So hatte sich das der umtriebige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sicher nicht vorgestellt. Am vergangenen Wochenende wurden die Bürger von der Bundesregierung zum Tag der offenen Tür eingeladen und auch das Gesundheitsministerium erwartete viele interessierte und beeindruckbare Besucher, denen sich der Minister, der gleichsam im Akkord neue Gesetze und Vorschläge unter die Leute bringt, bei dieser medientauglichen Gelegenheit als tatkräftiger und zugleich sympathischer Macher präsentieren sollte.
Und da waren sicher auch viele dieser von den Gastgebern gewünschten Besucher anwesend – aber eben zugleich aufgewühlte, empörte Rollstuhlfahrer und andere Menschen mit Behinderungen, die zum einen versucht haben, eine Bühne für ihren Protest zu bekommen, zum anderen wollten sie den Minister zur Rede stellen. Denn sie waren und sind aufgebracht aufgrund der neuesten gesetzgeberischen Aktivitäten des Herrn Spahn. Und dabei geht es nicht um belangloses Zeug, sondern um die „außerklinische Intensivpflege“, um Menschen, die beatmet werden (müssen), um schwerste Krankheiten und bedrückende Schicksale, zugleich um Menschen, die teilhaben wollen am Leben, die sich trotz und gerade wegen ihrer Lage engagieren für Selbstbestimmung. Warum aber haben die Aktivisten aus der Behindertenbewegung versucht, dem Minister einen so schönen Sonntag zu versauern? Ist das nicht traurig angesichts der Tatsache, dass das Haus des Herrn Spahn einen Referentenentwurf für ein Intensivpflegestärkungsgesetz vorgelegt hat, es also doch offensichtlich darum geht, dass etwas besser werden soll?
„Am … Tag der offenen Tür der Bundesregierung demonstrierten 200 Menschen mit Behinderungen im Bundesgesundheitsministerium. Sie besetzten die Bühne, stellten Fragen auf der Bundespressekonferenz … Wenige Minuten nachdem der Aktivist Raul Krauthausen sich Minister Spahn in den Weg stellte und ihm die Forderung der Protestierenden zum Entwurf des Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz (RISG) mitteilte, twitterte das BMG ein Foto der Zwei. Jens Spahn habe sich mit Raul Krauthausen zu einem Gespräch getroffen, heißt es in diesem.« Dem hat Krauthausen – siehe Tweet – widersprochen. „Es war ein bezeichnendes Symbolbild für die Welten, die aufeinander prallten.“ (Quelle: Pressemitteilung nach Protest zum #RISG, 18.08.2019)
»Beatmungspatientinnen und -patienten sollen nach dem Krankenhausaufenthalt besser betreut werden. Das ist Ziel eines Referentenentwurfs für ein „Gesetz zur Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“, den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt in die Abstimmung mit Ressorts, Ländern und Verbänden gegeben hat. Danach sollen die Qualitätsstandards für die Versorgung von Menschen, die z. B. nach einem Unfall oder aufgrund einer Erkrankung künstlich beatmet werden müssen, erhöht werden. Außerdem sollen ältere Menschen schneller als bisher Leistungen der geriatrischen Rehabilitation erhalten.« So das zuständige Bundesgesundheitsministerium (BMG) unter der hoffnungsvollen Überschrift Intensivpflege-Patienten sollen besser betreut werden. Den angesprochenen Referentenwurf kann man hier im Original abrufen:
Dort finden wir die folgende Problem- und Zielbeschreibung, die hinsichtlich der außerklinischen Intensivpflege mit dem Gesetzentwurf adressiert werden:
»Die Bedeutung der außerklinischen Intensivpflege hat in der jüngeren Vergangenheit stark zugenommen. Bedingt durch den medizinischen Fortschritt und das hohe Versorgungsniveau in Deutschland wird eine zunehmende Anzahl von Versicherten aus der Krankenhausbehandlung entlassen, die weiterhin einen intensivpflegerischen Versorgungsbedarf haben.
