Was für ein Jahresanfangsdurcheinander: Die Rente mit 70 (plus?), ein Nicht-Problem und die Realität des (Nicht-)Möglichen

Neben den Themen Flüchtlingspolitik und den Auswirkungen des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Einführung zum 1. Januar 2015 wird – das ist sicher – in dem nun neuen Jahr das Thema Alterssicherung und damit die Rentenfrage ganz oben auf der sozialpolitischen Agenda stehen. Und kaum war das Silvester-Feuerwerk verklungen, hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit scheinbar eine neue Rakete in der rentenpolitischen Debatte gezündet: Arbeitsagentur fordert freiwillige Rente mit 70, so ist der Bericht dazu überschrieben worden. Unabhängig von dem durch die Überschrift suggerierten Eindruck, dass offensichtlich die Bundesagentur für Arbeit jetzt persönliches Eigentum des Herrn Weise geworden ist, was meines Wissens noch nicht der Fall ist – sein Vorschlag löste eine einerseits erwartbare, zugleich aber auch etwas überraschende Reaktionsmechanik aus. Freiheit statt Zwangsverrentung, jubelt beispielsweise Hennig Krumrey in der WirtschaftsWoche und moniert zugleich: »Nur die politische Unterstützung für diese gute Idee fehlt noch.« Auch nicht überraschend die Reaktionen auf der anderen Seite: „Abenteuerlich und völlig verfehlt“, poltert der Parteichef der Linken, Bernd Riesiger, und die zweite Vorsitzende Katja Kipping wird mit den Worten zitiert, die Vorschläge „gehen in die völlig falsche Richtung“. Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand wird ebenfalls kritisierend zitiert mit den Worten: „In den Ohren derjenigen, die es nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter schafften, müsse es „wie Hohn klingen, wenn wieder einmal über die Freiheit des längeren Arbeitens philosophiert wird“. Etwas irritierend ist dann vielleicht schon so ein Ausreißer aus der gewohnten Lager-Bildung: Laut Ramelow sei Rente mit 70 „kein Quatsch“: »Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) hat sich offen für die Idee einer Rente mit 70 auf freiwilliger Basis gezeigt – und stellt sich damit gegen die Bundesparteispitze.« Was ist hier los?

Schauen wir uns in einem ersten Schritt erst einmal an, was denn der Herr Weise von der Bundesagentur für Arbeit eigentlich genau gesagt hat:

»Angesichts des Fachkräftebedarfs in Deutschland plädiert der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, für zusätzliche Anreize, um Ältere bis zum Alter von 70 Jahren im Berufsleben zu halten. „Flexible Ausstiege aus dem Erwerbsleben in Rente sind grundsätzlich ein gutes Modell“ …  „Man sollte nun auch Anreize dafür setzen, dass Arbeitnehmer, die fit sind, freiwillig bis 70 arbeiten können“, forderte Weise. Für den Arbeitsmarkt wäre das gut, betonte der BA-Vorstand.«

Man achte auf die Formulierung: Es geht um zusätzliche Anreize, die gewährt werden sollen, wenn Arbeitnehmern jenseits des gesetzlichen Renteneintrittsalters weiterarbeiten. Einerseits entschärft das auf den ersten Blick die Debatte, denn es geht offensichtlich (noch) nicht darum, die beschlossene und derzeit ablaufende schrittweisen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67, das für die Jahrgang 1964 erreicht sein wird, auf 70 anzuheben. Auch die derzeit unter bestimmten Bedingungen mögliche „Rente mit 63“, die ja nur für wenige Jahrgänge möglich ist und die parallel zur Einführung der Rente mit 67 auf 65 Jahre angehoben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Erhöhung des Renteneintrittsalters, von der vor allem die geburtenstarken Jahrgänge betroffen sein werden. »Die „Rente  mit 70“ steht also für die Möglichkeit freiwillig länger zu arbeiten – und zwar unter günstigeren Bedingungen als bisher«, darauf weist auch Stefan Sauer in seinem Beitrag Ein Vorstoß ohne Zwang hin.

Nun wird der eine oder die andere an dieser Stelle berechtigterweise die Frage stellen: Wo ist eigentlich das Problem? Ist das nicht heute schon möglich?

Ja, so muss die einfache Antwort in einem ersten Schritt lauten. Beschäftigte können – im Prinzip – den Renteneintritt auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und erhalten dafür eine höhere Rente. Das heißt aber eben auch, dass es sich bereits heute lohnen kann, länger zu arbeiten, wenn man denn will und kann und – das wird allerdings in den meisten Artikeln gerne unterschlagen, wenn der Arbeitgeber auch mitmacht, denn es gibt nicht wenige Unternehmen, die aus welchen Gründen auch immer gar kein Interesse haben an der Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer und dann gerne auf das gesetzliche Renteneintrittsalter als Austrittsgrund verweisen, um den Mitarbeiter loswerden zu können.

Was bedeutet es vor dem Hintergrund der bestehenden Rentenformel konkret, wenn ein älterer Arbeitnehmer länger an Bord bleibt? Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Für jeden Monat, um den sie den Rentenbezug hinauszögern, erhalten sie einen Zuschlag von 0,5 Prozent. Sofern sie unterdessen sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, sammeln sie zusätzliche Rentenpunkte an, die ihre Anwartschaften zusätzlich erhöhen. Beispiel: Wer den Renteneintritt um ein Jahr aufschiebt, erhält lebenslang eine um 12 mal 0,5 Prozent – also sechs Prozent – erhöhte Monatsrente. Zahlt er in dieser Zeit durchschnittliche Rentenbeiträge ein, erhält er zusätzlich einen Rentenpunkt, der derzeit knapp 30 Euro pro Monat wert ist. Beide Faktoren gemeinsam lassen eine Monatsrente von 1.300 Euro auf mehr als 1.400 ansteigen. Bei noch späterem Rentenbezug erhöht sich die Rente entsprechend.«

