Richtungsweisendes Urteil hin zu einer lebensfremden Utopie oder ein längst überfälliges Vorgehen gegen die „Täter hinter den Tätern“? Die Figur der omnipräsenten Pflegefachkraft

Ach die Pflege – immer wieder wird berichtet von Missständen und Problemen, zumeist und vor allem aus den Heimen. Man kann sicher die Behauptung aufstellen, dass die Berichterstattung mit dazu beigetragen hat, dass für viele Menschen die Vorstellung, in ein Pflegeheim zu müssen, mit Schreckensvisionen verbunden ist. Auf der anderen Seite leben und müssen dort mehrere hunderttausend Menschen leben und versorgt werden. Und viele Pflegekräfte arbeiten am oder über ihrem Limit, um eine halbwegs menschenwürdige Pflege ermöglichen zu können. In Sonntagsreden sind sich zudem so gut wie alle einig darüber, dass gerade ihre Arbeitsbedingungen endlich verbessert werden müssen – und dazu gehört nicht nur eine bessere Vergütung ihrer Leistung, sondern ein ganz wesentlicher Bestandteil – gerade aus Sicht der Betroffenen – wäre ein verbesserte Personalschlüssel.

Man muss es an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen: Dass so viele Pflegekräfte in den Heimen auf dem Zahnfleisch gehen, hat eben auch damit zu tun, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren die Heimlandschaft radikal verändert hat – die früher noch anzutreffende „Drittel-Mischung“ der Bewohner eines Heims, also von denjenigen älteren Menschen, die im Grunde nur Hotellerie-Leistungen beanspruchen über die „normal“ bis hin zu den schwer Pflegebedürftigen hat sich radikal gewandelt. Heute treffen wir auf Heime, in denen das durchschnittliche Heimeintrittsalter bei weit über 80 Jahren liegt, immer mehr in Pflegestufe II oder III und vor allem ein stetig steigender Anteil an Demenzkranken. Nur ist der Personalschlüssel nicht mit dieser radikal veränderten Grundgesamtheit mitgewachsen, so dass es mehr als verständlich ist, dass die hier arbeitenden Menschen die steigende Pflegeintensität als immer erdrückender empfinden. Das soll keine Entschuldigung sein, aber der Hinweis auf eine systematisch bedingte Zwangsläufigkeit sei hier angebracht: Der systematische Überforderung des Personals ist eine der bedeutsamsten Quellen für das, was sich dann als Pflege-Missstände manifestiert und hier und da auch an die Öffentlichkeit dringt.

Und zuweilen landen diese Fälle dann auch vor Gericht. So wie in Görlitz. Und das dortige Landgericht hat ein Urteil gesprochen, das die Gemüter bewegt: »Das Görlitzer Landgericht verurteilt ein Pflegeheim zu einer Geldstrafe, weil sie eine Bewohnerin der Obhut einer ungelernten Kraft überließen. Das Urteil sorgt für Entsetzen«, so Thomas Trappe in seinem Artikel Richterin will omnipräsente Pflegefachkräfte. Die Entscheidung (Landgericht Görlitz, Az.: 1 O 453/13) wird Betreiber von Pflegeeinrichtungen aufhorchen lassen müssen. Das DRK Zittau, das als Heimbetreiber das Urteil kassiert hat, weist darauf hin, dass es sich um eine „richtungsweisende“ Entscheidung handelt – »richtungsweisend in eine falsche Richtung«, so wird der Vorstandsvorsitzende Georg Hanzl zitiert. »Denn der Beschluss der sächsischen Richterin legt nahe, ungelernte Kräfte vom direkten Kontakt mit Heimbewohnern auszuschließen.« Das wäre allerdings eine mehr als heftige Konsequenz.