Gleichzeitig liegen Hinweise auf eine bestehende Fehlversorgung vor. Dies betrifft insbesondere die ambulante Versorgung von Beatmungspatientinnen und Beatmungspatienten und die Ausschöpfung von Potenzialen zur Beatmungsentwöhnung. Erhebliche Unterschiede in der Vergütung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege im ambulanten Bereich einerseits und im stationären Bereich andererseits führen überdies zu Fehlanreizen in der Leistungserbringung. An die bedarfsgerechte Versorgung von Versicherten in der außerklinischen Intensivpflege sind daher besondere Anforderungen zu stellen.«
Das hört sich doch ganz vernünftig an. Was genau ist nun beabsichtigt? Dazu findet man bereits auf der Seite 2 diese Ausführungen:
»Die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege werden künftig regelhaft in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buch Sozialgesetzbuch erbringen, oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten, die strengen Qualitätsanforderungen unterliegen, erbracht. Die Eigenanteile, die die Versicherten bei der Inanspruchnahme von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege in diesen vollstationären Pflegeeinrichtungen zu leisten haben, werden erheblich reduziert. In Ausnahmefällen kann die außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt des Versicherten oder sonst an einem geeigneten Ort erbracht werden.« (Hervorhebungen nicht im Original).
Genau hier sind wir an dem Punkt angekommen, der zu den Protesten geführt hat. Der Regelfall soll also ein Pflegeheim oder eine Intensivpflege-WG werden – und das, was sich in den vergangenen Jahren bei vielen als Wunschmodell herausgebildet hat, also die intensivpflegerische Betreuung im Privathaushalt – zu Hause – soll es nur noch in Ausnahmefällen geben (dürfen). Das wäre nichts anderes als ein Systemwechsel.
Der § 37 SGB V bisher und der § 37c SGB V (geplant)
Bislang war diese Form der häuslichen Krankenpflege seit 1988 im § 37 SGB V geregelt (und 1997 wurde die Versorgung mit häuslicher Krankenpflege als eigenständige Rechtsvorschrift im § 132a SGB V übernommen). Im Absatz 1 des § 37 SGB V heißt es schlicht und unmissverständlich: »Versicherte erhalten in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegekräfte, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist, oder wenn sie durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird.«
Nunmehr soll es einen neuen § 37c SGB V geben (Außerklinische Intensivpflege). Im Absatz 1 dieses neuen Paragrafen heißt es (vgl. dazu S. 6 des Referentenentwurfs):
»Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege haben Anspruch auf außerklinische Intensivpflege. Die Leistung bedarf der Verordnung durch einen für die Versorgung dieser Versicherten besonders qualifizierten Vertragsarzt. Bei Versicherten, die kontinuierlich beatmet werden oder tracheotomiert sind, ist vor einer Verordnung außerklinischer Intensivpflege das Potenzial zur Reduzierung der Beatmungszeit bis hin zur vollständigen Beatmungsentwöhnung und Dekanülierung zu erheben und in der Verordnung zu dokumentieren. Der Gemeinsame Bundesausschuss bestimmt in den Richtlinien nach § 92 bis zum 30. Juni 2020 den Inhalt und Umfang der Leistungen sowie die Anforderungen an den besonderen Versorgungsbedarf der Versicherten, an die Zusammenarbeit der an der Versorgung beteiligten Leistungserbringer sowie deren Qualifikation und die Voraussetzungen der Verordnung der Leistungen einschließlich des Verfahrens zur Erhebung und Dokumentation des Entwöhnungspotenzials.«
Der besondere Zorn vieler Betroffener richtet sich nicht gegen diesen Absatz 1, sondern es ist der nachfolgende Absatz 2, der den Aufruhr verursacht, denn dort findet man diese Formulierung:
»Der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege besteht in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buches erbringen, oder in einer Wohneinheit … Wenn die Pflege in einer Einrichtung nach Satz 1 nicht möglich oder nicht zumutbar ist, kann die außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt oder in der Familie des Versicherten oder sonst an einem geeigneten Ort erbracht werden. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen; bei Versicherten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr ist die Pflege außerhalb des eigenen Haushalts oder der Familie in der Regel nicht zumutbar.« (Hervorhebungen nicht im Original)
➞ Interessanterweise ist auch eine Übergangsregelung im Absatz 2 vorgesehen, nach der diejenigen, die am Tage des Inkrafttretens des neuen Gesetzes zu Hause gepflegt werden, bis zu 36 Monate „Bestandsschutz“ bekommen sollen, bevor es dann in die neue Regelversorgung geht, also ins Heim oder in die Pflege-WG. An anderer Stelle, bei der Begründung auf Seite 22 des Referentenentwurfs, heißt es dazu erläuternd: »Für diese Versicherten und ihre Angehörigen würde eine abrupte Verlegung in ein neues Umfeld eine besondere Härte darstellen.« Und nach 36 Monaten dann nicht mehr?