Man muss sich in aller Deutlichkeit klar machen, dass es bereits heute im bestehenden System aufgrund der Entgeltpunkt- und Zuschlagssystematik der Rentenformel durchaus „lohnend“ ist, weiterzuarbeiten und man keineswegs „bestraft“ wird, wenn man sich dafür entscheidet. Wer mit dem Erreichen des Renteneintrittsalters seine Rente in Anspruch nimmt, kann weiterhin arbeiten gehen und ganz wichtig: Dabei entfallen die Zuverdienst-Grenzen von 6.300 Euro pro Jahr, die für Frührentner gelten. Jenseits der Regelaltersgrenze können Rentner also so viel dazu verdienen wie sie wollen beziehungsweise können, ohne dass dies Einfluss auf die Höhe der Rente hätte. Aber damit noch nicht genug: »Zugleich sind die arbeitenden Rentner von Beitragszahlungen an die Arbeitslosen- und Rentenversicherung befreit. Die Arbeitgeber müssen allerdings weiterhin ihren Rentenbeitragsanteil abführen«, so Sauer.

Und ganz wichtig ist auch der Hinweis, dass die immer wieder geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen zugunsten der Unternehmen für eine Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer von der Großen Koalition im Windschatten der Rente mit 63 und der Mütterrente bereits hergestellt worden sind: In der Vergangenheit waren unbefristete Arbeitsverhältnisse bei einer Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters automatisch als unbefristet fortgeführt worden, was den Arbeitgebern ein Dorn im Auge war, denn solche Arbeitsverhältnisse sind seitens vieler Unternehmens kaum kündbar, ihre Beendigung ist oft mit Abfindungszahlungen verbunden. Das empfanden die Arbeitgeber als ein besonderes Risiko und ihre Forderung war es denn auch, so gestellt zu werden, dass sie die möglichen Vorteile einer Weiterbeschäftigung älterer Arbeitnehmer in Anspruch nehmen können und gleichzeitig aber diese schnell loswerden können, wenn „ihre Zeit gekommen“ ist. Und da ist ihnen die Bundesregierung ganz erheblich entgegengekommen: Die von den Arbeitgebern geforderten vereinfachten Rahmenbedingungen hat die Regierungskoalition »bereits im Juli 2014 gleichzeitig mit der Mütterrente und der Rente mit 63 in Kraft gesetzt: Seither können Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine befristete Weiterbeschäftigung nach Erreichen des Renteneintrittsalters vereinbaren und solche Befristungen auch mehrfach verlängern.« Dass manchen Arbeitgeber die Befristungsregelung „natürlich“ immer noch nicht reicht und sie sich am liebsten jederzeit und ohne Widerspruchsmöglichkeiten von den älteren Arbeitnehmern trennen möchten, wenn die nicht mehr so funktionieren sollten, wie man das erwartet, sei an dieser Stelle nur nachrichtlich erwähnt.

Bleibt also an dieser Stelle die Frage, was den nun neu oder weiterführend sein soll an den aktuellen Vorschlägen. Es wurde bereits erwähnt, dass die Arbeitgeber ihren Teil des Rentenversicherungsbeitrags für die jenseits des Renteneintrittsalters beschäftigten Arbeitnehmer weiter zahlen müssen. Und hier setzt ein seit längerem in die Debatte geworfener Vorschlag der Arbeitgeber an: Unter dem sympathisch daherkommenden Begriff der „Flexi-Rente“ sollen diese Arbeitgeberbeiträge an die Arbeitnehmer ausgeschüttet werden, um einen zusätzlichen Anreiz zu setzen. Ein Schelm, wer böses denkt und rechnen kann, denn die Arbeitgeber wollen den Arbeitnehmer beglücken mit mehr Geld, das sie nicht etwa zusätzlich aufbringen müssten – das wäre ja auch eine Möglichkeit, wenn das Wissen und die Arbeitskraft der älteren Arbeitnehmer wirklich so dringend erforderlich sind, wie man uns in der Diskussion über einen Fachkräftemangel unterschieben möchte -, sondern das man der Sozialversicherung entwendet, um es dem Einzelnen dann auszuzahlen. Das nun ist aus Arbeitgebersicht verständlich und attraktiv, aber aus Sicht der Sozialversicherung fragwürdig, denn wie wir gesehen haben, profitieren die länger arbeitenden Menschen ja auch aufgrund der Mechanik der Rentenformel von ihrem längeren Arbeiten durch eine höhere Rente.

In diese Richtung argumentiert auch Carsten Linnemann, seit 2013 Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU, der zum einen erkennt, dass man – wenn schon – an der richtigen Stelle bei den Sozialversicherungsabgaben ansetzen muss, ansonsten unterstützt er den Vorstoße der Arbeitgeberseite. Er argumentiert in seinem Anfang Dezember 2014 erschienenen Artikel Länger arbeiten muss sich lohnen so:

»Im Kern muss es also um mehr Flexibilität im Rentenalter gehen. Um die zu erreichen, müssen die bestehenden „Strafabgaben“ für Beschäftigte im Rentenalter beseitigt werden. Denn es ergibt keinen Sinn, dass Arbeitgeber für Arbeitnehmer, die eine Altersrente beziehen, aber weiter arbeiten, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsbeiträge zahlen, obwohl die Betroffenen überhaupt nicht mehr arbeitslos werden können und damit auch kein Arbeitslosengeld mehr beanspruchen können. Kurzum: Die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung gehören schlicht abgeschafft … In der Rentenversicherung sollte es für diejenigen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten, einen Flexi-Bonus in Gestalt eines Rentenzuschlags geben.«

Trotz der etwas differenzierteren Herleitung – auch Linnemann schiebt den schwarzen Peter der Finanzierung der „Anreize“ für die älteren Arbeitnehmer an die Sozialversicherung. Es ist schon beeindruckend bzw. es spricht für sich, dass keiner auf die erste marktwirtschaftlich naheliegende Lösung kommt: Wenn den Arbeitgebern das Humankapital der älteren Fachkräfte angeblich so wichtig ist, dann müsste das in die Lohnbildung internalisiert werden, bevor man wieder Geschäfte zu Lasten Dritter macht.

