Pflegereform, die nächste: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will „den“ Eigenanteil in der stationären Pflege auf 700 Euro im Monat begrenzen. Da muss man wieder einmal genauer hinschauen

Bei den Eigenanteilen, die von den Pflegebedürftigen zugezahlt werden müssen, wenn sie in einem Pflegeheim leben, ist seit langem die Rede von ihrer Begrenzung, denn sie steigen und steigen und immer öfter wird in der Berichterstattung deutlich herausgestellt, dass das so nicht weitergehen kann bzw. darf. Der Anteil der Menschen, die mit ihren Renten (und dem zu verwertenden Vermögen) nicht mehr in der Lage sind, die steigenden Kosten zu decken, so dass die Sozialhilfe nach SGB XII einspringen muss, nimmt (wieder) zu – gerade die Entlastung der kommunalen Sozialhilfe war eines der wichtigsten Motive Anfang der 1990er Jahre gewesen, eine umlagefinanzierte Pflegeversicherung einzuführen.

Aber nun ist Erlösung in Sicht: »Die Kosten für Pflegebedürftige steigen immer weiter. Gesundheitsminister Spahn plant nun, den Eigenanteil für die stationäre Pflege zu begrenzen. Auch will er im Zuge der Pflegereform eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte durchsetzen.« Das kann man dieser Meldung entnehmen, die bereits in der Überschrift eine konkrete Euro-Summe in Aussicht stellt, wo zukünftig Schluss sein soll: Spahn will Eigenanteil auf 700 Euro begrenzen. „Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen“, sagte Spahn der „Bild am Sonntag“. „Das wären maximal 25.200 Euro. Zwar bleibt die Pflegeversicherung auch dann eine Teilkaskoversicherung. Aber der Eigenanteil wird berechenbar.“

Quelle: Screenshot Online-Ausgabe der Bild, 04.10.2020

Eine kritische Anmerkung: Es ist immer wieder erstaunlich und erscheint wie ein Reflex aus alten Zeiten, dass solche als frohe Botschaft an die Bevölkerung daherkommenden Mitteilungen über die Lautsprecher der Springer-Presse unter die Leute gebracht werden (sollen). Sicher werden sich viele noch erinnern (und wenn nicht ist die Wiedervorlage hilfreich im Lichte dessen, was bislang – nicht – passiert ist), wie nicht nur einer, sondern gleich drei Bundesminister bereits im Sommer 2018 „geschworen“ haben: Jetzt wird aber ganz bestimmt alles besser in der Langzeitpflege. Auch diese frohe Botschaft wurde über die Bild-Zeitung verteilt:

Wenn man es mehr mit den Zahlen hat, dann könnte man an dieser Stelle mal darauf hinweisen, dass die Politiker offensichtlich immer noch (gleichsam in Fortführung der überaus kompakten Regierungsphilosophie des Ex-Kanzlers Gerhard Schröder, zum Regieren brauche er „Bild“ und Glotze) auf ein seit Jahren sinkendes Schiff setzen:

Zurück zu den pflegerelevanten Inhalten: In dem, was von den Aussagen des Ministers berichtet wird (vgl. das Original-Interview mit der Bild am Sonntag vom 4. Juli 2020: Spahn: „Pflege ist die soziale Frage der 20er Jahre“), sind nun mehrere, schwerwiegende Fehler bzw. bewusste Verkürzungen enthalten.

So gibt es eben nicht „den“ Eigenanteil, sondern derzeit deren drei (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die Eigenanteile der Pflegebedürftigen (nicht nur) in den Pflegeheimen steigen – und warum der Plural wichtig ist für die Diskussion über eine Begrenzung des Eigenanteils vom 20. Februar 2020): Zum einen den „EEE“, der „Einrichtungseinheitliche Eigenanteil“, mit dem die nicht über Leistungen aus der Pflegeversicherung gedeckten Kosten der pflegerischen Versorgung (für die Pflegegrade 2-5) finanziert werden. Hinzu kommen die Kosten für „Unterkunft und Verpflegung“ sowie die „Investitionskosten“ der jeweiligen Einrichtung. Sowohl die Unterkunfts- und Verpflegungskosten wie auch die Investitionskosten müssen vollständig von den Pflegebedürftigen über deren Eigenanteile finanziert werden, für diese Posten fließt nichts von der Pflegekasse. Und die Beträge, um die es hier geht, sind erheblich – wie auch die Streuung schon auf der Ebene der Bundesländer (die sich fortsetzt auf der Ebene der einzelnen Pflegeheime, die alle unterschiedliche Sätze vereinbart haben oder bei den Investitionskosten auf die Bewohner umsetzen. Die aktuellsten Daten aus dem Juli 2020 zeigen diese Verteilung:

Dem aufmerksamen Leser wird sofort auffallen, dass die vom Minister geforderte „Begrenzung“ des Eigenanteils auf 700 Euro im Monat in etwa dem derzeit erreichten Durchschnitt des Eigenanteils für die pflegebedingten Aufwendungen, also dem EEE, über alle Bundesländer entspricht. Der liegt im Schnitt bei 786 Euro, allerdings bei einer Streuung auf der Ebene der Bundesländer zwischen 490 Euro in Thüringen bis 1.062 Euro in Baden-Württemberg. Zu beachten ist, dass die Hälfte der Bundesländer den in den Raum gestellten Kostenhöchstbetrag von 700 Euro beim „EEE“ – noch – nicht erreichen.

Die meisten Menschen, die nun in diesen Tagen mit der Verheißung des Bundesgesundheitsministers Spahn, „der“ Eigenanteil solle auf 700 Euro begrenzt werden, denken mit Sicherheit an den gesamten Eigenanteil (der sich aus den drei Einzeleigenanteile zusammensetzt), den sie zu berappen haben – der aber lag im Juli 2020 im Durchschnitt über alle Bundesländer bei stolzen 2.015 Euro (bei einer Spannweite von 1.436 Euro in Sachsen-Anhalt bis zu 2.405 Euro pro Monat in Nordrhein-Westfalen. Es geht also nicht um die Absenkung und Begrenzung der gesamten Eigenanteile, sondern „nur“ des Eigenanteils für die Pflegekosten im engeren Sinne, die nicht über die Pflegeversicherung abgedeckt sind.

In dem Interview unterschlägt der Minister das auch nicht – allerdings sind seine Ausführungen mehr als unvollständig. Er führt aus: »Allerdings werden die Kosten, die Heimbewohner neben Unterbringung und Verpflegung für die reine Pflege zahlen müssen, für immer mehr Familien zum Problem. Seit 2017 ist dieser monatliche Eigenanteil für die stationäre Pflege um durchschnittlich 238 Euro gestiegen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen brauchen aber Planungssicherheit. Das schaffen wir, indem wir den Eigenanteil begrenzen.« Er verweist also darauf, dass die Unterkunfts- und Verpflegungskosten ausgeklammert werden, unterschlägt aber den dritten und besonders problematischen Eigenanteil, der sich in den zurückliegenden Jahren zu einem „zweiten Heimentgelt“ entwickelt hat: die „Investitionskosten“. Die sind mittlerweile im groben Durchschnitt bei 455 Euro pro Monat angekommen (und hier finden wir zugleich eine kaum kontrollierte Quelle einerseits für Rendite-Strategien von auf Gewinn ausgerichteten Anlegern, andererseits verdeutlicht dieser vollständig von den Bewohnern zu tragende Eigenanteil die Privatisierung der öffentlichen Aufgabe der Investitionsförderung seitens der Länder, von denen viele sich hier einen schlanken Fuß gemacht und die Kostenlast auf die Schultern der Pflegebedürftigen verlagert haben).

Was schlägt der Herr Minister nun vor?

»Mein Vorschlag ist, dass Heimbewohner für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen. Das wären maximal 25.200 Euro. Zwar bleibt die Pflegeversicherung auch dann eine Teilkaskoversicherung. Aber der Eigenanteil wird berechenbar.«