Den § 37c Absatz 2 SGB V (Entwurf) muss man sich wirklich genau vor Augen führen. Also bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Geburtstag kann man weiterhin so verfahren wie bislang, also eine Versorgung zu Hause, im Haushalt der Familie, wählen, wenn man denn will. Wenn der Betroffene aber über 18 Jahre alt ist, dann sieht das ganz anders aus, denn dann ist der Regelfall das Pflegeheim oder die Pflege-WG. Wenn es von beiden im Umfeld des Betroffenen nichts geben sollte, dann kann man auch zu Hause bleiben – oder aber, wenn das „nicht zumutbar“ ist. Aber dieses Kriterium setzt konsequenterweise eine Prüfung der Zumutbarkeit voraus (und das wäre tatsächlich eine ganz erhebliche Abweichung zum jetzigen Stand). Dabei sollen „persönliche, familiäre und örtliche Umstände“ angemessen berücksichtigt werden. Und von wem? Von den zuständigen Sachbearbeitern der Krankenkassen, den „Kostenträgern“. Und es gibt keinen Anspruch auf die Gewährung dieses Pflegesettings, sondern die Krankenkasse „kann“ das ausnahmsweise bewilligen. Sie muss es aber nicht.
Dazu kann man auf der Aktionsplattform Ability Watch, die Teil der modernen Behindertenbewegung in Deutschland ist, die folgende Bewertung lesen: Der »Gesetzentwurf sieht vor, dass die Intensivpflege mit Beatmung in den eigenen vier Wänden nur noch dann möglich sein soll, wenn keine klinische Versorgung möglich oder zumutbar ist. Diese Formulierung ist bereits bekannt durch andere Gesetze und liefert die Menschen an jene Sachbearbeiter aus, welche die Zumutbarkeit zu prüfen haben; in der Vergangenheit gab es eindrückliche Beispiele dafür, dass die Zumutbarkeitsregelung zum Nachteil behinderter Menschen ausgelegt und in der Praxis gelebt wird. Der Begriff öffnet einer gewissen Willkür die Tür.«
Wie begründet das BMG nun diesen erheblichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und der daraus abgeleitete Wahlfreiheit?