Und was schlägt Bodo Ramelow von den Linken, der für viele überraschende Sympathisant einer freiwilligen „Rente mit 70″, vor? Man darf jetzt doch etwas überrascht sein, aber vielleicht liegt es einfach nur daran, dass er auch in die Medien wollte und deshalb schnell sprechen musste: „Arbeitnehmern, die das Rentenalter erreicht haben, aber weiter arbeiten wollen, kann beispielsweise die Einkommensteuer erlassen werden“, so wird der neue Ministerpräsident zitiert. Das wäre dann einer Art Arbeitgeber-Forderung 2.0. Ob er jetzt auch eingeladen wird zum Arbeitgeber-Tag?

Fazit: Bereits heute gibt es die grundsätzliche Möglichkeit, dass die, die wollen und können, über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten gehen. Hierfür hat die Große Koalition bereits seit Juli 2014 die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen im Interesse der Arbeitgeber flexibilisiert. Vielleicht sollte man einmal genauer hinschauen, warum es so vielen Arbeitgebern offensichtlich schwer fällt, von den bestehenden Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren Mitte 2014 in der Altersgruppe von 65 bis 69 lediglich 130.000 Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Möglicherweise ist ein großer Teil der Arbeitgeber das Nadelöhr, das den Zugang zu mehr Beschäftigung für Menschen oberhalb des gesetzlichen Renteneintrittsalters verengt.Hinzu kommt natürlich, dass auch wenn es nicht mehr Anreize geben würde, länger zu arbeiten: Für viele Arbeitnehmer kann das gar kein Thema sein oder werden. Dazu Stefan Sauer in seinem Artikel:

»Das Institut für Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg Essen stellte Anfang 2014 in einer Studie fest, dass Beschäftigte im Hoch- und Tiefbau im Schnitt bereits mit 57,6 Jahren ihren Beruf aufgeben müssen. Starken Belastungen, die zu einem frühzeitigen Aus ihrer Berufsausübung führen, sind der Untersuchung zufolge unter anderem Arbeitnehmer in Holz und Kunststoffverarbeitung, in der Logistik und in Ernährungsberufen sowie branchenübergreifend Hilfsarbeiter ausgesetzt. Auch im Dienstleistungsbereich, etwa in der Altenpflege, gibt es körperlich und psychisch stark beanspruchende Tätigkeiten. Für Millionen Beschäftigte ist die Rente mit 70 also kein Thema.«

Die angesprochene Studie des IAQ ist als „Altersübergangsreport 2014-01“ erschienen: Martin Brussig und Mirko Ribbat: Entwicklung des Erwerbsaustrittsalters: Anstieg und Differenzierung. Hier bekommt man ein sehr differenziertes Bild der Entwicklung beim Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Nur zwei Beispiele: »Hinsichtlich des mittleren beruflichen Austrittsalters gibt es große Unterschiede zwischen Berufen. Die Altersspanne zwischen Berufen mit einem sehr hohen und einem sehr niedrigen mittleren beruflichen Austrittsalter liegt bei über fünf Jahren.« Hinzu kommt: »Berufe mit einem hohen mittleren beruflichen Austrittsalter erlauben nicht notwendigerweise lange Erwerbsphasen, sondern können auch durch Personen geprägt sein, die erst am Ende ihres Erwerbslebens vorübergehend in einen Beruf hineinströmen, nachdem sie ihren langjährig ausgeübten Beruf aufgegeben haben.« Die Wirklichkeit ist eben immer schwieriger, als es oftmals erscheint.

Im Jahr 2013 waren – nach einem kontinuierlichen Anstieg des Anteils in den vergangenen Jahren – von den 60- bis 64-Jährigen 32,4% sozialversicherungspflichtig beschäftigt, also gerade einmal jeder Dritte in dieser Altersgruppe (immer wieder wird von interessierter Seite die wesentlich höhere Erwerbstätigenquote genannt, die 2013 bei 49,9% lag, zu denen gehören aber alle, die irgendwie und sei es nur ein wenig arbeiten, egal ob als Arbeitnehmer. Minijobber oder Selbständiger).
Es gibt also noch eine Menge zu tun bei denen, die unter 65 sind. Vielleicht sollte man vernünftigerweise darauf die Prioritäten legen und ansonsten die Arbeitgeber motivieren, von den bestehenden Regelungen für eine freiwillige Weiterarbeit a) Gebrauch zu machen und b) wenn ihnen das so wichtig ist, mit dem marktwirtschaftlichen Instrument der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zu denen auch die Löhne gehören, zu reagieren, bevor man nach Dritten ruft, die einem das bezahlen, so wie früher die Frühverrentungen auf die Sozialversicherungen externalisiert worden sind.

Die andere Seite der „Rente mit 63“: Während die einen wollen, müssen die anderen. Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern

In den vergangenen Monaten wurde immer wieder überaus kontrovers über die „Rente mit 63“ diskutiert und oftmals auch polemisiert. Im Mittelpunkt der Argumentation vieler Kritiker steht dabei der Vorwurf, dass hier eine Rolle rückwärts gemacht werde angesichts der doch eigentlich auf den Weg gebrachten und aus dieser Perspektive auch als dringend erforderlich angesehenen Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Einige gehen sogar noch weiter, so beispielsweise Hans-Werner Sinn, der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er plädiert für eine weitgehende Liberalisierung des Renteneintrittsalters (vgl. hierzu den Artikel Hans-Werner Sinn fordert Abschaffung des gesetzlichen Rentenalters). Er wird zitiert mit den Worten: »Die Politik sollte ernsthaft darüber nachdenken, die feste Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitslebens vollständig aufzuheben und gegenüber dem Arbeitgeber einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu gleichen Bedingungen zu ermöglichen.« In diesem Kontext erscheint es dann schon mehr als begründungspflichtig, wenn es gleichzeitig eine Diskussion gibt über „Zwangsverrentung“ von Hartz IV-Empfängern mit 63. Wie passt das zusammen?  

mehr

Das haben sie davon: Früher in Rente = früher ins Grab. Oder doch nicht?

