Die alte Tante gesetzliche Rentenversicherung als renditeträchtige Anlageoption? Mehr Rente durch Zusatzeinzahlungen

Man hatte sich schon so daran gewöhnt – die gesetzliche Rentenversicherung als Dinosaurier des deutschen Sozialstaats, seit Mitte der 1990er Jahre sturmreif geschossen von interessierten Kreisen, die sich dann mit dem rentenpolitischen Paradigmenwechsel Anfang der 2000er Jahr auch faktisch durchsetzen konnten. Mittlerweile ist die Gehirnwäsche so weit vorangeschritten, dass eine spontane Umfrage unter jungen und mittelalten Menschen sicher eindeutige Werte für die Position ergeben würde, dass man in Zukunft nichts mehr erwarten sollte aus der gesetzlichen Rente.

Und dann wird man in Nullzinszeiten und einem flächendeckenden Anlagenotstand für die normalen Sparer, was die Idee eines Ausweichens auf rentierliche private Altersvorsorgeprodukte zu einem mehr als frustrierenden Unterfangen werden lässt, mit solchen Meldungen über die angeblich alte Tante gesetzliche Rentenversicherung konfrontiert: »Wegen hoher Erträge nutzen offenbar immer mehr Wohlhabende die gesetzliche Rentenversicherung zur Geldanlage. Für die Versichertengemeinschaft ist das nicht unproblematisch, findet die Linke«, berichtet Rainer Woratschka in seinem Artikel Rentenversicherung: Mehr Rente durch Zusatzeinzahlungen – Linke empört. Eine Anfrage der Linken an die Bundesregierung habe ergeben, dass sich in der gesetzlichen Rentenversicherung in der aktuellen Niedrigzinsphase immer mehr Wohlhabende mit freiwilligen Beiträgen „satte Gewinne“ sicherten, so wird der Bundestagsabgeordnete Ralph Lenkert zitiert.

Nun ist das, worum es hier geht, nicht neu. Bereits im Oktober des vergangenen Jahres konnte man unter der Überschrift Gesetzliche Rentenversicherung: Durch freiwillige Zuzahlungen zur Rendite lesen: »Wer zusätzlich in die gesetzliche Rentenkasse einzahlt, bekommt auf seinen Einsatz eine beachtliche Rendite – plus Inflationsschutz und Staatsgarantie. Bloß weiß das kaum jemand«, so Andreas Oswald damals. Er sprach von einem „ganz legalen Trick“, eine Bezeichnung, der irgendwie doch eine unseriöse Note in den Kleidern hängt.

»Rechtlich ist es möglich, mit 63 Jahren vorzeitig in Rente zu gehen. Normalerweise führt das zu einer Minderung der Rente. Um das auszugleichen, können Arbeitnehmer einen bestimmten Betrag freiwillig in die Rentenkasse einzahlen. Wenn der Arbeitnehmer dann zum 63. Geburtstag seine Lebensplanung ändert und doch bis zum regulären Rentenbeginn mit 65 oder 66 Jahren weiterarbeitet, wirken sich die zusätzlich gezahlten Beträge entsprechend rentensteigernd aus. Und die Rendite dieses Vorgehens ist enorm: Sie enthält zusätzlich einen impliziten Inflationsausgleich und schlägt vergleichbare Anlagemöglichkeiten um Längen … Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung eine Möglichkeit geschaffen, die Arbeitnehmern eine staatlich gesicherte profitable Anlageform bietet.«

Es ist in solchen Fällen immer aufschlussreich, die Sache mit einem Beispiel (und gerundeten Werten) zu illustrieren, was auch Oswald versucht hat:

»Ein lediger Angestellter bekäme bei einer Rente mit 63 eine geminderte Rente von 1.750 Euro monatlich. Um die Minderung von 205 Euro auszugleichen, verlangt die gesetzliche Rentenversicherung von ihm die Einzahlung von 51.000 Euro. Auf diese 51.000 Euro bezahlt ihm die Rentenkasse pro Jahr 12 mal 205 Euro, das sind 2.460 Euro. Das sind 4,82 Prozent von 51.000 Euro.«