Dazu lohnt eine Blick in die Begründung, die man im Referentenentwurf zum RISG auf den Seiten 15 ff. finden kann. Dort stehen gleich am Anfang diese den Bereich der außenklinischen Intensivpflege betreffenden Ausführungen:
»Die Bedeutung der außerklinischen Intensivpflege hat in der jüngeren Vergangenheit stark zugenommen. Bedingt durch den medizinischen Fortschritt und das hohe Versorgungsniveau in Deutschland wird eine zunehmende Anzahl von Versicherten aus der Krankenhausbehandlung entlassen, die weiterhin einen intensivpflegerischen Versorgungsbedarf haben. Für das Jahr 2018 ist von bis zu 50.000 Leistungsfällen in der ambulanten Intensivpflege auszugehen; die Leistungsausgaben hierfür beliefen sich nach der amtlichen GKV-Statistik auf rd. 1,8 Mrd. Euro.«
➔ Nur als Anmerkung zu den hier mit einer Art amtlicher Gewissheit präsentierten Zahlen: Wie viele Beatmungspatienten es wirklich gibt, weiß man schlichtweg in unserem Land nicht. Nicht umsonst schreiben die Ministerialen auch sicherheitshalber von „bis zu 50.000“ Fällen. Das können auch einige oder viele weniger sein. Von deutlich weniger Fällen kann man in einer anderen Veröffentlichung lesen: »Aktuell wird geschätzt, dass hierzulande ca. 20.000 (nicht-)invasiv beatmete Personen außerhalb von Akut- und Reha-Kliniken intensivkrankenpflegerisch versorgt werden – mit steigender Tendenz«, so Michael Ewers und Yvonne Lehmann in ihrem Beitrag Pflegebedürftige mit komplexem therapeutisch-technischem Unterstützungsbedarf am Beispiel beatmeter Patienten, in: Jacobs, K. et al. (2017): Pflege-Report 2017, Stuttgart 2017, S. 65. Die unsichere Datenlage wird auch in einer Stellungnahme von Fachverbänden reflektiert: »Grundlage dieses Positionspapers ist die in den letzten Jahren zu beobachtende starke Zunahme aufwendiger häuslicher Krankenpflege (Behandlungspflege nach §37 SGB V) bei Patienten mit Tracheostoma. Während die Fallzahl nach einer Erhebung im Jahr 2005 auf ca. 1.000 Fälle begrenzt war, beträgt sie nach Hochrechnung verschiedener Krankenkassen derzeit vermutlich zwischen 15.000 und 30.000 Patienten. Die Versorgungskosten belaufen sich mittlerweile auf 2 – 4 Milliarden Euro/Jahr. Die genaue Prävalenz ist insbesondere im Hinblick auf eine gleichzeitige Beatmungstherapie derzeit jedoch nicht über Routinedaten ermittelbar, da das Kodierungssystem diese Situation bislang nicht abgebildet hat.« (Rosseau et al. (2017): Positionspapier zur aufwendigen ambulanten Versorgung tracheotomierter Patienten mit und ohne Beatmung nach Langzeit-Intensivtherapie (sogenannte ambulante Intensivpflege), in: Pneumologie, 2017, S. 204).
Und mit den (steigenden) Fallzahlen gehen steigende Kosten einher. Auch Ewers/Lehmann (2017) haben auf die Ausgaben(entwicklung) für häusliche Krankenpflege hingewiesen (die ambulante Intensivpflege ist davon ein Teilbereich): »Die Ausgaben für diesen Bereich sind insgesamt von 3,54 Mrd. EUR im Jahr 2011 auf 5,26 Mrd. EUR im Jahr 2015 angestiegen – mit steigender Tendenz.« (Ewers/Lehmann 2017: 64). Ein Blick in die amtliche Statistik ergibt das folgende Bild bis einschließlich 2018:
Kommen nun endlich qualitative Verbesserungen für die hilflosen und ausgelieferten Betroffenen in der ambulanten Intensivpflege?
Ein ausdrückliches Ziel des Vorstoßes aus dem Bundesgesundheitsministerium ist es, mit dem RISG die Qualität der Versorgung für Beatmungs-Patienten zu verbessern und angebliche bzw. tatsächliche Missbräuche, die vor allem durch die hohen Summen, um die es hier geht, befördert werden, zu beseitigen. Das war sicher auch mit ein Grund dafür, dass in einer ersten Phase der Referentenentwurf für das RISG bei einigen Sozialverbänden auf Zustimmung und Sympathie gestoßen ist. Auch hier geriert sich der Minister als Macher-Typ: Spahn warnt vor finanziellem Missbrauch bei künstlicher Beatmung, so ist einer der vielen Artikel überschrieben, ergänzt um diesen deutlichen Hinweis: »Muss ein Patient zu Hause beatmet werden, bekommen Pflegedienste etwa 20.000 Euro im Monat. Gesundheitsminister Spahn will die Geschäfte auf Kosten von Kranken unterbinden.« Wenn man nur das liest, dann muss man zu dem Ergebnis kommen: Endlich packt das mal einer an.