In der Debatte über die vom großkoalitionären Gesetzgeber nunmehr zum Leben erweckte (temporäre) „Rente mit 63“ wurde neben anderen Argumenten immer wieder das Bild von den rüstigen Rentnern bemüht, die nun (noch) früher als bislang in den – aus dem Umlagesystem zu finanzierenden – Ruhestand wechseln und dort viele Jahre in zumeist guter Gesundheit verbringen werden. Eine Kritiklinie stellt daraus ableitend darauf ab, dass das bereits mehrfach unter Druck befindliche Alterssicherungssystem dadurch zusätzlich belastet wird, denn die neuen Frührentner beziehen nicht nur länger Rente, als wenn sie „normal“ gearbeitet hätten, sondern sie fallen natürlich auch als Beitragszahler für die Jahre aus, die sie nicht mehr im Erwerbsleben stehen. An und für sich eine durchaus logische Sache, sollte man meinen. Vor diesem Hintergrund wird man aufmerksam, wenn in der Zeitschrift „Demografische Forschung“ ein Artikel über eine neue Studie überschrieben ist mit: Späte Rente, längeres Leben: »Männer, die bereits mit 60 Jahren aufhören zu arbeiten, haben eine deutlich verringerte Lebenserwartung.« So lautet jedenfalls das Fazit eines Berichts über eine Studie von Stephan Kühntopf und Thusnelda Tivig (Early retirement and mortality in Germany. European Journal of Epidemiology, February 2012, Volume 27, Issue 2, pp 85-89).

Die erwähnte Studie ist von Axel Wermelskirchen in einem Beitrag für die FAZ aufgegriffen worden: Frührentner leben kürzer. »Wer früher in Rente geht stirbt auch früher. Das hat eine Studie zweier deutscher Forscher ergeben.« Und dann die sozialpolitisch interessante Schlussfolgerung: »Die Rentenkassen werden also geringer belastet als bisher angenommen.« Das ist doch mal ein ganz andere Botschaft als das, was wir bislang immer serviert bekamen. Aber schauen wir uns die Argumentation der beiden Wissenschaftler etwas genauer an.

Dazu berichtet Wermelskirchen in seinem Artikel: Die beiden Wissenschaftler »untersuchten die Daten aller deutschen Rentner von 2003 bis 2005. Von den Männern hörten 21,1 Prozent und von den Frauen 38,1 Prozent schon mit 60 Jahren zu arbeiten auf; nur 25 Prozent der Männer und 31,2 der Frauen arbeiteten bis zum Schluss. Das mittlere Renteneintrittsalter der Männer und Frauen lag bei 61,6 Jahren. Legt man die durchschnittliche Lebenserwartung zugrunde, scheint die Rechnung klar: Früher Rentenbeginn belastet die Rentenkassen stärker als später Rentenbeginn.«

Aber ist das wirklich so?

Über die Befunde von Kühntopf und Tivig berichtet der Artikel in der Zeitschrift „Demografische Forschung“:

»Ihre Ergebnisse zeigen deutlich: Die Lebenserwartung deutscher Männer hängt stark vom Renteneintrittsalter ab. Bei Frauen ist dieser Zusammenhang, insbesondere wenn diese erst mit 60 Jahren oder später in Rente gehen, sehr viel geringer ausgeprägt … Ein deutscher Mann, der mit 55 Jahren erstmals eine Erwerbsminderungsrente bezogen hatte, konnte zum Zeitpunkt der Analyse im Alter von 65 Jahren im Schnitt noch mit einer weiteren Lebenszeit von 13 Jahren rechnen. Männer, die bis zum Alter von 65 Jahren gearbeitet hatten, durften dann hingegen noch auf weitere 17,3 Jahre hoffen. Den Untersuchungen zufolge steigt die Lebenserwartung zweimal sprunghaft an: bei einem Renteneintrittsalter von 60 und einem von 63 Jahren.«

Nun wird man hier natürlich mit dem Grundproblem einer vergleichenden Analyse von komplexen sozialen Sachverhalten konfrontiert: Man muss aufpassen, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht. Die Grundgesamtheit derjenigen, die mit 60 (oder noch früher) in den Ruhestand übergegangen sind, und die derjenigen, die das mit 64 oder 65 getan haben, kann (und plausibel: wird) eine eigene sein, was dann aber Vergleiche über einen Wert wie der Lebenserwartung zwischen den beiden Gruppen wenn nicht unmöglich macht, so doch zu einem dicken Fragezeichen führen muss. Eigentlich müsste man Personen vergleichen, die annähernd identische Merkmale haben und von denen der eine mit 60 und der andere mit 65 in Rente geht (wobei dann schon wieder der eigentlich erforderliche gemeinsame Startpunkt – gemessen an dem Eintritt in den Ruhestand – fehlt, denn es liegen hier dann ja Jahre dazwischen, was wiederum einen Effekt haben könnte.
Das wurde von den Autoren offensichtlich auch gar nicht versucht, sondern man hat von dem tatsächlichen Renteneintrittsalter geschaut, wie sich die Lebenserwartung darstellt. Dass das nicht unproblematisch ist, kann man den Ausführungen der Wissenschaftler selbst entnehmen. So schreiben sie zu dem in der Abbildung erkennbaren Anstiegen der Lebenserwartung in der Altersgruppe 60:

„Das liegt vermutlich daran, dass Männer, die vor ihrem 60. Geburtstag in Rente gin- gen, vielfach gesundheitliche Probleme hatten“, sagt Tivig. „Mit 60 Jahren stellten hingegen auch viele Langzeitarbeitslose und mit 63 Jahren die besonders langjährig Versicherten den Rentenantrag.“

Und eine weitere Bestätigung für das Fragezeichen findet man in diesem Passus:

»Die Wahrscheinlichkeit, schon vor dem 72. Geburtstag zu sterben, ist den Berechnungen zufolge unter den Empfängern einer Altersrente am höchsten bei Männern, die bereits mit 60 Jahren in Rente gingen und davor mindestens vier Monate lang krank waren, und am niedrigsten bei Männern, die mit 64 Jahren aufhörten zu arbeiten und davor niemals ernsthafte gesundheitliche Probleme hatten.«

Wenn man dem folgt, dann ließe sich aber auch formulieren, dass nicht der Zeitpunkt des Renteneintritts entscheidend ist, weil der wiederum die Folge des vorgängig relevanten Gesundheitszustandes ist. Anders gesagt: Wenn jemand mit gesundheitlichen Problemen nicht mit 60, sondern erst mit 63 oder 65 in den Ruhestand gegangen wäre, dann wäre er genau so früh gestorben (vielleicht, was die Komplexität des Themas anleuchtet, aber auch noch früher aufgrund der längeren Arbeit). Und ein gesunder Mitbürger hätte die Lebensspanne erreicht, auch wenn er früher in die Rente gewechselt wäre. Möglicherweise, wir wissen es nicht.

Vorsicht ist auch geboten bei solchen Schlussfolgerungen: »… die erhöhte Sterblichkeit der Frührentner und die daraus resultierende kürzere Rentenbezugszeit (hätten) zur Folge, dass die Lasten für das deutsche Rentensystem insgesamt geringer sein könnten als allgemeinhin angenommen.« Das mag so sein – aber daraus kann man nun wiederum für die aktuelle Situation der „Rente mit 63“ gerade unter Berücksichtigung der zu erfüllenden Zugangsvoraussetzungen nicht ableiten, dass das auch für die nun auf uns zukommende Generation von vorzeitigen Rentnern gelten wird oder muss. Denn hier kann es sich durchaus um eher „gute Risiken“ handeln, also relativ „fitte“ Arbeitnehmer, die nicht nur (hoffentlich) noch lange leben und Rente beziehen werden, sondern die vielleicht – wir wissen es empirisch nicht – durch den vorzeitigen Wechsel in den Ruhestand sogar noch länger leben werden, als wenn sie unter den heutigen Bedingungen weiter arbeiten müssen.

So kommt man nicht wirklich weiter.

Was man sozialpolitisch sagen kann, ist aber genau so ambivalent wie die Forschungslage:

  • Auf der einen Seite gibt es durchaus Hinweise, dass ein früher Renteneintritt – vor allem bei Männern – nicht per se gut sein muss mit Blick auf die gesundheitlichen Auswirkungen. Dazu gibt es ja auch eine entsprechende Evidenz aus der Forschung, nach der es auch sehr negative Auswirkungen eines „zu frühen“ Verabschiedens vom Berufsleben geben kann.
  • Handlungsbedarf wird in den vor uns liegenden Jahren vor allem bei zwei Stellschrauben bestehen: Zum einen muss man sozialpolitisch verträgliche Antworten geben für die Menschen, die wirklich nicht mehr weiterarbeiten können, dann aber auch nicht in die Altersarmut abstürzen sollen, wenn sie vor den wie auch immer definierten Regelaltersgrenzen in den Ruhestand wechseln müssen. Zum anderen wird es darum gehen, endlich das seit Jahrzehnten eigentlich bekannte Idealmodell eines fließenden – und eben nicht abrupt stattfindenden – Übergangs aus dem Erwerbsleben rentenrechtlich sowie von der Rentenhöhe her abzusichern und zu begleiten. Denn für viele Menschen wäre das tatsächlich eine sinnvolle Sache, bis hin zu den auch betriebswirtschaftlichen Vorteilen eines langsamen Herauswachsens der erfahrenen Arbeitskräfte  aus dem Unternehmen mit allen Möglichkeiten, die sich daraus für eine „geordnete Übergabe“ ergeben könnten. Würde man hier zu neuen Lösungen und flächendeckenden Modellen kommen, dann wäre ein möglicher Nebeneffekt vielleicht der, dass die Lebenserwartung sich noch positiver entwickelt. Was natürlich anderen wieder die Sorgenfalten ins Gesicht treiben wird, denn das muss finanziert werden. Das wiederum öffnet der Debatte über einen geforderten Systemwechsel bei der Art und Weise der Finanzierung der Alterssicherung Tür und Tor, denn wenn die Finanzierung des Systems nicht mehr nur (bzw. in großen Anteilen) auf den Schultern der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmern liegt, dann bekäme man auch wieder neue Gestaltungsoptionen.

Der verfassungsrechtliche (und der logische) Teufel steckt oftmals im gesetzgeberischen Detail – wahrscheinlich trifft es jetzt die abschlagsfreie „Rente mit 63“

Der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) kann man vieles vorwerfen, nicht jedoch, dass sie in den vergangenen Monaten zu langsam gearbeitet hätte. Die gesetzgeberische Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten „Rentenpakets“, zu der auch die umstrittene „Rente mit 63“ gehört, hat das von ihr geführte Bundesarbeitsministerium gleichsam in Form eines „Husarenritts“ über die parlamentarischen Hürden gebracht. Nun ist es allerdings – gerade in der Sozialpolitik – oftmals so, dass Schnelligkeit gepaart mit politischen Kompromissen zu Qualitätsproblemen führen.
Und genau das wird jetzt erkennbar: »Denn die in letzter Minute aufgenommenen Ausnahmen bei der abschlagsfreien Rente ab 63 sind wahrscheinlich nicht mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags«, berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel Rente mit 63 möglicherweise verfassungswidrig.

