Immer wieder die schwarzen Schafe. Unter den Pflegediensten. Und da gibt es nicht nur Betrug, sondern auch wirklich dreiste Versuche, Kontrolle zu verhindern

Stellen wir uns einmal vor, sie unterschreiben als Autofahrer eine Bescheinigung, dass sie auf gar keinen Fall dem TÜV erlauben, ihr Fahrzeug auf technische Mängel zu untersuchen. Sie verbitten sich ausdrücklich eine solche Prüfung und untersagen auch den Zugang zum Fahrzeug. Je nach Zustand der Rostlaube, mit der man (noch) unterwegs ist, wird der eine oder andere sicherlich Gefallen finden an einem solchen Gedankenspiel – aber die große Mehrheit wird erkennen, dass ein derartiges Ausklinken einzelner Autofahrer natürlich angesichts der Bedeutung einer regelmäßigen Inspektion der Fahrtauglichkeit für die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer eine hanebüchene Vorstellung ist.

Nicht aber so in der Pflege. Bei pflegebedürftigen Menschen bleibt das offensichtlich nicht nur eine kabarettistisch daherkommende Einlage, sondern es wird in die Tat umgesetzt. Immer wieder wurde über betrügerische Aktivitäten in der Altenpflege berichtet. Und offensichtlich ist für jeden, der einen etwas genaueren Blick auf die Bedingungen wirft, unter denen die Pflegedienste ihre Leistungen abrechnen, dass das bestehende, höchst komplexe System Anreize setzt, an der einen oder anderen Stelle vom Pfad der Wahrheit abzuweichen und in einigen wenigen Fällen sogar ein ganzes Geschäftsmodell auf der systematischen Ausplünderung der Pflegekassen aufzubauen.

Über eine neue und wirklich mehr als dreiste Attacke gegen die (möglichen) Kontrollen, mit denen man betrügerisches Abrechnungsverhalten aufdecken könnte, erfährt man in diesem Artikel von Armin Geier so einiges: Geheimakte Pflege: Mieser Trick auf Kosten der Senioren, so lautet die Überschrift:

»Wo werden Pflegebedürftige schlecht versorgt? Wo wird Senioren mehr berechnet, als eigentlich geleistet wird? Das herauszufinden, ist unter anderem die Aufgabe des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MdK). Täglich kontrolliert die Pflege-Polizei in Heimen oder bei Menschen zu Hause, die dort von ambulanten Diensten gepflegt werden. Bei rund 350.000 Pflegebedürftigen allein in Bayern kein leichter Job – besonders da manche Pflegeanbieter alles dafür tun, die Arbeit der Kontrolleure zu erschweren.«

Und wie machen die das? Sie lassen Pflegebedürftige ein Formular unterschreiben, das jede Prüfung des MdK von vornherein verbietet. Und das soll funktionieren? Offensichtlich, denn: Wenn der Medizinische Dienst Patienten mit einer Pflegestufe befragen und untersuchen will, muss er diese erst um ihre Erlaubnis fragen. Das ist aus Datenschutzgründen so geregelt. Wenn die Betroffenen nicht einwilligen, dann dürfen die MdK-Prüfer theoretisch nicht einmal die Wohnung betreten, wenn Menschen zu Hause versorgt werden.

Und genau an dieser Stelle setzt nun die neueste Masche an, wie Armin Geier berichtet:

»Seit Wochen kursiert ein juristisches Schreiben, das manche ambulante Pflegedienste ihren Kunden vorlegen – und unterschreiben lassen. Darin heißt es unter anderem: „Weiterhin widerspreche ich bzw. wünsche ich ausdrücklich nicht, von den Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung im Rahmen der Qualitätsprüfung nach §§112 ff SGB XI angerufen, besucht und/oder befragt zu werden.“ Heißt im Klartext: „Ich will keine Kontrolle meiner Versorgung.“ Und das ist nicht alles: Sogar in die Pflegedokumentation darf der MDK keinen Blick mehr werfen.«

Der letzte Punkt ist natürlich vor dem Hintergrund der Vorwürfe und tatsächlichen Begebenheiten von Abrechnungsbetrug nur grotesk, denn wie soll man einen solchen nachweisen, ohne die Pflegedokumentation prüfen zu können.