Die Beseitigung des Missbrauchs soll vor allem durch zwei Kanäle erreicht werden: Durch die Verlagerung der Regelversorgung weg aus den eigenen vier Wänden in Pflegeheime sowie in spezialisierte „Wohneinheiten“ (also die berühmten Pflege-WGs) und zum anderen sollen die Pflege-WGs mit klaren Vorgaben beispielsweise hinsichtlich des Personals (Menge und Qualifikation) konfrontiert werden, mit denen man verhindern will, dass in Zukunft zu wenig oder unqualifiziertes Personal eingesetzt wird.
Es ist sehr aufschlussreich, wie im vorliegenden Referentenentwurf an dieser Stelle argumentiert wird – mit dem Hinweis auf genau eine Meldung in der Presse. Auf Seite 16 des Entwurfs finden wir die Argumentation, es »liegen aus der Presseberichterstattung verschiedene Hinweise darauf vor, dass gerade in der ambulanten Intensivpflege in der eigenen Häuslichkeit in manchen Fällen nicht ausreichend qualifiziertes Personal eingesetzt wird. Dies gefährdet nicht nur die bedarfsgerechte Versorgung der Versicherten, sondern schadet auch der Solidargemeinschaft aller Krankenversicherten.« Als „Beleg“ für diese Behauptung wird dann auf diese eine Meldung aus dem Deutschen Ärzteblatt verwiesen: Razzia wegen Abrechnungsbetrug bei Intensivpflege (14.05.2019). Dort erfahren wir: »Ein großangelegter Abrechnungsbetrug von Pflegediensten bei der Betreuung von Beatmungspatienten ist von der Polizei aufgedeckt worden … Die Polizei geht davon aus, dass spätestens seit 2013 Menschen vor allem aus Osteuropa als Intensivpfleger eingesetzt wurden, obwohl sie nicht qualifiziert waren. Zeugnisse sollen gefälscht worden sein. Die Pfleger sollen bei neun Pflegediensten eingesetzt worden sein.« Neben der Tatsache, dass es seit Jahren eine kritische bis skandalisierende Berichterstattung dazu gibt – für einen Gesetzentwurf darf man sich schon mehr wünschen als gleichsam anekdotische Evidenz aus einem oder zwei Zeitungsartikel. Von welchem und sei es abgeschätzten Gesamtumfang sprechen wir angesichts der vielen tausend Pflegedienste, auf wie viele Prüfungen kann man sich stützen usw.
Der aufmerksame Leser dieses Blogs weiß, dass hier schon seit Jahren immer wieder über die vermeintlichen bzw. tatsächlichen Auswüchse in der ambulanten Intensivpflege berichtet wird. In diesem Kontext sei nur auf diesen Beitrag hingewiesen: Beatmungspatienten in einem Bürogebäude und der Frust der Behörden mit einem renitent schlechten Pflegeheim. Aus den Niederungen realer Pflegemissstände. Der wurde am 16. November 2014 veröffentlicht. Und wie wäre es mit diesem Bericht des Politikmagazins „Report Mainz“, der bereits am 21. August 2012 (!) ausgestrahlt wurde: Verkaufte Patiente. Der skandalöse Handel mit schwer kranken Pflegepatienten: »Nach Informationen des ARD-Politikmagazins REPORT MAINZ werden Intensivpflegepatienten im häuslichen Bereich in einer Preisspanne von 40 bis 60.000 Euro zwischen Pflegediensten gehandelt. In einem verdeckt gedrehten Verkaufsgespräch hat ein Pflegedienst dem Magazin fünf Patienten zum Preis von 250.000 Euro zum Kauf angeboten. Die dazu gehörenden Pflegeteams können auch übernommen werden. Der Inhaber des Dienstes betonte, dass derzeit keiner der zu verkaufenden Patienten „im Sterben“ liege.«
Man könnte nun wirklich noch zahlreiche andere Beispiele aus der jahrelangen Berichterstattung bringen – das war jedem, der es wissen wollte, seit langem bekannt. Und natürlich auch der monetäre Mechanismus, der hier im Hintergrund gewirkt hat bzw. wirkt.
