Die andere Seite der „Rente mit 63“: Während die einen wollen, müssen die anderen. Zwangsverrentung von Hartz IV-Empfängern

In den vergangenen Monaten wurde immer wieder überaus kontrovers über die „Rente mit 63“ diskutiert und oftmals auch polemisiert. Im Mittelpunkt der Argumentation vieler Kritiker steht dabei der Vorwurf, dass hier eine Rolle rückwärts gemacht werde angesichts der doch eigentlich auf den Weg gebrachten und aus dieser Perspektive auch als dringend erforderlich angesehenen Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Einige gehen sogar noch weiter, so beispielsweise Hans-Werner Sinn, der Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er plädiert für eine weitgehende Liberalisierung des Renteneintrittsalters (vgl. hierzu den Artikel Hans-Werner Sinn fordert Abschaffung des gesetzlichen Rentenalters). Er wird zitiert mit den Worten: »Die Politik sollte ernsthaft darüber nachdenken, die feste Altersgrenze für die Beendigung des Arbeitslebens vollständig aufzuheben und gegenüber dem Arbeitgeber einen Rechtsanspruch auf Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu gleichen Bedingungen zu ermöglichen.« In diesem Kontext erscheint es dann schon mehr als begründungspflichtig, wenn es gleichzeitig eine Diskussion gibt über „Zwangsverrentung“ von Hartz IV-Empfängern mit 63. Wie passt das zusammen?  

Mit diesem Thema wird sich der zumindest ein Teil des Deutschen Bundestages auseinandersetzen müssen: »Die „Abschaffung der Zwangsverrentung von SGB-II-Leistungsberechtigten“ ist das Thema einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montag, 1. Dezember 2014, für die eine Stunde angesetzt wurde. Dabei geht es um einen Antrag der Linksfraktion (18/589), die verhindern will, dass Menschen, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten, also zum Beispiel Arbeitslosengeld II (Hartz IV), gegen ihren Willen eine vorzeitige Rente beantragen müssen.«

Dem erwähnten Antrag der Linksfraktion „Abschaffung der Zwangsverrentung von SGB-II-Leistungsberechtigten“ (18/589) kann man folgende Information entnehmen:

»Seit dem Jahresbeginn 2008 droht auf Grund der Regelung des § 12a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) jährlich Zehntausenden von SGB-II-Leistungsberechtigten ab 63 Jahren eine zwangsweise vorgezogene Verrentung. Leistungsberechtigte, die die Voraussetzungen für eine Altersrente erfüllen, werden systematisch von den Jobcentern aufgefordert, einen Rentenantrag zu stellen. Sofern die betroffenen Menschen einen derartigen Antrag nicht in die Wege leiten, stellen die Jobcenter selbst den Antrag auf Verrentung. Der rentenrechtliche Grundsatz, dass ausschließlich die betroffenen Personen über ihren Antrag auf eine vorzeitige Rente entscheiden, wird ausgehebelt. Der Wille des betroffenen Menschen spielt keine Rolle. Daher handelt es sich um einen massiven Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen – um eine Zwangsverrentung.

Eine Zwangsverrentung bedeutet einen massiven Eingriff in die erworbenen sozialen Rechte. Die Rentenansprüche werden massiv und dauerhaft abgesenkt, weil für jeden Monat des vorzeitigen Renteneintritts ein Abschlag von der Rente in Höhe von 0,3 Prozentpunkten erfolgt. Dies bedeutet aktuell (im Jahr 2014) bei einem Renteneintritt mit Vollendung des 63. Lebensjahrs eine lebenslange Kürzung in der Regel von 8,7 Prozent des Rentenanspruchs. Die sozialen Kosten der Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter werden damit auf die betroffenen Personen abgewälzt.«

Und berücksichtigt man, dass trotz der temporären „Seitwärts-Schleife“ mit der aktuellen Regelung zur abschlagsfreien „Rente mit 63“ der grundsätzliche, sukzessive Anstieg des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre fortgeführt wird, dann wird sich ohne Änderungen die Abschlagsproblematik noch weiter verschärfen: Aufgrund der Erhöhung des Renteneintrittsalter auf 67 Jahre werden die Abschläge weiter steigen, maximal auf 14,4 Prozent bei einem um vier Jahre vorgezogenen Rentenbeginn.

Stefan von Borstel und Flora Wisdorff haben sich mit der Thematik in ihrem Artikel Immer mehr Hartz-IV-Empfänger zwangsverrentet auseinandergesetzt und die unterschiedlichen Positionen skizziert. Sie berichten mit Bezug auf Daten der Bundesagentur für Arbeit (vgl. dazu auch die Abbildung): »In den letzten Jahren sind immer mehr Hartz-IV-Empfänger schon mit 63 Jahren in Rente gegangen. Waren es im Juli 2008 erst knapp 800 Rentner mit 63, waren es in diesem Juli mit knapp 2.700 mehr als dreimal so viele.« Allerdings – darauf weisen sie beiden auch hin – kann man der Statistik nicht entnehmen, wer freiwillig und wer gezwungenermaßen in Rente geht.
Wie verlaufen die Diskussionslinien? Die Linke, Gewerkschaften und Sozialverbände fordern die Abschaffung der Zwangsverrentungsregelung im SGB II. Und auch die SPD würde angeblich die derzeitige Regelung, die 2008 von der damaligen großen Koalition eingeführt wurde, gerne entschärfen.