Die Reaktionen sind entsprechend: „Hier wird versucht, unsere Arbeit regelrecht zu torpedieren“, so wird Ottilie Randzio vom bayerischen MdK zitiert. Und weiter: „Dieser Brief, den alte Menschen natürlich oftmals einfach unterschreiben, macht unsere Arbeit unmöglich“.
Der Pflegeexperte Claus Fussek: „Hier sichern sich einige ambulante Dienste ab. So können sie ohne jede Kontrolle machen, was sie wollen. Das geht gar nicht.“

Diese neue, wirklich beklagenswerte Entwicklung muss eingebettet werden in eine umfassende kritische Debatte über das, was in dem großen weiten Feld der Pflege leider auch an missbräuchlichen Ausformungen zu beobachten ist. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Extrem pflegebedürftig von Nadine Oberhuber. Und sie verweist gleich am Anfang ihres Beitrags auf das Geldvolumen, das im Bereich der Altenpflege bewegt wird: »Gut 61 Milliarden Euro fließen von staatlicher Seite und aus privaten Haushaltskassen in die Pflegebranche. Damit ließen sich die rund 2,5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland schon ordentlich betreuen.« Aber solche Summen locken natürlich auch die schwarzen Schafe an wie das Licht die Motten – vor allem, da hätten wir schon eine Verbindung zum ersten Teil des Beitrags, wenn die Kontroll- und daraus resultierend die Verfolgungs- und Bestrafungswahrscheinlichkeit um ein Vielfaches geringer ist als beispielsweise auf illegalen Geschäftsfeldern oder sogar nicht existiert.

Und man sollte sich einfach mal die große Zahl der Anbieter verdeutlichen (aus der an sich schon ein echtes quantitatives Kontrollproblem erwächst, selbst wenn man kontrollieren darf): Bundesweit gibt es 12.300 ambulante Pflegedienste und 12.400 Pflegeheime. Um das an dieser Stelle gleich in aller Deutlichkeit zu sagen – die meisten dieser Dienste und Heime arbeitet legal, oftmals unter großem Engagement bis hin zur Aufopferung der Beschäftigten unter sicher nicht guten Rahmenbedingungen.
Gerade deshalb muss man kriminelle Machenschaften thematisieren und massiv verfolgen, droht ansonsten doch die Gefahr, dass alle Anbieter in eine Art Kollektivhaftung genommen werden.

Oberhuber zitiert Christoph Jaschke, Leiter des Bereichs Pflege und Betreuung bei Transparency International Deutschland, mit diesen Worten: „Wir haben schon seit Jahren Informationen darüber, dass es Bestechung und unglaubliche Betrügereien in der Branche gibt.“ Der eine oder andere wird an dieser Stelle an den kürzlich publik gewordenen Abrechnungsskandal denken, bei dem sich mutmaßlich vor allem von russisch-stämmigen Inhabern geführte Pflegedienste über nicht erbrachte Leistungen bereichert haben sollen. Vgl. dazu ausführlicher die Erläuterungen in meinem Blog-Beitrag Eine russische Pflegemafia inmitten unseres Landes? Über milliardenschwere Betrugsvorwürfe gegen Pflegedienste und politische Reflexe vom 18. April 2016.

Aber hat nicht die Politik zwischenzeitlich reagiert? Im Kontext der Pflegereformgesetzgebung hat sie in das letzte Pflegestärkungsgesetz (III) gleichsam im Endspurt der Gesetzgebung auch Maßnahmen zur Verhinderung von Pflegebetrug aufgenommen. Hierzu schreibt das Bundesgesundheitsministerium unter der Überschrift Fragen und Antworten zum Pflegestärkungsgesetz III:


Welche Maßnahmen zur Verhinderung von Pflegebetrug sieht das Dritte Pflegestärkungsgesetz vor?


Prüfung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege
Schon jetzt kann der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Qualität der Arbeit und die Abrechnungen ambulanter Pflegedienste prüfen. Bisher jedoch durfte der MDK systematisch nur diejenigen ambulanten Pflegedienste prüfen, die auch Pflegeleistungen im Auftrag der Pflegekassen erbringen. Dies soll durch das Dritte Pflegestärkungsgesetz geändert werden: Künftig kann der MDK auch ambulante Pflegedienste systematisch prüfen, die ausschließlich im Auftrag der Krankenkassen Leistungen der häuslichen Krankenpflege (HKP) erbringen.