Nein, das ist ein grober Fehler und darf einem Bundespflegeminister in einem Interview nicht passieren – oder er hat grundlegende Verständnismängel: Die Pflegeversicherung ist gerade keine Teilkaskoversicherung, sondern nur eine Teilleistungsversicherung. Und das ist kleine semantische Turnübung, sondern die Differenz markiert ein zentrales Systemproblem der Pflegefinanzierung. Denn wenn die Pflegeversicherung heute schon wenigstens eine Teilkaskoversicherung wäre, dann würden die Kostenanstiege bei den pflegebedingten Aufwendungen eben nicht zu 100 Prozent den Pflegebedürftigen in Rechnung gestellt werden (müssen). Dass das so ist, entspringt dem Charakter der Pflegeversicherung als einer Teilleistungsversicherung. Ein fester Betrag kommt in Abhängigkeit von der Schwere der Pflegebedürftigkeit zu Auszahlung – im höchsten Pflegegrad sind das derzeit maximal 2.005 Euro pro Monat. Alles, was an Kostenanstiegen auf das bestehende Gesamtheimentgelt oben drauf kommt, muss vollständig von den Pflegebedürftigen selbst finanziert werden. Wenn also im derzeitigen Gefüge die Löhne der Pflegekräfte angehoben oder die Personalschlüssel verbessert werden, dann müssen die damit verbundenen Mehrkosten auf die Heimbewohner umgelegt werden. Für die Pflegeversicherung änderst sich nichts, denn der Beteiligungsbetrag ist nach oben gedeckelt.

Wenn sich der Minister mit seinem Vorschlag durchsetzen würde, dann hätte man im Ergebnis eine „partielle (tatsächliche) Teilkaskoversicherung“ – partiell, weil eben ausdrücklich auf die pflegebedingten Aufwendungen begrenzt.

Aber wenigstens die Begrenzung einer zukünftigen Zuzahlung zu den pflegebedingten Kosten auf „längstens drei Jahren ist dich nun ein echtes Entgegenkommen an die Betroffenen. Scheint so, ist aber im statistischen Durchschnitt in der Regel gar nicht relevant, denn aufgrund der erheblichen Veränderungen bei der Zusammensetzung der Bewohnerschaft – die Menschen bleiben so lange wie möglich zu Hause – muss man wissen: Heimbewohner sind in Deutschland im Durchschnitt nur 18 Monate im Pflegeheim. Auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz weist darauf hin, dass »ein Drittel der Heimbewohner nach drei Monaten (sterben), und 60 Prozent sind nach zwölf Monaten tot. Es gibt also kaum Pflegebedürftige, die drei Jahre im Heim leben“.

Der schön daherkommende Vorschlag schmilzt bereits wie Butter in der Sonne und kann, wenn überhaupt, nur als erster Aufschlag zur echten Problemlösung verstanden werden. Aber gibt es denn nicht auch irgendwas Positives zu berichten? Doch, gibt es: »Positiv hervorzuheben ist, dass Minister Spahn die Pflege wohl auch aus Steuermitteln bezuschussen und die Leistungssätze jährlich anpassen will.« Das schreibt der Verbraucherzentrale Bundesverband unter der ansonsten kritischen Überschrift Spahn-Vorschläge sind halbherzig. Um dann aber zutreffend zu ergänzen: »Diese Anpassung sollte sich aber nicht nur an der Inflation, sondern auch an der Lohnentwicklung orientieren.«

Zu der Kritik an den Pflegereformplänen des Ministers vgl. beispielsweise diesen Beitrag: „Eher dürftige Vorschläge“. Linke und Grüne haben sich bereits kritisch zu Wort gemeldet. »Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz reagierte zurückhaltend auf Spahns Pläne. „Bei genauem Hinsehen fallen seine Vorschläge eher dürftig aus“, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch … Wie die Grünen unterstrich auch Brysch, dass die Pflegekosten nur ein Teil des durchschnittlichen Eigenanteils von rund 2000 Euro im Monat seien. Verpflegung und Investitionskosten kämen hinzu. „Deshalb muss die Pflegeversicherung endlich zukunftssicher werden und alle Kosten für die reine Pflege tragen.“«

Zu der umfassenden Diskussion über eine Reform der Finanzierung der Pflegekosten – die von einer echten Teilkaskoversicherung bis hin zu einer umfassenden „Pflegebürgervollsicherung“ reicht – vgl. auch ausführlicher den Beitrag Die Eigenanteile in der stationären Pflege steigen weiter – und damit der Druck, eine Reform der Pflegefinanzierung endlich anzugehen, der hier am 1. August 2020 veröffentlicht wurde.