Wenn man von diesen Werten ausgeht, wird rechnerisch schnell ersichtlich, dass man im Grunde mehr als 20 Jahre lang Rente beziehen muss, um aus der Anlage des einmaligen Betrags eine Rendite erwirtschaften zu können. Wenn man vor den 20 Jahren verstirbt, dann hat man draufgezahlt, wer hingegen lange lebt, der profitiert. Die Verzinsung gibt es aber auch bei vergleichbaren privaten Rentenversicherungen nur bis zum Tod. Aber nicht vergessen werden sollte dieser höchst relevante Unterschied zwischen gesetzlicher und privater Rente:

»Anders bei Verheirateten, da wirkt sich die Rentensteigerung auch für Hinterbliebene aus. Wenn jemand einen sehr viel jüngeren Partner hat, wird es teuer für die Rentenkasse: Denn der Hinterbliebene kann noch viele Jahre länger erheblich profitieren.«

Und bereits damals wurde auf die Pole-Position der gesetzlichen Rentenversicherung im unmittelbaren Vergleich der Alternativen hingewiesen: »Die Stiftung Warentest hat Beispiele verglichen und kam zu dem Schluss, dass selbst günstige Rürup-Versicherungen etwa 20 Prozent weniger im Monat auszahlen als die gesetzliche Rentenversicherung. Hier würde es deutlich länger dauern, bis sich die Investition lohnt. Private Rentenversicherungen könnten zwar Überschüsse erwirtschaften, das ist aber schwierig, vor allem angesichts der niedrigen Zinsen, die die Kapitalmärkte hergeben.«

Man muss sich in einem Zwischenfazit verdeutlichen, um was es hier geht: Wir bewegen uns im Feld der Spekulation. Man spekuliert zum einen auf ein langes Leben (nach dem Renteneintritt) und zum anderen offensichtlich auf die Sicherheit der gesetzlichen, umlagefinanzierten Rentenversicherung. Und eine dritte Spekulationsdimension sollte nicht unerwähnt bleiben: Man muss bei dieser Anlageform davon ausgehen, dass die Renten in den vor uns liegenden Jahren nicht gesenkt werden, um entsprechende Auszahlungsgegenwerte realisieren zu können.

Allein die erste Annahme für ein gewinnträchtiges Geschäft – ein langes Leben nach dem Renteneintritt  – führt im Zusammenspiel mit der ebenfalls nicht banalen Voraussetzung, dass man heute über größere Geldbeträge verfügen muss, um sich das kaufen zu können – dazu, dass dieses Anlagemodell sicher keine Option für Niedriglöhner oder die meisten Durchschnittsverdiener ist.

Dem einen oder anderen wird vor diesem Hintergrund die folgende Formulierung des linken Bundestagsabgeordneten Ralph Lenkert in der aktuellen Berichterstattung verständlicher: „Mit dieser speziellen Form der Geldanlage bereichern sich vor allem westdeutsche Männer auf Kosten der Versichertengemeinschaft“, so wird er zitiert.

Ein Blick in die Daten, um welche Größenordnungen es hier geht: Nach Angaben der Bundesregierung »haben im Jahr 2015 von den insgesamt 287.359 freiwillig Rentenversicherten 5.045 Personen den Höchstbetrag von derzeit 1.187,45 Euro im Monat eingezahlt. Von diesen „Sparern“ sind nur sieben Prozent Ostdeutsche und nur 86 Frauen. Im Durchschnitt betrug der Monatsbeitrag der freiwilligen Einzahler knapp 128 Euro … Zwischen 2010 und 2015 stieg die Zahl der freiwillig Versicherten, die den Höchstbeitrag einzahlten, von 1586 auf 5045 Personen. Allein von 2014 auf 2015 gab es einen Anstieg um rund 33 Prozent. Zahlen für 2016 liegen noch nicht vor. Es steht aber zu vermuten, dass die Zahl weiter stark steigt.«