Wo liegt das Problem? Die Rente ab 63 ohne Abzüge bekommt derjenige, der 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann. Dabei werden auch Zeiten anerkannt, in denen Arbeitslosengeld I, nicht aber früher Arbeitslosenhilfe bzw. seit 2005 Arbeitslosengeld II bezogen wurde. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, das ansonsten beispielsweise sehr viele ostdeutsche Arbeitnehmer von der Inanspruchnahmemöglichkeit der abschlagsfreien Rente ab 63 abgeschnitten worden wären, da viele von ihnen von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Im Vorfeld der Verabschiedung des Rentenpakets der Bundesregierung gab es allerdings eine teilweise inszenierte Debatte darüber, dass die Anrechnung von Arbeitslosigkeit auf die Beitragsjahre, die für die Inanspruchnahme der Rente mit 63 notwendig sind, dazu führen könnte, dass es zu einer „Frühverrentungswelle“ ab 61 Jahren kommen kann. Es wurde argumentiert, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich auf ein Ausscheiden zum 61. Lebensjahr verständigen, der Arbeitnehmer zwei Jahre lang Arbeitslosengeld bezieht und dazu aufstocken der Leistungen seitens des Unternehmens, um dann in die abschlagsfreie Rente ab 63 zu wechseln. Viele Experten haben darauf hingewiesen, dass hier sehr stark im hypothetischen Raum argumentiert wurde. Trotzdem gelang eine auf die Verhinderung dieser angeblichen „Frühverrentungswelle“ gerichtete Ausnahmeregelung in das Gesetzespaket: Bei den letzten zwei Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn werden nunmehr Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet.

Aber damit nicht genug. Ebenfalls implementiert wurde eine Ausnahme von der Ausnahme – und genau die erweist sich jetzt als verfassungsrechtlicher Stolperstein: Wird die Arbeitslosigkeit in den hier relevanten zwei Jahren vor Beginn der Rente mit 63 durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht, wird dieser Zeit bei den 45 Beitragsjahren berücksichtigt. Das gilt allerdings nicht, wenn der Arbeitnehmer betriebsbedingt gekündigt wurde.

Genau mit dieser Unterscheidung hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags seine juristischen Probleme, denn hier dürfte ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen. Konkret geht es darum, dass die Gutachter „schwerwiegende Bedenken an der Angemessenheit der Ungleichbehandlung“ haben. Letztendlich kann man das hier angesprochene Problem so zuspitzen: Die derzeitige Regelung unterstellt im Prinzip, dass betriebsbedingte Kündigungen von Arbeitnehmer, die das 61. Lebensjahr vollendet haben, im Kontext einer missbräuchlichen Ausgestaltung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite zu sehen sind, wofür es allerdings keine empirische Evidenz gibt. Denn natürlich kann und wird es viele betriebsbedingte Kündigungen geben, bei denen nicht der Tatbestand vorliegt, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsame Sache machen, sondern indem der Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit geschickt wird, obwohl er das gar nicht will. Hier stellt sich natürlich die berechtigte Frage, warum denn der Arbeitnehmer mit 61, der seinen Arbeitsplatz verliert, weil sein Unternehmen in die Insolvenz geht, schutzbedürftiger sein soll als ein einzelner Arbeitnehmer, die betriebsbedingt von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde, der Ihnen gerne loswerden möchte und wo wir ebenfalls den Tatbestand einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit bei dem betroffenen Arbeitnehmer vorliegen haben.

Und wie immer bei komplizierten Gesetzeswerken muss man auch kritisch auf bestimmte, eben nur scheinbar klare Begrifflichkeiten achten. Öchsner  zitiert in seinem Artikel einen kritischen Hinweis der Deutschen Rentenversicherung: „die verwandten Begriffe Insolvenz unvollständige Geschäftsaufgabe sind unbestimmt. Sie geben auf manche Fragen, die sich in der Praxis stellen, keine Antwort.“ Nur ein Beispiel: Ist es eine vollständige Geschäftsaufgabe, wenn eine Einzelhandelskette eine Filiale schließt?

Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages wurde angefordert vom rentenpolitischen Sprecher der Grünen, Markus Kurth. Und dieser ist sich sicher: Die Rente ab 63 wird vor Sozialgerichten und später beim Verfassungsgericht landen.

Auf das, was die Gutachter des Wissenschaftlichen Dienstes hier problematisieren, habe ich bereits am 13. Mai dieses Jahres in meinem Blog-Beitrag Angekündigter Doppelbeschluss: Die Rente mit 63 soll mit der Arbeitslosigkeit bis 61 fusioniert werden hingewiesen. Mit Blick auf die damals erst diskutierte, nunmehr im Gesetz eingebaute Ausnahme von der Ausnahme im Falle der Insolvenz bzw. vollständigen Geschäftsaufgabe kann man dort lesen:

»Das verweist auf ein potenziell neues, erhebliches „Gerechtigkeitsproblem“, denn ein solcher Fall würde ja bedeuten, dass der betroffene ältere Arbeitnehmer unfreiwillig seinen Arbeitsplatz verliert und er dann nicht in den Genuss der späteren abschlagsfreien Rente mit 63 kommen kann, wenn ihm vielleicht wegen wenigen Monaten die Anspruchsvoraussetzung 45 Beitragsjahre fehlt.
Wenn man jetzt aber eine Sonderregelung für die Fälle schafft, wo das Unternehmen in die Insolvenz gegangen ist, stellt sich sofort die „Gerechtigkeitsfrage“, was denn mit den Arbeitnehmern ist, denen mit 61 oder später aus betriebsbedingten Gründen gekündigt wurde. Die fallen dann nicht unter die Sonderregelung, können aber ebenfalls nichts für ihre Arbeitslosigkeit. Man ahnt an dieser Stelle, ein weites und lukratives Feld für die Juristen tut sich hier auf.«

