Sichtbare und unsichtbare Hochrisikogruppen der Corona-Pandemie? Eine große offene Frage mit Blick auf die vielen Pflegebedürftigen, die nicht im Heim sind

Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte es ja bereits angekündigt – am Beginn der nun anlaufenden Impfungen könne es „etwas ruckeln“. In dem vergangenen Tagen konnte man hingegen durchaus den Eindruck bekommen, dass es nicht nur ein wenig ruckelt, sondern dass der Impfkarren gegen die Wand gefahren wurde. Massive Beschwerden nicht nur über ein angebliches Versagen bei der Beschaffung ausreichender Impfstoffmengen oder der mehr als überschaubare Start zahlreicher Impfzentren wurde und wird diskutiert, sondern auch eine – angebliche – Impfzurückhaltung der Pflegekräfte (und der Ärzte) wird mit Inbrunst debattiert, obgleich keine auch nur annähernd repräsentativen Daten vorliegen und man sich vor allem der anekdotischen Evidenz bedient.

Und selbst hier wird die Hierarchie der Gesundheitsberufe reproduziert: »Die Impfkampagne gegen das Coronavirus in Deutschland läuft derzeit nur schleppend an. Ausgerechnet Heim- und Klinikmitarbeiter halten sich bisher zurück. Zum Teil geben Kliniken die Dosen sogar zurück«, so beginnt beispielsweise dieser Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Warum so viele Pflegekräfte die Impfungen scheuen. Es ist auffällig, dass schon im Titel nur von den Pflegekräften die Rede ist. Was ist mit den Ärzten? Auch aus diesem Lager wird immer wieder von einer gewissen Impfzurückhaltung gesprochen?

„Die bisher sehr niedrige Bereitschaft von Pflegekräften, sich impfen zu lassen, ist ausgesprochen bedenklich“, sagt der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Woher weiß der Mann, dass es wirklich eine „sehr niedrige Impfbereitschaft“ gibt? Wenigstens warnt er vor der Keule, die manche sogleich schwingen wollen – und sieht dann auch noch die Ärzte mit im Boot: »Eine Impfpflicht wäre seiner Ansicht nach aber der falsche Weg. Lauterbach fordert vielmehr von der Bundesregierung eine Informationskampagne, die sich gezielt an Pflegekräfte und ärztliches Personal wendet.« Da wird er vom Koalitionspartner unterstützt: „Eine Impfpflicht gegen das Coronavirus wird es nicht geben“, wird die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion Karin Maag zitiert.

Und Kim Jörn Becker hat dann kurze Zeit später ebenfalls in der FAZ nachgelegt und unter der gleichfalls mehr als einseitigen Überschrift Warum lehnen so viele Pfleger die Corona-Impfung ab? geschrieben: »In manchen Pflegeheimen lässt sich nur jeder dritte Mitarbeiter impfen. In anderen Einrichtungen sind die Zahlen besser, doch es regt sich Unmut. Ein führender Gesundheitspolitiker droht schon mit einer Impfpflicht.« Da ist sie wieder, die Impflicht. Und wer ist dieser „führende Gesundheitspolitiker“? Diesmal handelt es sich um Erwin Rüddel, den Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages. Nachdem der Autor versucht dazulegen, dass die Ärzte angeblich anders mit dem Thema Impfungen umgehen, geht es zur Sache. Unter der Zwischenüberschrift „Pfleger werden eigenen Ansprüchen nicht immer gerecht“ müssen wir lesen: »Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel, hält die Impfquoten vielerorts für zu niedrig. „Ich bin mit der geringen Impfbereitschaft der Pfleger nicht zufrieden“, sagte Rüddel der F.A.Z. „Da muss man sich die Frage stellen, ob in der Ausbildung nicht etwas falsch gelaufen ist.“ Die Pflege poche darauf, dass sie neben der Ärzteschaft stärker ernst genommen wird. „Aber dann erwarte ich auch, dass sie sich ernsthaft fachlich mit diesen Fragen auseinandersetzt“, sagte Rüddel.« Da muss man schon schlucken. Als ob es in der derzeitigen Phase ein Ausweis von Beschränktheit ist, bei der Impfung zögerlich zu sein.

Und der Rüddel legt noch eine Schippe rauf: »Was das Impfen angeht, würden viele Pfleger ihren „selbst gesteckten Ansprüchen nicht immer gerecht“ … Indirekt droht Rüddel sogar mit einer Corona-Impfpflicht für medizinisches Personal. Er sagte: „Ich hoffe, dass wir durch Verantwortungsbewusstsein in der Pflege an einer Situation vorbeikommen, in der die Maßnahmen für jene, die Verantwortung für andere übernehmen, verpflichtender werden könnten.“«

Wenigstens wird in dem Beitrag auch eine andere, dem Gefühlsausbruch von Rüddel widersprechende Position zitiert. Die kommt von der pflegepolitischen Sprecherin der Grünen im Bundestag, Kordula Schulz-Asche: „Auch bei Pflegepersonal gilt grundsätzlich, dass die Impfung eine individuelle Entscheidung ist. Man muss aufpassen, dass man nicht eine gesamte Berufsgruppe an den Pranger stellt.“ Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, müsse denn auch nicht auf einer grundsätzlichen Ablehnung aufbauen … Schulz-Asche setzt auf Kampagnen zur Information und Aufklärung. „Man muss die Menschen davon überzeugen, wie wichtig die Impfung für sich selbst und andere ist.“

Unabhängig davon – eine solche Debatte zu einem Zeitpunkt, in dem für die vielen, die sich lieber heute als morgen oder gar am Ende des gerade begonnen Jahres impfen lassen würden, das zeigt die „nervöse Überspanntheit“, die man diese Tage beobachten muss.