Und der eine oder andere wird jetzt sicher erstaunt sein, dass beispielsweise auch Beamte von diesem Modell profitieren (können). Haben die nicht ihr eigenes Alterssicherungssystem mit den Pensionen und demzufolge in der gesetzlichen Rentenversicherung nichts zu suchen? Grundsätzlich ist das auch so. Aber dazu Rainer Woratschka in seinem Artikel:

»Seit 2010 können Beamte und berufsständisch Versicherte, beispielsweise Anwälte, Ärzte oder Architekten, auch ohne vorherige Erfüllung der fünfjährigen Wartezeit freiwillige Beiträge für die Rentenkasse leisten, um sich so den Anspruch auf eine Regelaltersrente zu sichern. Dank hoher Rentenanpassungen verzinsen sich diese Beiträge seit Jahren besser als vergleichbar sichere Geldanlagen.«

Der Rentenexperte Johannes Steffen hat sich dem Thema und seinen Untiefen in diesem Hintergrund-Artikel angenommen: Sozialpolitisch ambivalenter Rückkauf von Rentenabschlägen. Für Ost-Versicherte zurzeit ein »doppeltes Schnäppchen«. Grundlage für die Zahlung zusätzlicher Beiträge zum Ausgleich von Rentenabschlägen ist § 187a SGB VI (Zahlung von Beiträgen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters).

Vor dem Hintergrund der bereits zitierten Zahlen der Bundesregierung über die mit 7 Prozent kaum vorhandene Inanspruchnahme der Option in Ostdeutschland ist dieser von Steffen herausgearbeitete Aspekt besonders relevant: Mit Blick auf die Ost-Versicherten spricht Steffen in seinem Papier von einem „doppelten Schnäppchen“ für diese Personengruppe: »Zum einen ist der „Kurs“ für den Ausgleich von Abschlägen im Osten derzeit günstiger als im Westen und zum anderen können aktuell im Osten Pflichtversicherte – vor allem mittleren und jüngeren Alters – mehr Rentenpunkte zurückkaufen als sie infolge der Abschlagsregelung voraussichtlich verlieren.« Stellt sich die Frage, ab wann man das machen kann mit dem Rückkauf der zu erwartenden Abschläge. Dazu Steffen: »Beitragszahlungen nach § 187a SGB VI können Versicherte seit Juli bereits ab vollendetem 50. Lebensjahr leisten – bei Vorliegen eines berechtigten Interesses aber auch schon (weit) früher; ein berechtigtes Interesse liegt wegen des derzeit günstigen »Kurses« für den Rückkauf bei Ost-Versicherten zweifellos vor. So kann selbst ein heute erst vierzigjähriger Versicherter, der 2040 mit 63 Jahren eine um vier Jahre vorgezogene Altersrente beanspruchen will, die günstigen Konditionen für sich beanspruchen.«

An dieser Stelle muss das nächste Fass aufgemacht werden: »Je größer aber der Zeitraum zwischen Beitragszahlung und Rentenbeginn ausfällt, umso mehr greift ein weiterer Effekt Platz: Die Überkompensation der Abschläge.« Das bedeutet: Wer heute die maximal möglichen Beiträge leistet, kauft also mehr Entgeltpunkte zurück als bei dem unterstellten weiteren Erwerbseinkommensverlauf tatsächlich als Abschlag anfallen können.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Dazu bilanziert Johannes Steffen zutreffend:

»Sozialpolitisch ist die in Ost wie West faktisch weit vor Rentenbeginn gegebene Möglichkeit zur Zahlung zusätzlicher Beiträge eine fragwürdige Angelegenheit. Vor dem Hintergrund perspektivisch steigender Beitragssätze müssen die zusätzlich erworbenen Anwartschaften später von allen Versicherten finanziert werden. Der Gewinn des Einzelnen ist Ergebnis einer vergleichsweise risikoarmen Spekulation gegen das pflichtversicherte Kollektiv. Für Versicherte mit entsprechendem Finanzpolster wird die Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung damit zu einem Teil individuell gestaltbar und zeitlich »verzerrt«. Um diesen instrumentell bedingten »Spekulations-Gewinn« zu begrenzen, sollte die Möglichkeit zur Zahlung zusätzlicher Beiträge nach § 187a SGB VI ausnahmslos auf rentennahe Altersgruppen begrenzt werden.«