Und in diesem Beitrag findet sich auch ein kritischer Blick auf das, was der Nicht-Berücksichtigung von Arbeitslosigkeit in den letzten zwei Jahren vor Beginn einer abschlagsfreien Rente mit 63 vor allem seitens der Arbeitgeber argumentativ als großes Problem ausgemalt wurde, also der Annahme, dass das für „Frühverrentung“ missbraucht wird:

»Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass diese und ähnliche Argumentationen schon recht einseitig daherkommen, um das mal vorsichtig auszudrücken. Denn hier wurde und wird ein Bild gemalt, das so aussieht: Der Arbeitnehmer kann es gar nicht erwarten, in den Ruhestand zu kommen (was in nicht wenigen Fällen angesichts der konkreten Arbeitsplätze vielleicht sogar durchaus der Fall sein könnte) und wenn er durch den Eintritt in die Arbeitslosigkeit mit 61 zwei Jahre lang die Möglichkeit hat, das Arbeitslosengeld I zu beziehen, dann wird er das freudig machen, um dann mit 63 in die abschlagsfreie Rente zu wechseln. Das ist gelinde gesagt eine „mutige“ Hypothese, wenn man bedenkt, dass das Arbeitslosengeld I als Lohnersatzleistung deutlich niedriger liegt als das bisherige Einkommen und zudem die späteren Rentenansprüche natürlich auch noch niedriger ausfallen werden durch die Arbeitslosigkeitszeiten. Darüber hinaus gibt es solche „Kleinigkeiten“ wie Sperrzeiten bei Eigenkündigung. Um nur eine Hürde zu nennen. Folglich kommen wir zum eigentlichen Kern der Sache: Eine „Frühverrentungswelle“ kann man im Grunde nur dann erwarten, wenn die Unternehmen da mitmachen bzw. das instrumentalisieren für ihr Anliegen, sich von älteren Mitarbeitern zu trennen,  beispielsweise in dem sie die Arbeitslosengeld I-Zahlungen aufstocken. Zugespitzt formuliert: Eigentlich warnen die Arbeitgeber vor sich selbst bei dieser Diskussion – die übrigens seitens der Experten bei einer kürzlich stattgefunden Anhörung im Deutschen Bundestag überwiegend als nicht besonders gewichtig eingeschätzt wurde. Aber irgendwie hat sich das verselbständigt.«

In der Sozialpolitik haben wir es oft mit dem zuweilen schmerzhaften „Bumerang-Effekt“ zu tun, also die offensichtlichen handwerklichen Fehler fallen einem dann später wieder richtig auf die Füße. Aber das dauert und erfordert wieder erheblichen Aufwand bei den Betroffenen und der Gerichtsbarkeit. Aber das sind Kosten, die in keiner Rechnung auftauchen.

Das „Schlupfloch“ in der sozialpolitischen Regelungswelt – für die einen der „Schleichweg“ zu mehr Gerechtigkeit, für die anderen eine böse Sache

Es ist aber auch nicht einfach in der Sozialpolitik – komplexe und immer heterogener werdenden Lebensumstände müssen in konkrete sozialrechtliche Vorschriften gegossen werden. Neben der Tatsache, dass die daraus resultierenden Regelungen sofort ganz viel Phantasie freisetzen, wie man sie umgehen kann (das erleben wir beispielsweise derzeit im Bereich der anstehenden Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns), ist es unvermeidbarerweise immer auch so, dass Regelungen, mit denen man „mehr Gerechtigkeit“ herstellen möchte, nicht selten und oftmals als ungeplante Nebenfolge ihrer praktischen Umsetzung beispielsweise über Stichtagsregelungen neue „Gerechtigkeitslücken“ aufreißen. Wenn dann noch die Gesetzgebung aufgrund des tagespolitischen Drucks mit der heißen Nadel gestrickt werden muss, sind handwerkliche Fehler quasi nicht zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund kann es nicht wirklich überraschen, dass jetzt sukzessive auf einer der wichtigsten „Gerechtigkeitsbaustellen“, also der so genannten „Rente mit 63“, Baumängel (für die einen) bzw. „Notausgänge“ (für die anderen) erkennbar werden.

Man kann die Andeutungen konkretisieren: Es geht um die Frage, wie man verhindern kann, dass die „Rente mit 63“ in praxi die Möglichkeit eröffnet, zu einer „Rente mit 61“ zu werden. Dabei schien dieses Problem doch beim Ringen innerhalb der Großen Koalition um einen Kompromiss zum „Rentenpaket“ im vergangenen Monat eigentlich gelöst – wenn auch damals schon mit einigen erheblichen Unwuchten (vgl. hierzu den Beitrag Ein Geben und Nehmen: Die Große Koalition einigt sich auf das vorerst endgültige Design des „Rentenpakets“):
Aufgrund der vereinbarten Anrechnung von Zeiten der Arbeitslosigkeit mit Bezug der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I auf die zu erfüllenden 45 Beitragsjahr, die Voraussetzung sind, damit man die Rente mit 63 ohne Abschläge in Anspruch nehmen kann, stand man vor dem Problem, dass sich die Möglichkeit eröffnete, dass ein Arbeitnehmer bereits mit 61 mit der Erwerbsarbeit aufhört, zwei Jahre lang Arbeitslosengeld I bezieht und dann in den vorgezogenen, abschlagsfreien Ruhestand wechselt. Hier vermuteten einige Gegner der „Rente mit 63“ die Gefahr, dass es zu einer neuen „Frühverrentungswelle“ kommen könne. Darauf hatte man dann bei den vereinbarten Korrekturen im Gesetzesentwurf reagiert: »Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs werden wie bereits im vorliegenden Entwurf ohne zeitliche Beschränkungen angerechnet. Um (angebliche) Missbräuche auszuschließen, hat man sich nun darauf verständigt, dass Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs in den letzten zwei Jahren vor der abschlagsfreien Rente mit 63 nicht mehr mitgezählt werden bei der Berechnung der erforderlichen 45 Beitragsjahre. Eine Ausnahme von diesem Ausschluss ist jedoch dann vorgesehen, wenn die Arbeitslosigkeitszeiten durch eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht wurden.«