Darum soll es in diesem Beitrag auch nicht um diese Phantom-Diskussion gehen, sondern um ein echtes Problem, mit dem man in der Praxis konfrontiert wird und das erhebliche Konsequenzen haben kann und wird: Die ungleiche Versorgung der Menschen, die eigentlich zuerst geimpft werden sollen, weil auf sie die höchsten Risiken entfallen: Die älteren Menschen ab dem 80. Lebensjahr, von denen natürlich nicht alle, aber viele auch gesundheitlich eingeschränkt oder gar pflegebedürftig sind. Und darunter standen und stehen derzeit vor allem die Bewohner der Pflegeheime im Fokus der Aufmerksamkeit und auch der ersten Impfaktivitäten. Was nicht wirklich überrascht, wenn man an die Berichterstattung über die zahlreichen Infektionen und auch die vielen Todesfälle denkt, die aus Heimen gemeldet werden.

»Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat ihre Empfehlung zur COVID-19-Impfung veröffentlicht. Da anfangs nur eine begrenzte Menge an Impfstoffdosen zur Verfügung steht, sollten diese nach der Empfehlung der STIKO dafür genutzt werden, um die Anzahl schwerer Krankheitsverläufe und Sterbefälle möglichst schnell zu reduzieren. Die Impfung sollte daher zunächst Personen über 80 Jahren und Bewohnerinnen und Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen angeboten werden. Diese sind besonders gefährdet. Gleichzeitig empfiehlt die STIKO die Impfung medizinischem Personal mit sehr hohem Ansteckungsrisiko und Personal in der Altenpflege.« (Quelle: STIKO-Empfehlungen zur COVID-19-Impfung).

Herausgekommen ist dann seitens der STIKO dieses Stufenmodell:

Das Bundesgesundheitsministerium hat in der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Impfverordnung – CoronaImpfV) dann eine daran angelehnte, allerdings erst einmal auf drei Prioritätsgruppen beschränkte Stufenregelung in die Welt gesetzt:

Aber auch hier ist unstrittig: Die Personen, die das 80. Lebensjahr vollendet haben, sowie das Personal in den Pflegeheimen und in den ambulanten Pflegediensten stehen ganz oben in der Rangliste der Menschen mit einem Impfanspruch, da sie die „höchste Priorität“ haben.

Und nun wird an vielen Stellen berichtet von den „ambulanten Impfteams“, die in die Heime kommen, um dort Bewohner und Personal zu impfen. Und die praktische Umsetzung ist dann in der wirklichen Wirklichkeit mit zahlreichen Hürden und Herausforderungen verbunden, an die manche bzw. viele an den Schreibtischen nicht zu denken vermögen. Und das alles bei dem grundsätzlichen Vorteil, dass wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, das Impfteam in einem Pflegeheim an einem Ort zu einer bestimmten Zeit ziemlich viele Menschen durchimpfen kann.

Nun hilft allerdings an dieser Stelle ein Blick auf die offizielle Pflegestatistik, wenn wir uns nur einmal beschränken auf die älteren Menschen, die zugleich pflegebedürftig nach den Kriterien des SGB XI sind. Am 15. Dezember 2020 wurden die aktuellsten Daten veröffentlicht, die Pflegestatistik 2019, deren Zahlen sich auf das Jahresende 2019 beziehen. Und wenn man sich die Eckdaten anschaut, dann erkennt man die Unwucht, die wir in der Diskussion haben, die sich vor allem um die Menschen in den Pflegeheimen dreht:

In den Heimen wurden zwar 818.000 Menschen rund um die Uhr versorgt, aber mehr als 3,3 Millionen Pflegebedürftige leben zu Hause und werden dort von ihren Angehörigen, teilweise unter Hinzuziehung ambulanter Pflegedienste, betreut, versorgt und gepflegt. Und was ist mit diesen Menschen? Die gehören ja auch zu der Gruppen derjenigen, denen man die höchste Priorität bei den Impfungen zugeschrieben hat. 80 Prozent der Pflegebedürftigen sind nicht in einem Heim – und haben damit einen großen Nachteil: Sie leben vereinzelt bei sich zu Hause oder bei Angehörigen, es handelt sich um mehr als 3,3 Mio. Einzelfälle. Einheitliche Impfstrategie für die häusliche Pflege? Fehlanzeige!, so die Mitteilung des bpa, des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, die damit den Finger auf eine große, klaffende Wunde legen. Bernd Meurer, Präsident des bpa, kritisiert die fehlende Impfstrategie für die ambulante Pflege: »… die Länder haben weder ein einheitliches Konzept zur Umsetzung der Impfungen der ambulanten Pflegekräfte noch für die große Mehrheit der zu Hause lebenden pflegebedürftigen Menschen.“ Wer glaube, dieser Personenkreis könne vernachlässigt werden, werde anhand der Infektionshäufigkeit in Privathaushalten eines Besseren belehrt, so Meurer weiter.«

