassungsrechtlichen Korrekturbedarfs hin und her.«

Mit Blick auf die erste Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 merken die beiden Autoren an:

»Die größte Errungenschaft der Grundsatz-Entscheidung vom 9.2.2010 waren die dem Gesetzgeber auferlegten Begründungs-, Transparenz- und Konsequenzgebote bei der Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums. Da sich die Höhe der Regelleistung nicht aus dem Grundgesetz ableiten lässt, hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 vor allem auf den Grundrechtsschutz durch Verfahren abgestellt. Der wohl radikalste Satz der Entscheidung lautete: Zur Ermöglichung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die „Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang“.«

Offensichtlich hat sich das Verfassungsgericht im weiteren Fortgang der Dinge selbst erschrocken über die Folgen für den Gesetzgeber und/oder sich die Kritik eines Teils der Rechtsgelehrten hinsichtlich einer „Übergriffigkeit“ gegenüber der Politik einsichtig gezeigt – wie auch immer, mit der Entscheidung aus dem Jahr 2014 hat das Gericht die Zügel wieder deutlich gelockert, obgleich nicht ganz kapituliert vor der inhaltlichen Aufgabe einer Bewertung, ob die Höhe der Regelbedarfe (noch oder nicht mehr) akzeptabel sei, so kann man die Bewertung von Lenze und Conrads lesen.

Dass das Verfahren, das zu den neuen Regelsätzen im Hartz IV-System geführt hat, eben nicht frei von Manipulation und zumindest mit großen Fragezeichen zu versehen ist, soll an einem Beispiel illustriert werden.

Dazu gehen wir nochmals zurück zum ersten, noch sehr ambitionierten Urteil des BVerfG: In seiner Grundsatzentscheidung vom 9. Februar 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass diejenigen Haushalte, die von einem Einkommen unterhalb des Grundsicherungsniveaus leben, aus der Referenzgruppe herausgenommen werden.

Um das hier verborgene und eben nicht nur methodische Problem zu verstehen, muss man erinnern dürfen an eine schon vor Jahren vorgetragene Kritik, der sich die damals oppositionelle Frau Nahles vehement angeschlossen hat – um genau das jetzt zu prolongieren. Als die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) im Jahr 2010 die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen ließ, warfen ihr die Kritiker vor, getrickst zu haben, um Geld zu sparen. Von der Leyen geriet in die Kritik, weil sie die einkommensschwächsten 15 Prozent heranzog, um den Hartz-IV-Satz für Alleinstehende zu ermitteln. Zuvor hatten die unteren 20 Prozent als Basis gedient. Ein finanziell gewichtiger Unterschied, da die Gruppe der unteren 15 Prozent ein geringeres Einkommen hat als die unteren 20 Prozent der Haushalte. Aber damit nicht genug. Aus der Vergleichsgruppe der einkommensschwächsten 15 Prozent der Haushalte rechnete das Ministerium die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger selbst heraus, um sogenannte Zirkelschlüsse zu vermeiden. So weit, so richtig. Aber: Auch die „Aufstocker“ hätte man heraus nehmen müssen, so die Kritiker, also Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich erwerbstätig sind und so wenig verdienen, dass sie aufstockenden Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und dann gab (und gibt) es noch die so genannten „verdeckt Armen“, also Menschen, die eigentlich Anspruch hätten auf SGB II-Leistungen, diese aber nicht in Anspruch nehmen. Die hätte man auch herausfiltern müssen. Hat man aber nicht. Eine immer noch (und für den „Kostenträger“: Gott sei Dank) keine kleine Gruppe.
Das wurde auch empirisch belegt: In einem vom BMAS in Auftrag gegebenen Gutachten hatte das IAB 2013 ausgeführt, dass in Deutschland 3,1 bis 4,9 Mio. Personen leben, die Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen (vgl. hierzu Mikroanalytische Untersuchung zur Abgrenzung und Struktur von Referenzgruppen für die Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008). Nachfolgend zum IAB-Gutachten vgl. auch die Expertise von Irene Becker: Der Einfluss verdeckter Armut auf das Grundsicherungsniveau, Düsseldorf 2015.

Und die Konsequenz des BVerfG?