Nun muss man sich zuerst mit dem Sachverhalt befassen, der dieser Entscheidung zugrunde liegt:

»Das DRK betreibt in Zittau ein Altenpflegeheim, darin auch einen „Wohnpflegehaushalt für Demenzkranke“. Neben den Pflegefachkräften sind hier auch ungelernte Kräfte beschäftigt, zum Beispiel eine Jugendliche, die in dem Haus ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvierte. Jene FSJlerin war an dem Unfall beteiligt, der dem Urteil vorausging. Wie schon viele Tage zuvor hatte die Helferin im Oktober 2010 eine damals 84 Jahre alte Bewohnerin zum Mittagstisch geführt. Dort sollte sich die Frau kurz eigenhändig abstützen, während die FSJlerin einen Stuhl heranzog. Die Bewohnerin stürzte und zog sich eine Femurfraktur zu … Die Kasse der Bewohnerin, die AOK Plus, sah die Schuld für den Sturz beim Pflegeheim, das seiner Betreuungspflicht nicht nachgekommen sei. Und verklagte das Pflegeheim auf Erstattung der Op- und Behandlungskosten in Höhe von knapp 7000 Euro. Das Heim hätte eine Pflichtverletzung begangen, „da die Versicherte nicht hätte allein am Tisch stehen gelassen werden dürfen“, wird im Urteil zitiert.

Das DRK erwiderte, dass der Unfall nicht erwartbar gewesen sei und dass sich die Bewohnerin „völlig plötzlich und unvermutet, bevor der Stuhl herangezogen wurde, fallen lassen“ habe.«
Das Gericht folgte der Argumentation des Klägers. Es läge ein „schuldhafter Pflegefehler“ vor, „im Bereich des vollbeherrschbaren Risikos“. Das Heim müsse zahlen.«

Nun kann man sich über die interessante Vorstellung von „vollbeherrschbaren Risiken“ im Pflegealltag Gedanken machen (auch unter anderen Rahmenbedingungen als im vorliegenden Fall), aber das angedeutete Entsetzen auf Seiten der Pflegeheimbetreiber begründet sich aus einem weiteren Satz, den man in der Urteilsbegründung finden kann:

»Es sei ein „Organisations- und Überwachungsfehler“ zu konstatieren, da die „ungelernte Hilfskraft“ nicht die „zur Sturzvermeidung objektiv gebotenen Maßnahmen anwenden konnte“. Es handle sich um „einen Standardvorgang, der für eine Pflegekraft mit entsprechender Ausbildung überblickbar und mit der entsprechenden fachlichen Kompetenz auch vermeidbar gewesen wäre“, heißt es im Urteil.«

Man kann die Skepsis des betroffenen Heimbetreibers – der unter erheblichen Fachkräftemangel leidet – durchaus nachvollziehen, wenn man die Entscheidung konsequent zu Ende denkt, denn darin steckt eine doppelte Herausforderung:

  1. Zum einen wird im Grunde postuliert, dass letztendlich alle Tätigkeiten am Patienten von einer ausgebildeten Fachkraft durchgeführt werdenb und es vor dem Hintergrund der möglichen Folgen kaum noch Tätigkeiten am Patienten geben kann, die auch FSJler, Hilfskräfte oder ähnliche Kräfte ausüben könnten.
  2. Der Tatbestand einer ausgebildeten Pflegefachkraft hilft aber auch noch nicht, denn diese muss so geschult sein, dass sie mit Sicherheit Stürze oder ähnliche Unfälle vermeiden könnte, da ansonsten Organisatonsversagen konstatiert werden kann/muss.

Thomas Trappe hat den Sachverhalt in seinem Kommentar Ratlos nach Richterspruch so eingeordnet:

»Wen können wir noch mit der Betreuung von Bewohnern betrauen, ohne Gefahr zu laufen, später von der Krankenkasse wegen eines „vermeidbaren“ Unfalls verklagt zu werden? Die Konsequenz des Richterspruchs müsste lauten: Ungelernte Kräfte müssen immer dann vom Patienten ferngehalten werden, wenn Unfallgefahr droht, weil nur der Einsatz einer geschulten Fachkraft vor Schadenersatzansprüchen zu schützen scheint.

Das kommt faktisch einem Ausschluss vieler unentbehrlicher und meist sehr engagierter Helfer aus der täglichen Pflege gleich. Seien es nun Studenten, Jugendliche im Freiwilligendienst oder andere Kräfte, die, ganz nebenbei, ihren Beitrag leisten, die Pflegekassen zu entlasten.«

Auf der anderen Seite gibt es auch andere Stimmen, die darauf hinweisen, dass dieses Urteil – gegen das übrigens vom DRK Zittau Berufung eingelegt wurde – zu begrüßen sei, weil es gegen den „Missbrauch“ ungelernter Kräfte in den Pflegeheimen gerichtet ist und die Heimbetreiber zwinge, endlich für ausreichend qualifiziertes Personal zu sorgen.