»… Pflegedienste bieten sich als Impfort, ähnlich wie in den Heimen an. Wir brauchen pragmatische Lösungen unter Einbeziehung von betreutem Wohnen und Tagespflegen. Zumindest die Mitarbeitenden könnten so zügig vor Ort geimpft und Erkrankungen und Todesfälle vermieden werden. In vielen Ländern wird hingegen auf Impfzentren verwiesen.«

Und mit Blick auf die mehr als 3,3 Mio. Einzelfälle: »Welche Schwierigkeiten allein mit der Vereinbarung eines Impftermins für 80-Jährige oder deren häufig genauso alte pflegende Angehörige verbunden sind, liege auf der Hand. „Warteschleifen in der Telefonhotline und eine aufzusuchende Webseite sind vielleicht für die jüngere Bevölkerung zu vernachlässigende Probleme, nicht aber für betagte Pflegebedürftige. Für sie stellt die Lösung auch von niedrigschwelligen technischen Herausforderungen oft eine unüberwindbare Hürde dar“, erläutert Meurer, der dringend ein barrierefreies deutschlandweites Impfkonzept fordert.«

Den Blick auf mögliche Lösungsansätze hat auch Dirk Schnack in seinem Artikel Warum Pflegebedürftige derzeit nicht zu Hause geimpft werden (können) gerichtet, am Beispiel der aktuellen Diskussion in Schleswig-Holstein: »Die mobilen Corona-Impfteams sollten auch Pflegebedürftige besuchen, die in alternativen Pflegeformen oder zu Hause versorgt werden, wird in Schleswig-Holstein gefordert.«

Wenn die vulnerablen Gruppen »nicht in stationären Einrichtungen leben, erhalten sie wegen des bislang nur begrenzt verfügbaren Impfstoffs nur schwer einen Impftermin – und wissen oft nicht, wie sie den Weg in ein Impfzentrum bewältigen sollen.«

Die Forderung, auch für alternative Pflegeformen mobile Impfteams aufzustellen, bezieht sich gerade auch auf die Arrangements, die zwischen einer vollstationären und einer rein häuslichen Versorgung liegen: „Die Regelung des Landes zu den mobilen Impfteams berücksichtigt nur die stationären Pflegeeinrichtungen und nicht die über 80-Jährigen, die beispielsweise in einem Servicehaus in einer eigenen Wohnung mit ambulanter Pflege leben“, sagte der AWO-Vorstandsvorsitzende in Schleswig-Holstein, Michael Selck. Er kritisierte, für diese Gruppe sei „einfach nicht mitgedacht worden“. Allein in den ambulanten Einrichtungen der AWO sind rund 2500 Menschen betroffen. Ähnliche Forderungen kommen auch von Angehörigen der mehr als 60.000 Demenzkranken in Schleswig-Holstein, die den Weg in ein Impfzentrum mit den Betroffenen scheuen.

Was sagt die zuständige Landesregierung? »Die Zahl der mobilen Impfteams wird vom Land bestimmt. Dass die mobilen Teams kleinere Wohngruppen nicht anfahren, hat nach Auskunft des Kieler Sozialministeriums vor allem praktische, logistische Gründe. Der bislang ausschließlich verfügbare Impfstoff muss aufbereitet werden. Einmal aufbereitet kann er nicht mehr transportiert werden und nicht verbrauchte Dosen einer Packung müssten verworfen werden. „Daher ist es mit dem aktuellen Impfstoff logistisch nicht einfach möglich, ambulant versorgte Pflegebedürftige oder einzelne Personen, die das 80. Lebensjahr vollendet haben, in ihrem häuslichen Umfeld durch die mobilen Impfteams zu impfen“, teilte das Sozialministerium auf Anfrage mit.« Und schiebt sicherheitshalber, damit keiner auf falsche Gedanken kommt, hinterher: „Die Impfung in den Pflegeeinrichtungen wird noch dauern.“

Das hier am Beispiel des nördlichsten Bundeslandes beschriebene Problem ist nu eins, das man sicher bundesweit diagnostizieren muss. Angesichts der Zahlenverhältnisse bedeutet das aber eben auch, dass wir nicht über eine überschaubare Randgruppe sprechen, sondern über die große Mehrheit der Pflegebedürftigen, die wir derzeit nicht oder kaum erreichen (können).

Darüber zu streiten und um Lösungen zu ringen, wäre der Edlen Schweiß wert.