Sichtbare und unsichtbare Hochrisikogruppen der Corona-Pandemie? Eine große offene Frage mit Blick auf die vielen Pflegebedürftigen, die nicht im Heim sind

Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte es ja bereits angekündigt – am Beginn der nun anlaufenden Impfungen könne es „etwas ruckeln“. In dem vergangenen Tagen konnte man hingegen durchaus den Eindruck bekommen, dass es nicht nur ein wenig ruckelt, sondern dass der Impfkarren gegen die Wand gefahren wurde. Massive Beschwerden nicht nur über ein angebliches Versagen bei der Beschaffung ausreichender Impfstoffmengen oder der mehr als überschaubare Start zahlreicher Impfzentren wurde und wird diskutiert, sondern auch eine – angebliche – Impfzurückhaltung der Pflegekräfte (und der Ärzte) wird mit Inbrunst debattiert, obgleich keine auch nur annähernd repräsentativen Daten vorliegen und man sich vor allem der anekdotischen Evidenz bedient.

Und selbst hier wird die Hierarchie der Gesundheitsberufe reproduziert: »Die Impfkampagne gegen das Coronavirus in Deutschland läuft derzeit nur schleppend an. Ausgerechnet Heim- und Klinikmitarbeiter halten sich bisher zurück. Zum Teil geben Kliniken die Dosen sogar zurück«, so beginnt beispielsweise dieser Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Warum so viele Pflegekräfte die Impfungen scheuen. Es ist auffällig, dass schon im Titel nur von den Pflegekräften die Rede ist. Was ist mit den Ärzten? Auch aus diesem Lager wird immer wieder von einer gewissen Impfzurückhaltung gesprochen?

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Die Grundlinien der Pflegereform 2021 werden in Umrissen erkennbar. Man will die Pflegeversicherung „neu denken“

Anfang Oktober 2020 wurde berichtet, der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plane eine Pflegereform, mit der die Eigenanteile, die von den Pflegebedürftigen gezahlt werden müssen, wenn sie in einem Pflegeheim leben, begrenzt werden sollen, denn bislang steigen und steigen sie und immer öfter wird in der Berichterstattung deutlich herausgestellt, dass das so nicht weitergehen kann bzw. darf. Im Mittelpunkt stand vor wenigen Wochen diese Zielsetzung des Ministers: „Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen“, sagte Spahn der „Bild am Sonntag“. Wie heißt es so schön: In der Kürze liegt die Würze – aber eben auch, gerade in so komplexen Systemen wie der Sozialpolitik – die Quelle für zahlreiche Fehler und falsche Hoffnungen, die man den Menschen macht. Darauf wurde bereits ausführlich in dem hier am 6. Oktober 2020 veröffentlichten Beitrag Pflegereform, die nächste: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will „den“ Eigenanteil in der stationären Pflege auf 700 Euro im Monat begrenzen. Da muss man wieder einmal genauer hinschauen hingewiesen – beispielsweise auf den Tatbestand, dass eben nicht „der“ Eigenanteil begrenzt werden soll, sondern einer der derzeit vorhandenen drei Eigenanteile, die in der Summe eine durchschnittliche Belastung der Pflegebedürftigen in Höhe von mehr als 2.000 Euro im Monat mit sich bringen.

Aber zwischenzeitlich hat der Minister und sein Ministerium nachgelegt und Eckpunkte für eine „Pflegereform 2021“ unter die Leute gestreut, die weit über den einen Punkt mit den Eigenanteilen hinausgehen. Zu dem, was uns für das kommende Jahr an Veränderungen bzw. Erweiterungen in Aussicht gestellt wird, eine Übersicht:

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Häusliche Pflege in Corona-Zeiten: Die Nicht-Aufmerksamkeit für die „unsichtbaren“ Pflegenden

In der derzeit ablaufenden zweiten Corona-Welle stehen wieder einmal die Krankenhäuser und darunter die Intensivstationen im Mittelpunkt der aufgeregten Berichterstattung – Intensivstationen: Sorge vor der Belastungsgrenze oder Mehr Intensivpatienten: Kliniken treten auf die Bremse oder Immer mehr Covid-Patienten müssen ins Krankenhaus, die Aufzählung solcher Berichte ließe sich endlos fortsetzen. Und immer wieder wird ein zentrales Merkmal erkennbar: Der Mangel an Pflegepersonal mit der notwendigen fachlichen Expertise auf den Intensivstationen ist das Problem. Nicht fehlende Betten oder Beatmungsgeräte, sondern Menschen. Und eben nicht irgendwelche Menschen, sondern die müssen gerade hier, am Ende der Corona-Kette, auch noch passungsfähig sein zu einem Teilbereich der Medizin und der Pflege, wo es in den vergangenen Jahren enorme technische und prozessuale Fortschritte gegeben hat, dem viele Menschen ihr Überleben verdanken. Nicht ohne Grund braucht man in der Intensivpflege eine zweijährige Fachweiterbildung.