In den Kommentaren zu dem Artikel der Ärzte-Zeitung findet man dazu beispielsweise die Anmerkungen von Berthold Neu:

»Viel zu lange haben Staat und Organisationsverantwortliche vor Ort die Augen davor verschlossen, daß Ehrenamtliche, Praktikanten, Azubis und anderern Hilfkräfte – nicht nur im Gesundheitswesen – die Systeme noch am Laufen hielten. (Das sind die gleichen Befürworter, die jedweden Hartz-IV-Empfänger in die Altenheime und Senioren in die Kindertagesstätten schicken wollen). Ausgebildetes Pflegepersonal, das täglich maximal ausgenutzt wird, kommt unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen kaum umhin, Tätigkeiten auf ungelernte Kräfte zu verlagern. Aber das war noch niemals rechtens, nur eine profitable Gewohnheit. Im Schadensfall wird dann meist von – angeblich unwissenden – kaufmännischen Entscheidungsträgern auf die alleinige medizinisch-fachliche Vorantwortlichkeit verwiesen und die Justiz gibt sich mit dem Bauernopfer zufrieden. Schön zu sehen, daß auch endlich die „Täter hinter dem Täter“ herangezogen werden.«

Man darf gespannt sein, wie sich der weitere juristische Fortgang dieses Falls darstellen wird. Am Ende würde bei Aufrechterhaltung und Diffusion der „Görlitzer Linie“ in die Fläche natürlich die spannende Frage stellen, wie und wo man denn die Fachkräfte besorgen will oder kann und was das für sie stationäre Pflege bedeuten würde, wenn das nicht klappt. Und außerdem sollte nicht vergessen werden – bei aller absolut berechtigten Regulierung und Kontrolle der Bedingungen in den Heimen werden diese immer stärker in den Fokus gerückt, während das in der ambulanten, aber vor allem in der häuslichen Pflege teilweise völlig anders aussieht. Das Gefälle ist heute schon erheblich und würde sich weiter vergrößern. Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass solche Urteile auch zu beklagenswerten, aber wahrscheinlich beobachtbaren Nebenfolgen führen können, beispielsweise lässt man ältere Menschen dann noch öfters oder noch länger einfach im Bett liegen, statt sie in eine Situation zu bringen, bei der Fehler solche Konsequenzen für das Heim haben können.

Schon wieder eine „Reform“ – jetzt die „der“ Pflege. Von Beitragsmitteln und ihrer Verwendung, einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Dauerschleife des täglich grüßenden Murmeltiers und anderen Merkwürdigkeiten

Bekanntlich zucken viele Menschen – und das nicht ohne Grund – zusammen, wenn sie in einem der vielen Felder der Sozialpolitik die Ankündigung einer „Reform“ zu hören bekommen. Denn damit war in den zurückliegenden Jahren – seien wir ehrlich – oftmals weniger Fortschritt und Verbesserung verbunden, sondern Einschränkungen und Abbau, zuweilen auch Exklusion.
Hinsichtlich der von der Großen Koalition angestrebten nächsten „Pflegereform“ – die korrekter (wieder einmal) primär als Reform der Pflegeversicherung bezeichnet werden muss – gibt es auf den ersten Blick mehrere sehr ambitionierte Zielsetzungen: Es soll mehr Geld für die Pflege organisiert , endlich ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Versorgungsrealität gehoben werden, es soll mehr Personal geben und einiges anderes mehr. Offensichtlich – so könnte man meinen – hat die Politik nun endlich die immer lauter werdenden Stimmen aus der Pflege selbst vernommen, die dringend konkrete Verbesserungen anmahnen und sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden  – ob mit breiten Zusammenschlüssen wie dem „Bündnis für gute Pflege„, in dem sich zahlreiche Wohlfahrts-, Sozial- und Pflegeverbände zusammengeschlossen haben oder dem Aktionsbündnis „Pflege am Boden„, die mit bundesweiten Flashmob-Aktionen um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen streiten.