Prüfung der Leistungen im häuslichen Umfeld
Die Gutachterinnen und Gutachter des MDK suchen bei ihren Prüfungen auch einzelne Personen auf und sehen sich die Versorgung durch den Pflegedienst vor Ort an. Auch Personen, die nur häusliche Krankenpflege erhalten, sollen zukünftig in diese Stichproben einbezogen werden.


Prüfung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Wohngruppen
Prüfungen durch den MDK sollen künftig auch in Wohngruppen stattfinden, in denen mehrere Pflegebedürftige gepflegt werden und stationsähnliche intensivpflegerische Leistungen der häuslichen Krankenpflege erhalten. Damit wird die Prüfung ermöglicht, ob und inwieweit abgerechnete Leistungen auch erbracht wurden – und zwar von dafür ausgebildeten Pflegekräften.


Mitwirkung der Pflegedienste an den Prüfungen
Die Pflegedienste der häuslichen Krankenpflege sollen verpflichtet werden, sich an den neu geregelten Qualitäts- und Abrechnungsprüfungen des Medizinischen Dienstes zu beteiligen. Darüber hinaus muss auch bei Leistungen der häuslichen Krankenpflege die Gesamtzeit der Leistungserbringung, d. h. die Zeit des Einsatzes des Pflegedienstes bei dem Versicherten, dokumentiert werden. Die Krankenkasse kann anhand dieser Angaben leichter einschätzen, ob die abgerechneten Leistungen in der angegebenen Zeit erbracht werden konnten.


Ausweitung der Prüfmöglichkeiten im Bereich der Pflegeversicherung
Schon jetzt hat der MDK regelmäßig im Rahmen der Qualitätsprüfungen auch die Abrechnungen eines Pflegedienstes zu prüfen. Mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz sollen künftig zudem die Landesverbände der Pflegekassen davon unabhängige Abrechnungsprüfungen veranlassen können, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte für ein fehlerhaftes Abrechnen gibt. Das gilt dann für sämtliche abgerechneten wie auch erstattete Pflegeleistungen im ambulanten und stationären Bereich, sowie auch für Leistungen für Unterkunft und Verpflegung in einem Pflegeheim.


Vorgehen gegen auffällig gewordene Anbieter
Die Pflegeselbstverwaltung vereinbart in den Bundesländern Rahmenverträge mit dem Ziel, eine wirksame und wirtschaftliche pflegerische Versorgung sicherzustellen. Diese Verträge sind für alle zugelassenen Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste verbindlich. Die Vereinbarungspartner auf Landesebene sollen nun gesetzlich verpflichtet werden, die Vorgaben für die Vertragsvoraussetzung und Vertragserfüllung so zu gestalten, dass nachhaltig und effektiv gegen bereits auffällig gewordene Anbieter vorgegangen werden kann. Damit soll sichergestellt werden, dass sich bspw. kriminelle Pflegedienste nicht einfach unter neuem Namen oder über Strohmänner eine neue Zulassung erschleichen können.

Man darf gespannt sein, wie vor diesem neuen gesetzlichen Umfeld die am Anfang dieses Beitrags geschilderte Variante mit dem „Verweigerungsschreiben“ der Betroffenen beurteilt wird. In dem zitierten Artikel Geheimakte Pflege: Mieser Trick auf Kosten der Senioren von Armin Geier erfahren wir dazu mit Blick auf das zuständige Staatsministerium von Melanie Huml (CSU): »Wie die tz erfuhr, wird in ihrem Haus derzeit überlegt, wie man gegen den Brief vorgehen kann.«

Die Zahl der Pflegebedürftigen könnte stärker steigen als bislang erwartet. Der Pflegereport 2015 mit neuen Zahlen und einem Schwerpunktthema zur häuslichen Pflege

Erst vor wenigen Tagen ist die zweite Stufe der Pflegereform im Bundestag verabschiedet worden – vgl. dazu den Blog-Beitrag Die Altenpflege und die Pflegereform II. Auf der einen Seite himmelhoch jauchzend, auf der anderen Seite zentrale Baustellen, auf denen nichts passiert und Vertröstungen produziert werden vom 14.11.2015.