So wichtig es ist, über die offensichtlichen Engpassfaktoren in der Intensivmedizin zu diskutieren und auch darüber, was man hätte machen müssen bzw. können seit der ersten Welle – man darf nicht die großen anderen Bereiche, in den die pflegerische Versorgung von Millionen Menschen sichergestellt werden muss, aus den Augen verlieren. Dabei muss man zur Kenntnis nehmen, dass in der Langzeitpflege wenn, dann vor allem über die Pflegeheime berichtet wird (unter den medialen Rahmenbedingungen einer Aufmerksamkeitsökonomie vor allem – erneut – bei Corona-Fällen unter den Bewohnern und den Pflegekräften in einzelnen Heimen). Die Situation der ambulanten Pflegedienste ist auch derzeit, wie im Frühjahr, kaum bis gar nicht auf dem Schirm der Berichterstattung. Und wie sieht es dort aus, wo die meisten Pflegebedürftigen, weit mehr als 70 Prozent, versorgt und gepflegt werden? Also in der häuslichen Pflege? Und wie geht es den vielen pflegenden Angehörigen, ohne die innerhalb von Minuten das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen würde?

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Ein un-mögliches Geschäftsmodell: Die sogenannte „24-Stunden-Betreuung“ als eigene Säule des deutschen Pflegesystems wird von der Rechtsprechung ins Visier genommen

Es gibt zahlreiche Urteile, die Tag für Tag von deutschen Gerichten gefällt werden. Die meisten interessieren nur die unmittelbar Betroffenen. Aber einige Entscheidungen haben über den konkreten Einzelfall hinaus eine solche Bedeutung, dass sie ein Erdbeben verursachen und viele andere, nur scheinbar Unbeteiligte, mehr als unruhig werden. Mit einer solchen hat man es zu tun, wenn man sich das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 17. August 2020, Az. 21 Sa 1900/19, anschaut: Mindestlohn für Einsatz in der umfassenden häuslichen Betreuung, so ist die Pressemitteilung des Gerichts dazu überschrieben. Schauen wir uns zuerst den Sachverhalt an, der dem Verfahren zugrundelag:

»Die Klägerin, eine bulgarische Staatsangehörige, wurde auf Vermittlung einer deutschen Agentur, die mit dem Angebot „24 Stunden Pflege zu Hause“ wirbt, von ihrem in Bulgarien ansässigen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt, um eine hilfsbedürftige 96-jährige Dame zu betreuen. In dem Arbeitsvertrag der Klägerin war eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart. In dem Betreuungsvertrag mit der zu versorgenden Dame war eine umfassende Betreuung mit Körperpflege, Hilfe beim Essen, Führung des Haushalts und Gesellschaftleisten und ein Betreuungsentgelt für 30 Stunden wöchentlich vereinbart. Die Klägerin war gehalten, in der Wohnung der zu betreuenden Dame zu wohnen und zu übernachten.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin Vergütung von 24 Stunden täglich für mehrere Monate gefordert und zur Begründung ausgeführt, sie sei in dieser Zeit von 6.00 Uhr morgens bis etwa 22.00/23.00 Uhr im Einsatz gewesen und habe sich auch nachts bereithalten müssen, falls sie benötigt werde. Sie habe deshalb für die gesamte Zeit einen Anspruch auf den Mindestlohn. Der Arbeitgeber hat die behaupteten Arbeitszeiten bestritten und sich auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit berufen.«

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Vom RISG zum GKV-IPReG: Außerklinische Intensivpflege und die Angst vor einer fremdbestimmten Abschiebung aus dem eigenen Haushalt

Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat es doch wirklich nur gut gemeint: Im August des vergangenen Jahres wurde aus seinem Ministerium berichtet: »Beatmungspatientinnen und -patienten sollen nach dem Krankenhausaufenthalt besser betreut werden … Danach sollen die Qualitätsstandards für die Versorgung von Menschen, die z. B. nach einem Unfall oder aufgrund einer Erkrankung künstlich beatmet werden müssen, erhöht werden.« Um das zu erreichen, habe man den Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung von Rehabilitation und intensiv- pflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz – RISG)“ vorgelegt. Das hört sich doch alles ganz ordentlich an. Dieser erste Aufschlag wurde hier am 24. August 2019 unter der Überschrift RISGantes Vorhaben: Beatmungspatienten zukünftig (fast) immer ins Heim oder in eine Intensivpflege-WG? Von vermeintlich guten Absichten, monetären Hintergedanken und einem selbstbestimmten Leben detailliert beschrieben – und der Knackpunkt, der verständlicherweise zahlreiche Proteste der Betroffenen und ihrer Organisationen ausgelöst hat, wurde in dem damaligen Beitrag hervorgehoben:

In einem neuen § 37c SGB V (Außerklinische Intensivpflege) sollte dieser Absatz* stehen:

»Der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege besteht in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buches erbringen, oder in einer Wohneinheit … Wenn die Pflege in einer Einrichtung nach Satz 1 nicht möglich oder nicht zumutbar ist, kann die außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt oder in der Familie des Versicherten oder sonst an einem geeigneten Ort erbracht werden. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen; bei Versicherten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr ist die Pflege außerhalb des eigenen Haushalts oder der Familie in der Regel nicht zumutbar.«**

*) § 37c Absatz 2 SGB V nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Rehabilitation und intensiv-pflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz – RISG), August 2019
**) Hervorhebungen nicht im Originaltext

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