Doch noch ist nichts in trockenen Tüchern bei der anstehenden Pflegereform und ob es sich wirklich um Verbesserungen handeln wird, darüber kann und muss man mit einer gehörigen Portion Skepsis streiten. Unterstützung für das Lager der Skeptiker kann man auch solchen Überschriften entnehmen: „Verschenktes Geld“ – Streit um Rücklagen für die Pflege, so hat Rainer Woratschka seinen Beitrag überschrieben oder wie wäre es damit: „Es wird nicht nur Gewinner geben“. Laumann über die Pflegereform, so hat Anno Fricke ein Interview mit Karl-Josef Laumann, seines Zeichens „Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patientenrechte und Pflege“ im Rang eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium, überschrieben.

Und in diesem Interview findet sich ein interessantes Zitat des Herrn Laumann: Seiner Meinung nach sollte bei der nun umzusetzenden Pflegereform ein Aspekt stärker beachtet werden: »… nämlich dass das Beitragsgeld ausschließlich für die Pflegebedürftigen da ist, und für diejenigen, die die Pflegearbeit leisten.«

Da kann man nur zustimmen. Aber schauen wir genauer hin, was denn mit dem Geld des Beitragszahlers eigentlich geplant ist. Das hat Rainer Woratschka so zusammengefasst:

»Bisher ist vorgesehen, den Pflegebeitrag für die geplante Reform Anfang 2015 um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen – und davon ein Drittel in die Rücklage fließen zu lassen. Das entspräche 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Mit der Reserve soll der vorhergesagte Ausgabenanstieg in den Jahren zwischen 2035 und 2055 abgefedert werden, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge ins Pflegealter kommen. Die restlichen 2,4 Millionen Euro sollen in sofortige Leistungsverbesserungen fließen.
Für einen zweiten Reformschritt, den versprochenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, soll der Beitrag Anfang 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Vorgesehen ist etwa eine differenziertere Einstufung der Pflegebedürftigen, die Abschaffung der so genannten Minutenpflege und mehr direkte Zuwendung statt bloß körperbezogener Leistungen. Davon sollen vor allem Demenzkranke profitieren.«

Diesen Ausführungen kann man zwei zentrale Sollbruchstellen entnehmen: Zum einen die Frage der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und zum anderen die angesprochene Rücklage für die Zukunft, auch als „Vorsorgefonds“ tituliert.

Zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass ein neuer Pflegebedürfigkeitsbegriff kein neuer konzeptioneller Schritt ist, vielmehr pflastern Kommissionen und Gutachten seinen bisherigen Weg – und ein erkennbares Muster, das sich rückblickend so zusammenfassen lässt: schieben, verschieben, aufschieben:

Im Herbst 2006 wurde der erste Pflegebeirat ins Leben gerufen, der die Aufgabe hatte, das Modellvorhaben mit dem Titel „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ zu begleiten. Der Bericht des „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ wurde am 29. Januar 2009 an die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben.  Im Mai 2009 wurde durch den Beirat der Umsetzungsbericht fertiggestellt. »Zum 1. März 2012 wurde durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr erneut einen Expertenbeirat einberufen, der fachliche und administrative Fragen zur konkreten Umsetzung klären sollte. Am 27. Juni 2013 hat der Expertenbeirat den „Bericht zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben. Politische Entscheidungen, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gesetzlich zu verankern, stehen bisher aus«, so der GKV-Spitzenverband.
Und was sagt Pflegebeauftragter Laumann im Frühjahr 2014?