Auch Rainer Woratschka hat in seinem Artikel auf diese Problematik hingewiesen: »Experten verweisen darauf, dass diese Einzahler der Versichertengemeinschaft schadeten. Sie warnen vor einer zusätzlichen Belastung späterer Generationen, die dann auch noch für die Zusatzrenten freiwillig Versicherter aufkommen müssten. Zudem können freiwillige Einzahler ihre Beitragszahlungen einstellen wenn sich für sie das Beitrags-Leistungs-Verhältnis beziehungsweise die Beitragsrendite verschlechtere. Diese Möglichkeit hätten Pflichtversicherte, die später per Umlage für die Zusatzrenten der freiwillig Versicherten aufkommen müssten, nicht.«

Vor diesem Hintergrund erscheint die von ihm zitierte Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung – nun ja – „unterkomplex“, denn die »findet die freiwilligen Einzahlungen „fair und nicht zu beanstanden“. Schließlich orientierten sich die späteren Renten allein an den zuvor geleisteten Beiträgen, sagte ein Sprecher.« Wenn es denn so einfach wäre. Ist es aber nicht.

Foto: © Stefan Sell

Schaumschläger jenseits einer diskussionswürdigen Kritik an der bereits auf dem absteigenden Ast befindlichen „Rente mit 63“

Ach, die „Rente mit 63“. Wir erinnern uns – neben der „Mütterrente“ (für die tatsächlichen oder angeblichen) Unionswähler war die abschlagsfreie Rente mit 63 mit Blick auf die (tatsächlichen oder angeblichen) SPD-Wähler ein Herzensanliegen der Sozialdemokratie in der nunmehr beendeten Großen Koalition. Sie wurde durch die großen Industriegewerkschaften in den Koalitionsvertrag transportiert und von der sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles exekutiert. Nun wurde das immer schon mit einer gehörigen Portion Kritik garniert, meistens mit dem Vorwurf, hier würde eine Art „billige“ Klientelpolitik betrieben, die anderen teuer zu stehen kommt.

Neben einer grundsätzlichen Ablehnung gab und gibt es auch eine eher systematisch angelegte Kritik, die darauf abstellt, dass das deshalb kritisch zu sehen sei, weil es sich nur um eine temporäre Besserstellung einiger weniger Jahrgänge handelt und das eigentliche Problem, also die schrittweise Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für alle, keineswegs rückgängig gemacht wurde, sondern weiter läuft, was dazu führt, dass auch das vorübergehend und unter bestimmten Bedingungen abgesenkte Eintrittsalter in die abschlagsfreie Rentenbezugsmöglichkeit von 63 schrittweise (wieder) auf 65 Jahre ansteigt. Man entlastet also einige (überschaubare) Rentenjahrgänge vom Damoklesschwert der Abschläge, aber für die danach geht es weiter so wie vorher. Und es erfolgt keine systematische Differenzierung der an das gesetzliche Renteneintrittsalter gekoppelten Abschläge nach der im Einzelfall vorliegenden Zeit der Einzahlung in die Gesetzliche Rentenversicherung.

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Merkel als Spielverderberin für die Anhänger der „Rente mit 70“? Aber die lassen nicht locker