Und kurz darauf wurde nun der Pflegereport 2015, herausgegeben von der Krankenkasse BARMER GEK und verfasst von Heinz Rothgang mit weiteren Autoren, veröffentlicht.  Und eine der Botschaften nach dem Blick in die Glaskugel lautet: »Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland steigt stärker als bisher vorausgesagt. Im Jahr 2060 werden geschätzt 4,52 Millionen Menschen gepflegt werden. Das sind 221.000 mehr, als bisherige Prognosen erwarten ließen«, kann man der Pressemitteilung zur Veröffentlichung des Reports entnehmen. Die Anpassung der Prognose basiert auf einer Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011, die mit den bisherigen Annahmen verglichen wurden. »Die Studie zeigt zugleich, dass der Anteil hochbetagter Pflegebedürftiger drastisch wachsen wird. 60 Prozent der pflegebedürftigen Männer und 70 Prozent der pflegebedürftigen Frauen werden im Jahr 2060 85 Jahre oder älter sein. Heute liegen die entsprechenden Werte bei 30 beziehungsweise 50 Prozent.«

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Pressemitteilung überschrieben wurde mit Zahl der Pflegebedürftigen steigt stärker als erwartet – in der Überschrift zu diesem Blog-Beitrag wurde daraus bewusst könnte stärker steigen gemacht. Denn es handelt sich um eine exakt daherkommende Vorausberechnung über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren! Bei aller Wertschätzung für die Erkenntnisse und Beiträge der Demografie – aber ein solcher Zeithorizont ist mehr als wagemutig. Wenn überhaupt kann man grobe Schneisen der Entwicklung angeben, immer unter Berücksichtigung der getroffenen Annahmen. Hier werden aber konkrete Zahlen genannt – „221.000 mehr, als bisherige Prognosen erwarten ließen “ – und das ist nicht wirklich hilfreich, man könnte auch sagen: nicht seriös. Vor allem wenn man weiß, dass auch der Zensus 2011 immer noch zahlreiche offene Datenfragen mit sich bringt, es sich um keine wirkliche Volkszählung handelt. Von den Veränderungen bei den Wanderungen am aktuellen Rand mal ganz zu schweigen, die schlichtweg nicht ausreichend Berücksichtigung finden (konnten). Wie wackelig „Prognosen“ oder gar sozialpolitische Schlussfolgerungen sind auf dieser Datenbasis, zeigen beispielsweise diese Blog-Beiträge: Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet vom 6. Mai 2015 oder Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ vom 28. April 2015.

Interessante Daten liefert der Pflegereport 2015 zur Pflegeinfrastruktur: »Die Kapazitäten in der ambulanten und stationären Versorgung sind in den Jahren 1999 bis 2013 deutlich schneller angestiegen als die Zahl der Pflegebedürftigen. Während diese um rund 30 Prozent zunahm, hat das Pflegedienstpersonal, gerechnet in Vollzeitäquivalenten, um knapp 70 Prozent zugenommen. Dieser Anstieg ist vor allem auf Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte zurückzuführen. Im stationären Bereich ist die Bettenzahl um 39,9 Prozent gestiegen. Die Anzahl der stationären Pflegeeinrichtungen stieg im gleichen Zeitraum um 47,1 Prozent. Der Kapazitätsausbau hat dazu geführt, bekannte Versorgungsdefizite im ambulanten Bereich und Wartelisten im stationären abzubauen.«

Sowohl Frauen als auch Männer müssen häufiger mit Pflegebedürftigkeit rechnen. »Von den im Jahr 2013 Verstorbenen waren bereits drei Viertel der Frauen und 57 Prozent der Männer pflegebedürftig. Auch die Dauer der Pflege weitet sich laut Pflegereport der BARMER GEK aus. Von den Männern waren 22 Prozent und von den Frauen sogar 41 Prozent vor ihrem Tod im Jahr 2013 länger als zwei Jahre gepflegt worden.«

Pflege findet immer mehr zu Hause statt. So sank der Anteil vollstationärer Pflege zwischen den Jahren 2005 und 2013 von 31,8 auf 29,1 Prozent.