»Man braucht Zeit, um den Pflegebedürftigkeitsbegriff vernünftig umzusetzen. Zunächst müssen wir untersuchen, ob es Gewinner und Verlierer gibt. Das müssen wir mit den MDK und einer Reihe von Menschen, die neu pflegebedürftig werden, quer durch alle Bundesländer untersuchen. Der neue Begriff bedeutet auch, dass mit den Einrichtungen Pflegesätze neu verhandelt werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Eines muss ganz klar sein: Wir müssen den neuen Begriff in dieser Wahlperiode komplett umsetzen, ganz eindeutig.«

Da von allen Seiten akzeptiert wird, dass die Umsetzung eines neuen Pflegebdürftigkeitsbegriffs mehr Geld kosten wird (wobei die konkrete Höhe durchaus umstritten ist, aber: Dass die anvisierten 2,4 Milliarden Euro für das Vorhaben nicht reichen, ist Konsens unter vielen Experten) und gleichzeitig in der dargestellten Finanzplanung eine Anhebung des Beitragssatzes zur Finanzierung dieses Teils der Pflegereform erst für 2017 vorgesehen ist – also in dem Jahr, in dem die nächste Bundestagswahl stattfinden wird – können sich die Aufschiebe-Skeptiker bestätigt fühlen.

Zur Einführung eines (kapitalgedeckten) „Vorsorgefonds“ in der gesetzlichen Pflegeversicherung: Man muss sich in einem ersten Schritt einmal grundsätzlich klar machen, was die Große Koalition hier beabsichtigt: Innerhalb einer umlagefinanzierten Sozialversicherung soll aus Beitragsmitteln gespeist ein kapitalgedeckter Fonds angelegt werden.
Das hat es aus guten Gründen noch nie gegeben.

In dem Artikel von Woratschka wird der Bremer Wissenschaftler Heinz Rothgang zitiert, ein Experte auf dem Gebiet der Pflegefinanzierung, mit Blick auf die Zeitachse: Der Fonds sei „genau dann wieder leer, wenn die höchste Zahl an Pflegebedürftigen erreicht wird“.

Laut Koalitionsvertrag soll die nicht näher bezifferte Rücklage bis zu ihrer Verwendung von der Bundesbank verwaltet werden. Doch die bedankt sich. Angesichts des Auf und Ab beim GKV-Zuschuss traut die Bundesbank der Stetigkeit der öffentlichen Hand nicht, so die Zusammenfassung unter der Überschrift „Bundesbank hält wenig von Vorsorgefonds in Staatsregie“ in der Ärzte Zeitung.

Dazu schreibt die Bundesbank selbst in ihrem Monatsbericht März 2014:

»Ab 2015 soll … der Beitragssatz schrittweise um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Davon sollen 0,4 Prozentpunkte unmittelbar zur Finanzierung der laufenden Ausgaben eingesetzt werden und das den verbleibenden 0,1 Prozentpunkten entsprechende Beitragsaufkommen zunächst in eine (von der Bundesbank verwaltete) Rücklage geleitet werden. Das ausgedehnte Leistungsvolumen wird künftige Generationen noch stärker zusätzlich belasten, weil die schrumpfende Gruppe der für das Beitragsaufkommen besonders relevanten Erwerbstätigen die Pflegeleistungen für die wachsende Gruppe der Leistungsempfänger im Wesentlichen wird finanzieren müssen. Mit dem Aufbau einer Rücklage können die heutigen Beitragszahler zwar stärker und mit dem Abschmelzen zukünftige Beitragszahler weniger zusätzlich belastet werden. Nach dem Verzehr der Finanzreserven wird das höhere Ausgabenniveau dann aber durch laufend höhere Beiträge gedeckt werden müssen. Inwiefern die beabsichtigte Beitragsglättung tatsächlich erreicht wird, hängt von den weiteren Politikreaktionen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Erfahrung zeigt, dass Rücklagen bei den Sozialversicherungen offenbar Begehrlichkeiten entweder in Richtung höherer Leistungsausgaben oder auch zur Finanzierung von Projekten des Bundes wecken. Zweifel an der Nachhaltigkeit einer kollektiven Vermögensbildung unter staatlicher Kontrolle erscheinen umso eher angebracht, je unspezifischer die Verwendung der Rücklagen festgelegt wird« (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2014, S. 10).
Eine deutliche Kritik.

Betrachtet man also wie hier geschehen nur zwei sehr wichtige Komponenten der anstehenden „Pflegereform“, dann wird das Lager der Skeptiker eher gestärkt aus der aktuellen Bestandsaufnahme herausgehen. Wir lassen uns aber natürlich gerne vom Gegenteil überzeugen.