Über das „TV-Duell“ zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem SPD-Herausforderer Martin Schulz, das eher als TV-Duett daherkam, ist in den vergangenen Tagen schon eine Menge geschrieben worden. Immer wieder wurde beklagt, dass sozialpolitische Themen so gut wie gar nicht angesprochen wurden. Armut, Pflege – Fehlanzeige. Auch die Rententhematik wurde nur en passant erwähnt, aber da landete die ansonsten im Ungefähren verweilende Kanzlerin ein Aussage mit Deutlichkeitswert: »Es sei „schlicht und ergreifend falsch“, sagte Merkel beim TV-Duell mit entschlossen klingender Stimme, dass die Union die Rente mit 70 propagiere – wie SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz gerade behauptet hatte. Es gebe keinen Beschluss eines CDU-Gremiums dazu. „Das ist falsch.“ Und es habe nichts zu bedeuten, „wenn irgendeine Untergruppe oder irgendein Flügel“ so etwas fordere.« So die Darstellung bei Kerstin Gammelin, die ihren Artikel so überschrieben hat: Merkel brüskiert Parteifreunde mit Absage zur „Rente mit 70“. Offensichtlich ist das dann noch nicht so eindeutig in der Union.

Denn das sind nicht irgendwelche Hinterbänkler der CDU, die sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode für ein späteres Renteneintrittsalter ausgesprochen haben.
Finanzminister Wolfgang Schäuble und der selbsternannte Hoffnungsträger der Union, Jens Spahn, gehören dazu. Und Carsten Linnemann, der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU, des Wirtschaftsflügels der Union. Auch der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident und jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger vertritt das offensiv. Besonders aktiv in dieser Angelegenheit sind immer wieder Funktionäre der Jungen Union, die offensichtlich ganz scharf sind auf die Anhebung des Renteneintrittsalters.

Wie dem auch sei – Die Bundeskanzlerin ahnt, welche Sprengkraft das Thema hat bzw. bekommen könnte und angesichts ihrer Prämisse, dass in den kommenden Jahren eigentlich nichts zu tun sei an der Rentenfront (frühestens ab 2030 und dazu will sie dann eine Kommission einsetzen, die sich mal Gedanken machen kann), hat sie schlichtweg keine Lust, sich so ein Thema ins Wahlkampfnest legen zu lassen. Später kann man dann ja immer noch die Koordinaten wieder ändern.

In den Medien wurde dieser Punkt hingegen sofort aufgegriffen. Die FAZ stellt die eher rhetorisch gemeinte Frage Keine „Rente mit 70“ – geht das überhaupt? Und Spiegel Online sekundiert weiterführend und die Sache an sich gar nicht infragestellend: Warum die Rente mit 70 kommt – aber anders heißen wird.

Und auf der gleichen Seite konnte man schon einige Stunden vorher diese unmissverständliche Botschaft zur Kenntnis nehmen: Top-Ökonomen kritisieren Merkels Nein zur Rente mit 70: »Hochrangige Experten halten das nicht für tragfähig. Die deutsche Altersvorsorge werde so auf Dauer kaum zu finanzieren sein.« Also wenn „Top-Ökonomen“ das sagen, dann muss die Kanzlerin sich aber warm anziehen. Nur als redaktionelle Fußnote: Als „hochrangige Rentenexperten“ werden uns Michael Hüther, seines Zeichens Chef des arbeitgeberfinanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft, sowie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und sozialdemokratischer Vorzeige-Ökonom, verkauft. Noch vor kurzem hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schon mit der Artikel-Überschrift über Marcel Fratzscher vernichtend: Claqueur der SPD: »DIW-Chef Marcel Fratzscher hat sich ganz der SPD verschrieben. Das beschädigt seine Glaubwürdigkeit als Ökonom, hat aber Methode«, so Rainer Hank in dem Artikel. Aber bei der „Rente mit 70“ kann man ihn natürlich wieder als Top-Ökonom reanimieren.