Allerdings sollte man mit Blick auf den Begründungstext im Referentenentwurf aus dem Hause Spahn ein großes Fragezeichen anbringen, denn dort wird argumentiert, »dass gerade in der ambulanten Intensivpflege in der eigenen Häuslichkeit in manchen Fällen nicht ausreichend qualifiziertes Personal eingesetzt wird.« Schaut man sich aber die Berichte der vergangenen Jahre an, dann wird man zahlreiche Verdachtsfälle bzw. auch abgeschlossene Verfahren finden, bei denen es um die „Beatmung-WGs“ geht. Die nun sollen aber in Zukunft neben den Heimen (auch weiterhin) die zweite institutionelle Säule der Versorgung der Intensivpflegepatienten darstellen.
Aber der vorliegende Referentenentwurf adressiert gerade die Pflege-WGs, in dem diese in ein System der Qualitätssicherung eingebunden werden sollen. Im neuen § 132i SGB V (Versorgung mit außerklinischer Intensivpflege), vgl. S. 10 des Entwurfs, ist vorgesehen, dass die Kassen und die Leistungserbringer bis zum 31.12.2020 „Rahmenempfehlungen“ abschließen müssen. Dort sollen die personellen Anforderungen einschließlich der Grundsätze zur Festlegung des Personalbedarfs festgelegt werden, Art und Weise der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, Maßnahmen der Qualitätssicherung und Fortbildung sowie Prüfungsfragen. Die Krankenkassen müssen des Weiteren dann Verträge mit allen Leistungserbringern der außerklinischen Intensivpflege schließen. Die Leistungserbringer wiederum werden nach § 132i Abs. 6 SGB V (Entwurf) verpflichtet
➞ Kooperationsvereinbarungen mit spezialisierten Fachärzten zu schließen, die insbesondere die ärztliche Überwachung der Umsetzung der mit der Verordnung außerklinischer Intensivpflege … dokumentierten notwendigen Maßnahmen zur Beatmungsentwöhnung und Dekanülierung sicherstellen;
➞ die bedarfsgerechte rehabilitative Versorgung der Versicherten, insbesondere mit Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie durch Kooperationsvereinbarungen oder mit eigenem Personal zu gewährleisten und
➞ ein internes Qualitätsmanagement durchzuführen.
Nun wird der eine oder andere erfahrungswissengesättigt einwenden, dass sich das ja alles ganz nett anhört, aber am Ende kommt es doch darauf an, ob das a) überprüft wird/werden kann (und von wem?) und b) dass es spürbare Sanktionen gibt bei Verstößen gegen die schöne Welt der Qualitätsvorgaben.
Dazu findet man im Entwurf diesen Hinweis: »Die Leistungserbringer sind verpflichtet, an Qualitäts- und Abrechnungsprüfungen nach § 275b teilzunehmen.« Da lohnt ein kurzer Blick in diesen Paragrafen, hier mit dem Fokus auf die Pflege-WGs. Dort findet man im Absatz 2: »Prüfungen nach Absatz 1 bei Leistungserbringern, mit denen die Krankenkassen Verträge … abgeschlossen haben und die in einer Wohneinheit behandlungspflegerische Leistungen erbringen, … sind grundsätzlich unangemeldet durchzuführen. Räume dieser Wohneinheit, die einem Wohnrecht der Versicherten unterliegen, dürfen vom Medizinischen Dienst ohne deren Einwilligung nur betreten werden, soweit dies zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.« Was das praktisch bedeutet, können auch Nicht-Juristen entschlüsseln.
Geht es am Ende doch nur wieder um das Geld? Die angestrebte Verlagerung in Heime bzw. „Wohneinheiten“ als Kostenreduktion und zugleich – möglicherweise – als Heimförderprogramm?