Ein würdiger Lebensabend als Missverständnis und ein Renten-Paternalist, der das geschäftlich sieht. Und „die“ Frauen wieder als gehemmte Reserve für den Arbeitsmarkt

Man kann so sicher wie das Amen in der Kirche davon ausgehen, dass ein Thema der vor uns liegenden Bundestagswahl das Thema Alterssicherung und vor allem die drohende Altersarmut für immer mehr Menschen sein wird. Wie das heute schon aussehen kann, hat Andreas Wenderoth in seiner Reportage Am Ende exemplarisch aufgezeigt: »Fast jeder zweite Berufstätige in Deutschland fürchtet, dass die Rente im Alter nicht zum Leben reichen wird. Für Andrea Linke aus Berlin ist diese düstere Ahnung längst Realität. Aus dem Alltag einer Frau, die vier Jahrzehnte lang geschuftet hat und trotzdem mit der Armut kämpft.« Die 65jährige Frau arbeitet für acht Euro in der Stunde als Springerin für eine Zeitarbeitsfirma, die sie an Supermärkte in Berlin und dem Umland vermittelt. Sie arbeitet, weil sie muss, weil die Rente nicht reicht. Man muss sich die folgenden Worte, die wie Hammerschläge eines langen Lebens wirken, zu Gemüte führen:

»Außenhandelskauffrau gelernt, Sachbearbeiterin bei der Bewag und im VEB Energiekombinat. An der Kasse im Konsum und nach der Wende dann 15 Jahre bei Kaisers. 44 Jahre lang hart gearbeitet, um nun knapp über dem Sozialhilfeniveau angekommen zu sein. Dabei war sie nie faul, hat nichts verspielt oder übermäßig viel gewagt. Hat nie auf Kosten anderer gelebt und immer fleißig für ihre Rente eingezahlt. Ist ausdauernd die Runden eines langen Arbeitslebens gelaufen, um dann auf der Zielgeraden zu merken, dass das Versprechen eines würdigen Lebensabends ein Missverständnis gewesen ist.« 

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Psychiatrisierung von Trauerarbeit ante portas. Bahr will Pflegekräfte importieren. Die Babyboomer nerven die Jungen jetzt schon. Und was ist „Dorv“?

Was ist in den heutigen Zeiten schon noch normal? Diese Frage wird man sich bestimmt an der einen oder anderen Stelle schon mal gestellt haben – derzeit tun das die deutschen Psychiater aus gutem Grund, denn folgt man einem neuen Handbuch aus den USA, dann wäre intensive Trauer um einen geliebten Menschen bereits nach 14 Tagen eine behandlungsbedürftige Depression. Über solche und andere auf den ersten Blick skurril anmutende Diagnosen berichtet Adelheid Müller-Lissner in ihrem Artikel Ist das noch normal?. Das mit der Transformation von Trauer nach 14 Tagen in eine (natürlich behandlungsbedürftige) Depression ist nun nicht irgendeinem wirren Aufsatz entnommen, sondern im Mai wird die Neufassung des Krankheitskataloges der American Psychiatric Association (APA) veröffentlicht, die fünfte Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-5. Kritiker warnen schon seit Jahren vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie. Mittlerweile liegt auch seitens der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) eine kritische Stellungnahme vor: „Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? Zur Diskussion über das angekündigte Diagnosesystem DSM-V“. 

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Pflegekräfte und LKW-Fahrer unter Druck, Mütter in der Teilzeitfalle und Roma im Schatten einer schrillen Debatte

Die problematischen und vielerorts schlechter werdenden Arbeitsbedingungen in zahlreichen Branchen werden in aktuellen Fernsehberichten thematisiert. So beispielsweise die Situation in den Krankenhäusern: Personalnot im OP. Sparen wir unsere Kliniken kaputt? berichtete das Politikmagazin „Zur Sache Rheinland-Pfalz!“ des SWR-Fernsehens: „Eine neue ver.di Studie schlägt Alarm: In rheinland-pfälzischen Kliniken herrscht akuter Personalmangel. Für die Patienten heißt das: OPs müssen verschoben werden, in der Notaufnahme herrscht Stau und die Pflege läuft wie am Fließband. Keine Einzelfälle, so das Ergebnis der Studie.“