In diesem Zusammenhang als Nebenasspekt relevant der Hinweis auf eine Debatte, die Norbert Häring in seinem Blog-Beitrag Der DGB sollte den Sachverständigenrat sehr ernst nehmen aufgegriffen hat. Dort geht es um die vor kurzem gegen die abweichenden Meinungen des „schwarzen Schafes“ (bzw. in diesem Fall besser als „rotes Schaf“) der Wirtschaftsweisen, Peter Bofinger, der auf dem „Gewerkschaftsticket“ in das Gremium gekommen ist. Der wird von den vier anderen gerade massiv und unterirdisch angegriffen. Anfang 2019 wird es einen Nachfolger für Bofinger geben müssen und Häring schreibt dem DGB ins Stammbuch: »Wohin die Reise nach Vorstellung des marktliebenden Ökonomenmainstream gehen soll, hat Ifo-Ökonom Niklas Potrafke in seinem Angriff auf Bofinger in der FAS deutlich gezeigt. Er argumentierte ganz explizit, dass gewerkschaftsnominierte Sachverständigenratsmitglieder keine echten Ökonomen seien, und lies dies in dem Vorschlag an den DGB gipfeln, DIW-Chef Marcel Fratzscher als Nachfolger von Bofinger zu nominieren. Fratzscher hat sich als Hofökonom von Sigmar Gabriel redlich bemüht, mit Ungleichheitsrhetorik sozialdemokratischen Stallgeruch anzunehmen. Das sollte aber keinen im DGB darüber hinwegtäuschen können, dass er daraus fast genau die gleichen Folgerungen zieht, wie marktliberale Ökonomen. Das ist vor allem bessere Bildung und frühkindliche Förderung, garniert mit ein klein bisschen Umverteilung. Nach der jüngsten Fernsehdiskussion von Merkel und Schulz rügte Fratzscher ebenso wie IW-Chef Michael Hüther die Kanzlerin dafür, dass sie der Rente mit 70 eine Absage erteilt hatte.«

Womit wir wieder beim hier besonders interessierenden Thema „Rente mit 70“ wären. Und wieder wird von vielen Medien der Eindruck transportiert, „die“ Ökonomen seien für die Rente mit 70. Was natürlich großer Humbug ist, denn erstens gibt es nicht „die“ Ökonomen und zweitens gibt es durchaus welche, die dagegen sind (vgl. dazu nur als Beispiel den Beitrag Rente mit 70: Pro und Contra des WDR5-Wirtschaftsmagazins „Profit“, in der neben Hüther als Anhänger der Idee auch Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, zu Wort kommt, der das ablehnt).

Aber Spiegel Online berichtet über „die“ Ökonomen:

»Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Festlegungen der Parteien. Von „Wahltaktik“ spricht Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die Rente mit 70 auszuklammern, schade der deutschen Gesellschaft. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht das genauso: „Die demografische Entwicklung, die verlängerte Lebenszeit, machen ein späteres Renteneintrittsalter notwendig. Anders kann das System nicht finanziert werden.“«

Nun könnte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass in diesem Blog bereits vor kurzem, am 16. August 2017, dieser Beitrag veröffentlicht wurde: Vorwärts zur „Rente mit 70“? Eine große Koalition von „Top-Ökonomen“ und die Untiefen der Rasenmähermethode.  Oder auf den aufschlussreichen Beitrag Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016. Und um das alles abzurunden sei hier auch noch auf diesen Beitrag verwiesen: Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert. Er wurde am 22. April 2016 veröffentlicht.

Man muss sich klar machen, was das bedeuten würde, wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 70 Jahre angehoben werden würde – für viele Menschen eine enorme Rentenkürzung. Das kann man nur verstehen, wenn man sich etwas auskennt in der Mechanik des bestehenden Rentensystems. An das gesetzliche Renteneintrittsalter sind die Abschläge gekoppelt, die man lebenslang bei seiner Rente in Kauf nehmen muss, wenn man vorzeitig in Rente geht oder gehen muss.

Der Abschlag beträgt pro Monat vorzeitiger Inanspruchnahme 0,3 Prozent, pro Jahr 3,6 Prozent. Dies gilt nicht nur für vorzeitig in Anspruch genommene Altersrenten, sondern auch für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Seit 2012 wird die Altersgrenze von 63 Jahren für diese Renten schrittweise auf das 65. Lebensjahr angehoben. Der maximale Abschlag beträgt hierbei 10,8 Prozent. Denn für die Menschen mit dem Baujahr 1964 wird die „Rente mit 67“ gelten, die ja trotz des temporären Ausflugs in die (unter bestimmten Voraussetzungen) abschlagsfreie „Rente mit 63“ für einige wenige Jahrgänge nicht aufgehoben wurde.