Dazu Lenze und Conradis in ihrem Beitrag: »In dem Beschluss vom 23.7.2014 wird nun sehr knapp beschieden, dass die Herausnahme der verdeckt Armen aus der Referenzgruppe überhaupt nicht mehr notwendig sei. Alle Experten seien nämlich der Meinung, dass die Zahl der Haushalte in verdeckter Armut nur im Wege einer Schätzung zu beziffern sei. Auch eine sachgerechte Schätzung sei jedoch mit Unsicherheiten behaftet, weshalb der Gesetzgeber nicht gezwungen sei, zur Bestimmung der Höhe von Sozialleistungen auf eine bloß näherungsweise Berechnung abzustellen.«

Dennoch und fachlich völlig zu Recht spielt das auch heute eine Rolle in der Argumentation der Kritiker, so beispielsweise in der Stellungnahme der Caritas: »Am Beispiel der Energiekosten zeige sich, dass der Regelbedarf nicht ausreichend ist. Zudem dürften verdeckt Arme nicht als Teil der Ausgangsgruppe für die Berechnung der Grundsicherung genommen werden. Seröse Schätzungen haben gezeigt, dass viele Haushalte trotz geringer Einkommen keine Leistungen beantragen. Die Caritas hat wiederholt gefordert, Konsequenzen aus dieser Tatsache zu ziehen und die Referenzgruppe entsprechend zu bereinigen.«

Man könnte und muss weitere kritische Punkte ansprechen. Beispielsweise den bereits von der Caritas aufgerufenen Punkt Energiekosten. Vgl. dazu bereits aus dem vergangenen Jahr den Blog-Beitrag Hartz IV: Teurer Strom, Energiearmut und das ewige Pauschalierungsdilemma. Man könnte auch verweisen auf das Problem nicht-gedeckter Wohnkosten, aus dem dann resultiert, dass die Differenzbeträge aus den Regelleistungen gedeckt werden müssen.
Und es sind wahrlich keine großen Beträge, um die es hier geht. Wenn die Erhöhung zum 1. Januar 2017 kommt, dann stehen für Nahrungsmittel Erwachsenen täglich 4,60 Euro zu und Kindern zwischen 2,67 Euro und 4,72 Euro. Pro Tag.

Es bleibt für den einen oder anderen noch die Frage, wieso den ganz kleinen Kindern nicht einmal ein Euro mehr gewährt wird, während bei den Regelsätzen für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren eine Erhöhung um acht Prozent auf 291 Euro verkündet wurde. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen 0 und 8 Prozent?

Dazu Michael Fabricius in seinem Artikel Das Lebensmittel-Dilemma der Hartz-IV-Empfänger:

Das wird »mit einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes begründet. Der Bedarf an Lebensmitteln und Getränken in dieser Altersgruppe liege deutlich höher als bislang berechnet.
Doch tatsächlich könnte dahinter ein relativ simpler statistischer Effekt liegen. Bei der aktuellen Verbrauchsstichprobe war der Anteil der älteren Kinder signifikant höher als bei der vorangegangenen, wie aus informierten Kreisen verlautet. Und da ältere Kinder nun einmal mehr Nahrungsmittel konsumieren als jüngere, stieg die Bedarfsrechnung sprunghaft an.«

Und Statistik-Freaks sollten an dieser Stelle mal einen Blick in die hinteren Teile des bereits angesprochenen Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 29.08.2016) werfen. Wenn man sich tief genug eingräbt, dann wird man feststellen, dass beispielsweise die Zahl der Haushalte mit einer bestimmten Kinderzahl, aus deren Verbrauchsverhalten die Regelbedarfe abgeleitet werden, bei 200 bis 300 liegen. Aus denen dann Berechnungen gemacht werden, die für sehr viele Menschen in Deutschland von großer Bedeutung sind. Und wenn man dann weiß, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zwar ein überaus beeindruckendes Statistikwerk ist, zugleich aber die gewissenhafte und realistische Protokollierung der Ausgaben sowie die Angaben der Einkommen eine Menge Aufwand verursacht und überhaupt erst einmal verstanden und dann über einen längeren Zeitraum auch durchgehalten werden muss, der wird die daraus ermittelten Daten mit Respekt, zugleich aber auch mit einer Grundskepsis betrachten.

Fazit: Journalisten sollten mehr als vorsichtig sein, wenn sie so rigoros in die Welt setzen, dass es sich bei der Anpassung bzw. Neuberechnung der Regelbedarfe um ein unangreifbares Verfahren handelt und Kritik daran nicht zulässig sei.