Natürlich liegt es nahe, im Haifischbecken Gesundheitswesen immer auch zu prüfen, ob nicht der wahre Antrieb zu den gesetzgeberischen Klimmzügen monetärer Natur ist. Und da findet man schon einige mehr als eindeutige Hinweise im Entwurf, dass dem so ist:
»Durch Verbesserungen der Qualität im Bereich der außerklinischen Intensivpflege verbunden mit einer regelhaften Leistungserbringung in vollstationären Pflegeeinrichtungen oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten können der gesetzlichen Krankenversicherung bei voller Jahreswirkung Einsparungen in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag entstehen.« (S. 3)
Richtig spannend wird es in der Begründung (hier S. 16) – und die sollte man genau lesen: »Erhebliche Unterschiede in der Vergütung von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege im ambulanten Bereich einerseits und im stationären Bereich andererseits führen überdies zu Fehlanreizen in der Leistungserbringung. Die ambulante Versorgung, insbesondere in der eigenen Häuslichkeit der Pflegebedürftigen, erfordert wesentlich größere personelle und finanzielle Ressourcen als die Versorgung in vollstationären Einrichtungen.«
Das ist sicher ein Schlüsselsatz: Die Pflege zu Hause »erfordert wesentlich größere personelle und finanzielle Ressourcen als die Versorgung in vollstationären Einrichtungen«, was aber doch auch bedeutet, dass man mit weniger Personal als und en eigenen vier Wänden die Versorgung in den Heimen abwickeln kann.
Nun wurde bereits im Entwurf selbst darauf hingewiesen, dass derzeit bei einer Heimunterbringung für die Betroffenen teilweise erheblich höhere Kosten als Eigenanteil zu tragen sind als bei einer Versorgung zu Hause oder in einer Pflege-WG. Wenn man die Heime zukünftig zum Ort der Regelversorgung machen will, dann muss man hier was verändern: »Die Eigenanteile, die die Versicherten bei der Inanspruchnahme von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege in diesen vollstationären Pflegeeinrichtungen zu leisten haben, werden erheblich reduziert.« In der Begründung wir ausgeführt: »Versicherte mit gleichgelagerten Versorgungsbedarfen sollen grundsätzlich gleich behandelt werden – auch in finanzieller Hinsicht. Deshalb soll die Versorgung in einer vollstationären Pflegeeinrichtung … für die Versicherten nicht mit finanziellen Belastungen verbunden sein, die erheblich höher sind als in der ambulanten Versorgung.«
Und wie will man das bewerkstelligen? Auch hier wieder kommt man um eine sehr genaue Analyse nicht herum: »Der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege umfasst daher bei Leistungserbringung in einer entsprechenden vollstationären Pflegeeinrichtung die pflegebedingten Aufwendungen einschließlich der Aufwendungen für Betreuung und die Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege in der Einrichtung sowie die notwendigen Investitionskosten.«
Moment, wird der eine oder andere anmerken, da fehlt sich noch ein erheblicher Kostenblock, der bei Heimunterbringung von den Betroffenen selbst aufzubringen ist. Genau, die Kosten der Unterkunft und Verpflegung. Dazu finden wir im Entwurf diesen Hinweis: »Zusätzlich können die Krankenkassen in ihrer Satzung regeln, dass bei Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung auch die … vereinbarten Entgelte für Unterkunft und Verpflegung ganz oder zum Teil übernommen werden. Dies kann weiter dazu beitragen, dass die Inanspruchnahme vollstationärer Leistungen nicht dazu führt, dass die Versicherten im Vergleich zur ambulanten Versorgung mit erheblichen Mehr- kosten belastet werden.« Man beachte bitte die Formulierungen: „kann“ sowie „ganz oder teilweise“.