Eine weitere Anhebung wird nun immer wieder mit dieser Argumentation begründet: Die steigende Lebenserwartung mache das Unterfangen einer Anhebung des Renteneintrittsalters unabdingbar: »In den Sechzigerjahren hatte ein 65-jähriger Mann im Schnitt noch rund zwölf Jahre zu leben, heute sind es 18 Jahre. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, auch dank des medizinischen Fortschritts. Bisher führte diese Entwicklung dazu, dass die Zeit des Rentenbezugs steigt, auf zuletzt durchschnittlich rund 20 Jahre (1957 waren es neun Jahre).«

Eine schematische Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre für bestimmte Menschen ein doppelter Schlag ins Gesicht. Zum einen haben wir eine erhebliche Spannweite der Lebenserwartung dergestalt, dass die unteren Einkommensgruppen (also die mit den in der Regel eben auch niedrigen Renten) um Jahre kürzer leben als die oberen Einkommensgruppen, die nicht nur höhere Renten bekommen, sondern diese auch länger in Anspruch nehmen können. Und hinzu kommt, dass eine weitere Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters gerade für die unteren Einkommensgruppen eine weitere Rentenkürzung bedeuten würde, denn viele von den Menschen hier arbeiten in Berufen, die man definitiv nicht bis in diese hohen Altersgruppen ausüben kann bzw. man wird vorher von den Arbeitgebern entsorgt und durch andere, jüngere Arbeitskräfte ersetzt und findet dann keine andere Beschäftigung mehr.

Warum ist das eigentlich so schwer zu verstehen – alles ist ungleich verteilt, das sollten Ökonomen eigentlich wissen.

Und wer sich wissenschaftlich fundiert mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei an dieser Stelle diese Studie empfohlen:

Gerhard Bäcker, Andreas Jansen und Jutta Schmitz (2017): Rente erst ab 70? Probleme und Perspektiven des Altersübergangs. Gutachten für den DGB Bundesvorstand. IAQ-Forschung 2017-02, Duisburg 2017

Darin heißt es – neben einer detaillierten Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse – hinsichtlich der als Automatismus an „die“ steigende Lebenserwartung ausgestalteten Forderung nach einer weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters, dass das »an der Frage vorbei (geht), ob die Arbeitnehmer/-innen hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Konstitution und ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit auch tatsächlich in der Lage sind, länger zu arbeiten. Zudem ist es ungewiss, wie sich der Arbeitsmarkt über 2030 hinaus entwickelt. Auf einen Automatismus, der sicherstellt, dass die Unternehmen immer Arbeitsplätze in ausreichender Zahl für die (weiterarbeitenden) Älteren bereitstellen, kann nicht gesetzt werden. Zu berücksichtigen sind nicht nur die Unwägbarkeiten auf der Angebotsseite hinsichtlich der Größenordnung von Zuwanderung und Erwerbsbevölkerung, sondern auch auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes hinsichtlich der Entwicklung von Zahl und Struktur der Arbeitsplätze. Von maßgebender Bedeutung für die Arbeitsnachfrage in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ist die gesamtwirtschaftliche Entwicklung: Welches Wachstum ist zu erwarten, in welche Richtung weisen die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Arbeitsproduktivität?

Diese Ungewissheiten verbieten es, die Regelaltersgrenze an die Entwicklung der Lebenserwartung automatisch anzukoppeln. Die Anhebung des Rentenalters wäre dann nicht mehr das Ergebnis eines konkreten politischen Willensbildungsprozesses, sondern würde wie ein Mechanismus funktionieren. Die Politik hat sich jedoch laufend mit den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zu befassen und muss entsprechend reagieren. Durch eine vorgegebene automatische Anpassung könnte den Besonderheiten der Alterssicherung und der jeweiligen demografischen und ökonomischen Entwicklung nicht mehr Rechnung getragen werden.«