Zum Thema häusliche Pflege erfahren wir: Die heutige Pflege von rund 1,87 Millionen Menschen im häuslichen Umfeld wird von rund 3,7 Millionen Angehörigen geleistet. »Ein Drittel davon seien Männer. Pflegende Frauen widmeten sich überwiegend im Alter von 40 bis 75 und damit fünf Jahre früher als Männer der Pflege. Werden Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz gepflegt, also beispielsweise Demenzkranke, sind die pflegenden Frauen und Männer bereits deutlich älter. Die Pflege Demenzkranker ist zudem deutlich zeitaufwändiger. Sie beträgt bei einem Drittel der Betroffenen zwischen vier und acht Stunden täglich, bei einem weiteren Drittel sogar zwischen acht und zwölf Stunden. Bei anderen Pflegebedürftigen dominiere ein relativ geringer täglicher Aufwand von ein bis zwei Stunden.«

Interessant ist auch mal wieder die (selektive) Rezeption des neuen Pflegereports in einigen Medien. Beispielsweise in dem Artikel Die „sehr großzügige“ Pflegereform von Gesundheitsminister Gröhe von Cordula Tutt in der Online-Ausgabe der WirtschaftsWoche.  Schon der Anfang des Beitrags verdeutlicht die Stoßrichtung: »Eine Pflege-Studie zeigt: Die Bundesregierung weitet die Leistungen der Versicherung stark aus – doch sie schätzt die Zahl künftiger Hilfebedürftiger zu niedrig ein. Beides dürfte sich bald rächen.«

Die Autorin zieht zwei Botschaften aus dem neuen Pflegereport:

»Die Leistungen seien stärker ausgeweitet worden als von den eigenen Experten der Regierung zuvor empfohlen. Das kommt zwar bei Wählern gut an, kann aber bedeuten, dass das Geld in wenigen Jahren bereits wieder fehlt. Außerdem steige die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland nach den neuen Zensuszahlen stärker als bisher vorhergesagt, heißt es.«

Und worin besteht die „unerwartete Großzügigkeit“ der Pflegereform der Bundesregierung?

»Anders als vom eigenen Expertenbeirat empfohlen, würden nun noch mehr Menschen als pflegebedürftig gelten und hätten Anspruch auf Leistungen. Außerdem würden noch mehr Versicherte bei der Umstellung von bisher drei Pflegestufen auf künftig fünf Pflegegrade höher bewertet und bekämen allein schon deshalb mehr Geld. Die Bundesregierung habe auch bei Pflegebedürftigen keine Abstriche gemacht, die bisher im Vergleich großzügig abgeschnitten hätten.«

Und was stört die Verfasserin des Artikels? Hier bringt sie es auf den Punkt:

»Auch die Pflegereform verfehlt nun den Anspruch, sparsam und effizient Leistungen umzustellen. Das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsinstitut (RWI) berechnete zuletzt, dass die Gröheschen Gesetze zwischen 2015 und 2020 bis zu 40 Milliarden Euro Mehrausgaben im Gesundheitssystem bedeuten – auch wenn nicht alle Kosten direkt bei den Versicherten anfallen, sondern auch beim Staat. Demografiefest sieht aber anders aus.«

Man darf an dieser Stelle der Verfasserin zurufen – ja und? Was ist die Alternative? Die Ausgaben werden anfallen, wenn man eine halbwegs akzeptable Pflege gewährleisten will. Und man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass es viele Pflegeexperten gibt, die sagen, dass es bereits im bestehenden System eine eklatante Finanzierungslücke gibt und auch die nun verabschiedeten Reformbausteine würden nur einen Teil davon zu kompensieren versuchen.

Offensichtlich stört sie sich an der Finanzierung über die Pflegeversicherung. Das kann man machen – vor dem Hintergrund des Wissens allerdings, dass die Pflegeversicherung lediglich eine Teilkaskoversicherung ist und in den vergangenen Jahren zumindest ein schleichender Realwertverlust der Leistungen stattgefunden hat, weil es keine adäquate Dynamisierung gab. Spiegelbildlich sind die von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen aufzubringenden Anteile an der Finanzierung der Pflege angestiegen.