Aber die Absicht ist unverkennbar: man will die Heime als Orte der zukünftigen Regelversorgung entsprechend aufstellen. Und das kann man auch vor diesem Hintergrund sehen:
»… Spahns Haus (hat) ein Auge auf überteuerte Strukturen in der Pflegeversorgung geworfen: Hier ließen sich Milliardensummen einsparen. Im Fokus stehen vor allem Angebote, bei denen betreute Wohneinrichtungen mit der ambulanten Tagespflege verbunden werden. Durch das geschickte Kombinieren von Leistungen können findige Pflegedienste teilweise das mehr als das Doppelte pro Patient aus den Sozialkassen kassieren als in klassischen Pflegeheimen. Eine interne Studie im Auftrag des Gesundheitsministeriums, deren Ergebnisse dem Handelsblatt vorliegen, beziffert die Mehrausgaben für die Kranken- und Pflegeversicherung durch die verstärkte Nutzung dieser quasi-stationären Wohnformen alleine für das Jahr 2017 auf 225 bis 700 Millionen Euro.« So Gregor Waschinski in seinem Artikel Pflegedienste kassieren mit einem Trick deutlich mehr Geld aus den Sozialkassen. Und dort taucht dann auch dieses Zahlenspiel auf: »Im Gesundheitsausschuss kursiert ein Rechenbeispiel: In den quasi-stationären Einrichtungen können 3096 Euro für einen Bewohner der mittelschweren Pflegestufe 3 aus der Kranken- und der Pflegeversicherung abgerufen werden. In den klassischen Heimen zahlt für den gleichen Fall nur die Pflegeversicherung, und zwar den deutlich niedrigeren Betrag von 1262 Euro. Gerade angesichts steigender Eigenanteile in Pflegeheimen führen diese Unterschiede zu einer wachsenden Nachfrage nach den neuen Wohnprojekten.«
»Das im Auftrag des Gesundheitsministeriums erstellte Gutachten des Pflegeexperten Heinz Rothgang von der Universität Bremen ergab, dass ambulante Pflegedienste zunehmend eine Ausweitung ihres Angebots in betreute Wohngruppen planten. Die Mehrkosten für die Sozialkassen wären nur bei einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität im Vergleich zu den stationären Einrichtungen gerechtfertigt, heißt es dort.«
Und dann kommt ein wichtiger Passus: »Die Qualitätsstandards für die heimähnlichen Häuser sind aber eher geringer als in der stationären Pflege. Vorgaben zum Anteil der Pflegefachkräfte am Personal existieren nicht, auch der Brandschutz und hygienische Anforderungen sind weniger stark reglementiert.« Auch hier sollte man sich merken: Es geht vor allem um die Pflege-WGs und die vielen neuen Angebote im Nirwana zwischen ambulant und „klassisch“ stationär.
Dann kommt der Beitrag auf die Intensivpflege, wo Schwerkranke rund um die Uhr von Pflegekräften betreut werden müssen zu sprechen. In aller Deutlichkeit lesen wir: »Im häuslichen Umfeld ist dies für die Krankenkassen mit deutlich höheren Kosten verbunden als die Versorgung in spezialisierten Heimen oder Kliniken.« Und dann taucht er auf, der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im deutschen Bundestag, Erwin Rüddel, der sich u.a. bereits beim Pflegeberufereformgesetz als Interessenvertreter der Pflegeheimlobby hervorgetan hat:
„Es gibt gut begründete Fälle, in denen sich Familien bewusst für häusliche Pflege ihrer Angehörigen entscheiden“, sagte CDU-Politiker Rüddel. „Wir haben aber auch Fehlanreize im System, wo sich Menschen für die für die Sozialkassen wesentlich teurere Variante entscheiden, weil sie dadurch ihren eigenen Geldbeutel schonen können.“ Dem soll ja nun mit dem RISG ein Riegel vorgeschoben werden und bei manchen trifft das auf große Sympathie:
„Es ist das erste Mal, dass vom Grundsatz ambulant vor stationär abgewichen wird. Das macht Hoffnung“, sagte CDU-Politiker Rüddel zu Spahns Gesetz.
Und natürlich wird dann auch wieder mit den großen Zahlen hantiert, die sich – das sei hier deutlich angemerkt – derzeit aufgrund der Datenlage überhaupt nicht seriös vertreten lassen – zuzüglich der Behauptung, alles wird besser für die Betroffenen: »Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses schätzt das Einsparpotenzial für die Kranken- und Pflegeversicherung auf „zwei bis drei Milliarden Euro im Jahr, bei gleichzeitig besserer Versorgung der Betroffenen“.«
Darum geht es doch gar nicht. Sondern darum: »Die eingesparten Mittel könnten nach Ansicht von Rüddel wiederum eingesetzt werden, um die Bewohner von Pflegeheimen bei den steigenden Eigenanteilen zu entlasten. „Das können wir dann aus dem System heraus finanzieren, ohne Beitragserhöhungen“, sagte er.«