In der gleichen Sendung findet man einen Beitrag über die Arbeitsbedingungen der Fernfahrer: Der Druck auf LKW-Fahrer wächst. Ständig am Limit: „Der erneute Wintereinbruch in dieser Woche – für viele Lastwagenfahrer eine Katastrophe. Denn Schnee bedeutet Stau und der bedeutet Zeitverlust. Und gerade Zeit haben sie nicht. Viele fahren ständig am Limit und dabei oft auch zu schnell oder viel zu lange.“

Zur Problematik der Arbeitsbedingungen passt sehr gut, dass das Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ (ARD) erneut das Thema Verbandelung der Bundesagentur für Arbeit mit den Leiharbeitsunternehmen aufgegriffen hat: Fragwürdige Quote: Warum Jobcenter die Leiharbeit pushen: „Die Bundesagentur für Arbeit vermittelt Arbeitslose immer öfter in Zeitarbeit – gut für die Statistik, aber nicht immer gut für die Arbeitssuchenden. Vermittlungsquoten und eine boomende Zeitarbeitsbranche befeuern diese Entwicklung.“

Speziell mit den Wareneinräumern in Supermärkten – hier am Beispiel der Kette Tegut – hat sich das Politikmagazin „defacto“ des Hessischen Fernsehens befasst: Dumpinglöhne im Supermarkt – Wie der Einzelhandel Arbeitnehmer ausbeutet: „Täglich räumte Sonja M. im Supermarkt Regale ein – stundenlang. Die Arbeit war hart, der Verdienst dürftig: 6,50 Euro die Stunde und das ausgerechnet bei der hessischen Supermarktkette Tegut.“ Auch in diesem Beispiel spielt die Leiharbeit und das neue Thema für Lohndumping – Werkverträge – eine prominente Rolle.

Nun hat man in den vergangenen Jahren – auch befördert durch eine zunehmend kritische Berichterstattung in den Medien – versucht, die Leiharbeit sukzessive stärker zu re-regulieren. Aber wie immer suchen sich Unternehmen, denen es um Lohndumping geht, neue Um- und Auswege. In diesem Zusammenhang steht die Beschäftigung von Menschen aus Osteuropa zu katastrophalen Bedingungen – und das durchaus legal, worauf das Politikmagazin „Panorama“ (ARD) mit einem neuen Beitrag hingewiesen hat: Einwanderung: Anreiz durch legale Billigjobs: „Eigentlich soll ein Gesetz Ausbeuterjobs verhindern: Doch viele Osteuropäer arbeiten für einen lächerlichen Lohn und die Hintermänner verdienen. Denn das Gesetz greift ohne Aussagen der Opfer nicht.“

Der Arbeitsmarkt macht auch zahlreichen Frauen zu schaffen. Das Politikmagazin „Panorama 3“ des NDR-Fernsehens befasste sich mit dem Thema: Mütter-Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt: „Müttern wird die Rückkehr in den Beruf nach der Elternzeit systematisch erschwert: Es fehlt an Kinderbetreuung und an einer familienfreundlichen Unternehmenskultur.“ Viele kommen nicht mehr rein oder bleiben in einer Teilzeitendlosschleife stecken.

Und gerade die „Minijobs“ als besonders perfide Form der Teilzeitarbeit haben nicht nur massiv zugenommen und dominieren ganze Frauen-Branchen, sondern sie sind hoch gefährlich mit Blick auf die Nicht-Absicherung der betroffenen Frauen. Mit diesem Thema befasste sich das Politikmagazin „Zur Sache Rheinland-Pfalz!“: Warum so viele Frauen in die Armutsfalle tappen. Vorsicht Minijobs!: „Erst kommen die Kinder und dann das Karriere-Aus: Viele Frauen gerade auf dem Land entscheiden sich nach der Erziehungsphase für einen so genannten Minijob. Aber das kann sich rächen. Nach einer Scheidung oder dem frühen Tod des Partners droht die Altersarmut.“