Aber bereits damals habe ich in dem Beitrag darauf hingewiesen, dass die gefundene Regelung gewisse logische Inkonsistenzen aufweist, vor allem mit Blick auf die angestrebte „gerechte“ Lösung:

»Die Aufladung der „Rente mit 63″  mit Gerechtigkeitsüberlegungen erweist sich immer mehr als das, was es ist – eine große Illusion. Nehmen wir nur als Beispiel die neu gefundene Ausnahmeregelung, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit zwei Jahre vor dem Renteneintritt in die abschlagsfreie Rente mit 63 dann anerkannt werden können bei der Berechnung der Beitragsjahre, wenn sie aus einer Insolvenz des Unternehmens resultieren. Die Besserstellung dieses Falls wird dem Arbeitnehmer sicher nicht besonders gerecht erscheinen, der mit 61 von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde, beispielsweise aus betriebsbedingten Gründen und dem vielleicht ein oder gerade die zwei Jahre fehlen, um die abschlagfsreie Rente mit 63 in Anspruch nehmen zu können.«

Das alles ist schon schwierig genug. Jetzt aber gibt es Neuigkeiten von der Front der – für den einen oder die andere überraschenden – „Schlupflöcher“ oder „Schleichwege“. In dem Artikel Legaler Schleichweg in die Rente berichtet Karl Doemens von folgendem Tatbestand aus der „Rente-mit 63“-Welt hinsichtlich der beschlossenen Stichtagsregelung für das Anrechnen von Arbeitslosenzeiten:

»Zwar werden dem Gesetz nach die letzten beiden Jahre vor Beginn des Ruhestands nicht berücksichtigt. Aus einer schriftlichen Antwort des Sozialministeriums geht jedoch hervor, dass diese Sperrzeit entfällt, wenn die Betroffenen für wenige Stunden in der Woche einen Minijob übernehmen … Praktisch könnte also ein Arbeitnehmer mit 61 Jahren aus dem Job ausscheiden, zwei Jahre Arbeitslosengeld beziehen, in dieser Zeit wöchentlich vier Stunden als Verkäufer oder Fahrer arbeiten und damit den Anspruch auf die abschlagsfreie Rente mit 63 erwerben.«

Das ist innerhalb des bestehenden Systems mit der staatlichen Förderung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse absolut konsequent, wenn an dieser Stelle auch von den Protagonisten nicht gewünscht. Voraussetzung bei den Minijobbern ist allerdings, dass sie nicht auf die Rentenversicherungspflicht ihrer kleinen Beschäftigungsverhältnisse verzichtet haben. Dann arbeiten sie und zahlen Beiträge – wenn auch sehr kleine – in die gesetzliche Rentenversicherung ein und erfüllen damit natürlich in den bestehenden Systemen den Tatbestand, dass sie Beitragsjahre vorweisen können.

Das hat schon Eingang gefunden in die praktische Sozialberatung. Doemens weist in seinem Artikel auf ein internes Info-Blatt der Rechtsabteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hin, in dem der Minijob ab 61 ausdrücklich als eine „Lösungsoption“ empfohlen wird, um die Beitragszeit zu erreichen. Netto-Einkünfte bis 165 Euro im Monat werden nicht auf das Arbeitslosengeld angerechnet.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) sieht keinen Grund für Nachbesserungen: „Dass diese Gestaltung in der Lebenswirklichkeit tatsächlich in nennenswertem Umfang angewendet wird, erscheint wenig wahrscheinlich“, so wird das Bundesarbeitsministerium zitiert. Glaube statt Wissen, das ist sowieso ein Strukturmoment der neueren Sozialgesetzbung.

Abschließend wieder zurück zu den eigentlich Betroffenen: Für die stellt sich das teilweise ganz anders dar als auf Seiten derjenigen, die jetzt eine „Frühverrentungswelle“ befürchten. Bereits angesprochen und hier noch einmal aufgerufen: Eines der Gerechtigkeitsprobleme, das aus dem bislang gefundenen Kompromiss zur Nichtanrechnung von Arbeitslosengeld I-Zeiten nach dem 61. Lebensjahr resultiert, ist die Tatsache, dass man zugleich eine weitere Ausnahme von dieser Regelung vereinbart hat, die vorsieht, dass dieser Ausschluss dann nicht greift, wenn der Arbeitslose deshalb Arbeitslosengeld I bezieht, weil sein Betrieb Insolvenz angemeldet hat. Wenn aber das Unternehmen nicht völlig den Bach runter geht, sondern „nur“ einzelne ältere Arbeitnehmer mit 61 Jahren entlässt, dann greift wieder die Nicht-Anrechnung. Wenn wir uns so einen Fall praktisch vorstellen, dann erweist sich das jetzt aufgezeigte „Schlupfloch“ tatsächlich als ein durchaus denkbare „Schleichweg“ oben in die Rente mit 63, nämlich in den Fällen, in denen zur Erfüllung der 45 Beitragsjahre gerade ein oder zwei Beitragsjahre fehlen. Die davon betroffenen können und werden – sollte es nicht noch eine nachträgliche Änderung im Gesetzentwurf geben – von der Möglichkeit Gebrauch machen, über einen Minijob die Voraussetzungen dann doch noch erfüllen zu können. Ihnen kann man es sicherlich am wenigsten verdenken, wenn sie das dann tun.