Die – in dem Artikel allerdings nicht mal embryonal zu Ende gedachten – Konsequenzen wären: Entweder man deckelt und kürzt die Leistungen aus der bestehenden, also aus Beiträgen finanzierten Pflegeversicherung und erhöht damit weiter und stärker als bislang die Eigenanteile der Betroffenen und ihrer Familien bzw. der kommunalen Sozialhilfe („Hilfe zur Pflege“ nach dem SGB XII). Oder man geht hin und überdenkt die Finanzierung der Pflegeversicherung, die als jüngster Spross der Sozialversicherungen in Deutschland wie die anderen auch im Wesentlichen eine umlagfinanzierte und auf Beiträgen aus der sozialversicherungspflichtigen Arbeit basierende Versicherung darstellt. Man könnte entweder die Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung erweitern – Stichwort: Bürgerversicherung – oder aber man stellt das System um auf ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz. Aber davon lesen wir nichts in dem Artikel. Möglicherweise glaubt oder träumt die Autorin von einer stärkeren „Eigenvorsorge“ der Menschen in Form einer zusätzlichen privaten Absicherung des Pflegerisikos. Dann aber kennt sie nicht wirklich die Einkommenslage von Millionen Haushalten in unserem Land. Selbst wenn die wollten, könnten viele nicht. Weil nicht genügend da ist. Denn die sollen bekanntlich auch noch fürs Alter privat vorsorgen, Stichwort Riester-Rente.

Und wieder einmal zeigt sich, wie fatal es ist, das keine substanzielle Debatte stattfindet über die Weiterentwicklung der Finanzierung der Pflege. Aus Sicht der Politik derzeit auch verständlich, warum soll man diese Baustelle eröffnen, wenn es doch noch ganz gut läuft und die Systeme (noch) funktionieren. Wenn man sich an den Reserven der Pflegeversicherung bedienen und diese erst einmal verfrühstücken kann. Aber das wird natürlich nicht auf Dauer funktionieren.

Die Sozialversicherung und ihre Kinder. Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts: Keine Beitragsentlastung für Eltern

Auf so eine klare Ansage hoffen auch heute viele Eltern und ihre Vertreter mit Blick auf die beitragsfinanzierten Sozialversicherungen: »Es ist mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.« So das Bundesverfassungsgericht in einer wegweisenden Entscheidung aus dem Jahr 2001 (Urteil vom 03. April 2001 – 1 BvR 1629/94). Und fast 15 Jahre später hat man sich erhofft, dass das Bundessozialgericht (BSG) dieser Sichtweise der Verfassungsrichter von damals folgen würde – hinsichtlich der beitragsfinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung und darüber hinaus auch für Kranken- und erneut Pflegeversicherung, also für das gesamte Sozialversicherungssystem.

Und wirft man einen Blick in das BVerfG-Urteil aus dem Jahr 2001, dann könnte man schon auf den Gedanken kommen, dass sich Parallelen herstellen lassen. Zur Verfassungswidrigkeit eines gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrags wurde ausgeführt: »Die Erziehungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder. Dabei ist entscheidend, dass der durch den Eintritt des Versicherungsfalls verursachte finanzielle Bedarf überproportional häufig in der Großelterngeneration (60 Jahre und älter) auftritt. Die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, nimmt mit dem Lebensalter deutlich zu. Sie steigt jenseits des 60. Lebensjahres zunächst leicht an, um dann jenseits des 80. Lebensjahres zu einem die Situation des Einzelnen maßgeblich prägenden Risiko zu werden … Wird ein solches allgemeines, regelmäßig erst in höherem Alter auftretendes Lebensrisiko durch ein Umlageverfahren finanziert, so hat die Erziehungsleistung konstitutive Bedeutung für die Funktionsfähigkeit dieses Systems. Denn bei Eintritt der ganz überwiegenden Zahl der Versicherungsfälle ist das Umlageverfahren auf die Beiträge der nachwachsenden Generation angewiesen.« (Randziffer 56). Wenn entscheidend ist, dass der eintretende Bedarf überproportional häufig in der älteren Generation eintritt – ist das dann nicht gerade in der Rentenversicherung systembedingt hoch relevant?  

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