Wir werden an dieser Stelle zugleich auch konfrontiert mit den Besonderheiten unterschiedlicher Sicherungssysteme, denn wenn ein bisheriger Hartz IV-Empfänger zwangsverrentet wird mit 63 und dann – was durchaus wahrscheinlich ist angesichts vieler Erwerbsbiografien dieser Menschen – eine Rente bezieht, die Bedürftigkeit auslöst bzw. diese fortführt, dann bekommen die Betroffenen aber keinen Zugang zur „Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte“, denn deren Leistungsverpflichtung, konkret also die aufstockenden Leistungen, beginnt erst mit dem Überschreiten des gesetzlichen Renteneintrittsalters, das aber bei einer vorgezogenen Altersrente naturgemäß noch gar nicht erreicht werden kann. Folglich müssten die Betroffenen auf die „Rest-Sozialhilfe“ des SGB XII verwiesen werden. Hier nun aber gibt es folgendes Problem, von dem Borstel und Wisdorff in ihrem Artikel unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes berichten:

»Da Hartz-IV-Bezieher … mehr Vermögen besitzen dürfen als Sozialhilfeempfänger, müssten die Betroffenen dann bis zu 7600 Euro an eigenem Vermögen aufbrauchen, warnt der Paritätische. Hinzu kommt der „Unterhaltsrückgriff“ in der Sozialhilfe: Kinder müssen für ihre bedürftigen Eltern aufkommen. Das gibt es bei Hartz IV nicht.« Und in der Grundsicherung für Ältere auch nicht, muss man ergänzen.

Der DGB kritisiert, es »drohe ein „Verschiebebahnhof“ zwischen verschiedenen Sozialsystemen: Die Arbeitslosen wechselten von Hartz IV in die von den Kommunen zu zahlende Sozialhilfe und dann in die Grundsicherung im Alter.« Nicht zu unterschätzen sein zudem ein „arbeitsmarktpolitischer Fehlanreiz“ für die Jobcenter, sich weniger intensiv um die rentennahen Jahrgänge zu kümmern.
„Interessant“ ist die Position der Kommunen und Landkreise: »Für arbeitende Hartz-IV-Bezieher könnte die Rente auch lukrativ sein, da die Einnahmen aus Minijobs bis 450 Euro nicht mit der Rente verrechnet werden. „Diese Konstellation ist in der Praxis häufig anzutreffen“, heißt es in der Stellungnahme. Schließlich gibt es knapp eine Million Rentner mit einem Minijob. Die Kommunen und Kreise lehnen deshalb eine Abschaffung der Zwangsverrentung ab.« Nicht wirklich überraschend ist die Tatsache, dass auch die Arbeitgeber diese Position teilen. Von ihnen wird die Position berichtet, die Rentner könnten ja auch arbeiten.

Fazit: Genau an dieser Stelle liegt der Überlappungsbereich zu einer grundsätzlichen, den Personenkreis der Hartz IV-Empfänger weit überschreitenden, weil für alle relevanten Diskussion, die derzeit innerhalb der Großen Koalition unter Stichworten wie „Flexi“- oder „Teil-Rente“ geführt wird. Nicht nur längeres, sondern vor allem zusätzliches Arbeiten im Alter soll attraktiver werden. Zyniker werden an dieser Stelle die These aufstellen, dass es vor allem darum geht, angesichts des erheblichen Absinkens des Rentenniveaus und des damit verbundenen Anstiegs der Altersarmut die „Möglichkeiten“ zu erweitern, dass die armen Alten sich dann halt was dazu verdienen können/müssen. Wobei die Betonung dann eher auf dem „müssen“ liegt. Gleichzeitig kann man sie dann immer auf diese „Möglichkeit“ eines Zuverdienstes verweisen und das Problem der „Altersarmut“ als gelöst definieren, wenn denn die Betroffenen von den verbesserten rechtlichen Rahmenbedingungen eines Zuverdienstes Gebrauch machen.

Dabei wäre die „richtige“ Lösung doch eigentlich so naheliegend: Wenn es tatsächlich das Bestreben ist, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und Anreize zu setzen, möglichst lange zu arbeiten, dann müsste das auch für die Hartz IV-Empfänger gelten. Und man müsste sie entsprechend betreuen und alle Anreize beseitigen, dass sie schon vorher ausgelagert werden in andere Sicherungssysteme, bei denen man zugleich die Sicherungsfunktionalität reduziert hat. Vor diesem Hintergrund muss mindestens die Zwangsverrentung schlichtweg abgeschafft werden.