Auf dem Arbeitsmarkt haben es so einige schwer – ganz besonders gilt dies für die Menschen mit Behinderung. Nun gibt es einen immer stärker anschwellenden Diskurs über „Inklusion“ im Gefolge der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, aber der wird in Deutschland schwer schullastig geführt. Zur Inklusion gehört aber auch die Inklusion in den Arbeitsmarkt, in die Erwerbsarbeit. Mit diesem Thema befasste sich das Politikmagazin „Westpol“ des WDR-Fernsehens: Inklusion im Betrieb: „Das Thema „Inklusion“ wird in vor allem mit der Schule verbunden. Richtig verstanden ist Inklusion eine gesellschaftliche Herausforderung, die auch vor Betrieben nicht Halt machen soll. WESTPOL hat sich in einem Kölner Supermarkt praktizierte Inklusion angesehen.“

Wenn diese Tage über Roma aus Osteuropa gesprochen wird, dann kann man zu dem Eindruck gelangen, hunderttausende Armutsflüchtlinge haben sich auf den Weg gemacht, um in deutschen Großstädten einzufallen und eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen. Unbestritten sind erhebliche soziale Überforderungsprobleme in den Großstädten, wo es eine starke Zuwanderung von Armutsflüchtlingen gibt, die dann oftmals auf bereits angeschlagene Stadtstrukturen treffen. So beispielsweise im Ruhrgebiet: Über Flüchtlinge aus Südosteuropa berichtete das WDR-Magazin „Westpol“: „Die Situation für manche Kommune spitzt sich zu, NRW-Integrationsminister Schneider fordert ein Sofortprogramm des Bundes. Flüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien stellen Städte wie Dortmund und Duisburg vor eine immense Herausforderung. Westpol war in Duisburg bei Migranten, Betreuern und Offiziellen.“ Mit diesen Schlaglicht-Berichten aus den „Brennpunkten“ der Armutszuwanderung kann man Tage füllen. Um so wichtiger ist der Blick auf die, die es auch gibt, über die aber keiner spricht, die nicht auftauchen – teilweise auch deshalb, weil sie selbst ihre Herkunft als Roma verleugnen, um nicht in den Strudel der immer hysterischer werdenden Debatte hineingezogen zu werden.

Das Politikmagazin „Monitor“ (ARD) hat sich dieser Personengruppe in einem neuen Beitrag angenommen: Ausgegrenzt. Wie Roma in Deutschland Diskriminierung erleben: „Wenn der Bundesinnenminister von ‚Bulgaren und Rumänen‘ spricht, liegt nah, wen er meint: Sinti und Roma. Diese Debatte über die sogenannten „Armutsflüchtlinge“ aus den beiden Ländern ermutigt nicht nur Rechte, ungeniert über die Minderheit zu schimpfen. Zehntausende von Roma, die in Deutschland leben, verfolgen sie still. Denn die Menschen in ihrer nächsten Umgebung wissen gar nicht, wer sie sind. Aus Angst, erkannt zu werden, verraten sie nicht, dass sie zu der Minderheit gehören. Etliche sind beruflich erfolgreich und entsprechen so gar nicht dem Klischee jener Menschen, die man allesamt für Diebe und Bettler hält.“

Werfen wir abschließend noch einen Blick auf Fernsehbeiträge, die sich mit dem Gesundheitswesen beschäftigen. Da wäre beispielsweise eine längere Reportage über das Thema Kranke Kassen in der Sendereihe „ZDFzoom“: „Wer jung und gesund ist, wird umworben. Wer alt und krank ist, stört. ZDFzoom über den kranken Wettbewerb der Krankenkassen – auf dem Rücken der Schwächsten.“
Im Gesundheitswesen werden eine Menge Geschäfte gemacht. Mit einem Ausschnitt aus der Welt der Geschäftemacherei, die immer auch mit den Hoffnungen kranker Menschen spielt, hat sich die Reportage Sanfte Medizin und satte Gewinne der Sendereihe „die story“ des WDR-Fernsehens beschäftigt: „Fast eine Milliarde Euro geben die Deutschen pro Jahr für «natürliche Heilmittel» aus. Das Geschäft läuft auf Hochtouren, sogar bei schweren Krankheiten. So bieten auch immer mehr Kliniken zusätzlich alternative Heilmethoden an und einige arbeiten ausschließlich mit „natürlichen“ Therapien.“