Richtungsweisendes Urteil hin zu einer lebensfremden Utopie oder ein längst überfälliges Vorgehen gegen die „Täter hinter den Tätern“? Die Figur der omnipräsenten Pflegefachkraft

Ach die Pflege – immer wieder wird berichtet von Missständen und Problemen, zumeist und vor allem aus den Heimen. Man kann sicher die Behauptung aufstellen, dass die Berichterstattung mit dazu beigetragen hat, dass für viele Menschen die Vorstellung, in ein Pflegeheim zu müssen, mit Schreckensvisionen verbunden ist. Auf der anderen Seite leben und müssen dort mehrere hunderttausend Menschen leben und versorgt werden. Und viele Pflegekräfte arbeiten am oder über ihrem Limit, um eine halbwegs menschenwürdige Pflege ermöglichen zu können. In Sonntagsreden sind sich zudem so gut wie alle einig darüber, dass gerade ihre Arbeitsbedingungen endlich verbessert werden müssen – und dazu gehört nicht nur eine bessere Vergütung ihrer Leistung, sondern ein ganz wesentlicher Bestandteil – gerade aus Sicht der Betroffenen – wäre ein verbesserte Personalschlüssel.

Man muss es an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen: Dass so viele Pflegekräfte in den Heimen auf dem Zahnfleisch gehen, hat eben auch damit zu tun, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren die Heimlandschaft radikal verändert hat – die früher noch anzutreffende „Drittel-Mischung“ der Bewohner eines Heims, also von denjenigen älteren Menschen, die im Grunde nur Hotellerie-Leistungen beanspruchen über die „normal“ bis hin zu den schwer Pflegebedürftigen hat sich radikal gewandelt. Heute treffen wir auf Heime, in denen das durchschnittliche Heimeintrittsalter bei weit über 80 Jahren liegt, immer mehr in Pflegestufe II oder III und vor allem ein stetig steigender Anteil an Demenzkranken. Nur ist der Personalschlüssel nicht mit dieser radikal veränderten Grundgesamtheit mitgewachsen, so dass es mehr als verständlich ist, dass die hier arbeitenden Menschen die steigende Pflegeintensität als immer erdrückender empfinden. Das soll keine Entschuldigung sein, aber der Hinweis auf eine systematisch bedingte Zwangsläufigkeit sei hier angebracht: Der systematische Überforderung des Personals ist eine der bedeutsamsten Quellen für das, was sich dann als Pflege-Missstände manifestiert und hier und da auch an die Öffentlichkeit dringt.

Und zuweilen landen diese Fälle dann auch vor Gericht. So wie in Görlitz. Und das dortige Landgericht hat ein Urteil gesprochen, das die Gemüter bewegt: »Das Görlitzer Landgericht verurteilt ein Pflegeheim zu einer Geldstrafe, weil sie eine Bewohnerin der Obhut einer ungelernten Kraft überließen. Das Urteil sorgt für Entsetzen«, so Thomas Trappe in seinem Artikel Richterin will omnipräsente Pflegefachkräfte. Die Entscheidung (Landgericht Görlitz, Az.: 1 O 453/13) wird Betreiber von Pflegeeinrichtungen aufhorchen lassen müssen. Das DRK Zittau, das als Heimbetreiber das Urteil kassiert hat, weist darauf hin, dass es sich um eine „richtungsweisende“ Entscheidung handelt – »richtungsweisend in eine falsche Richtung«, so wird der Vorstandsvorsitzende Georg Hanzl zitiert. »Denn der Beschluss der sächsischen Richterin legt nahe, ungelernte Kräfte vom direkten Kontakt mit Heimbewohnern auszuschließen.« Das wäre allerdings eine mehr als heftige Konsequenz.

Nun muss man sich zuerst mit dem Sachverhalt befassen, der dieser Entscheidung zugrunde liegt:

»Das DRK betreibt in Zittau ein Altenpflegeheim, darin auch einen „Wohnpflegehaushalt für Demenzkranke“. Neben den Pflegefachkräften sind hier auch ungelernte Kräfte beschäftigt, zum Beispiel eine Jugendliche, die in dem Haus ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvierte. Jene FSJlerin war an dem Unfall beteiligt, der dem Urteil vorausging. Wie schon viele Tage zuvor hatte die Helferin im Oktober 2010 eine damals 84 Jahre alte Bewohnerin zum Mittagstisch geführt. Dort sollte sich die Frau kurz eigenhändig abstützen, während die FSJlerin einen Stuhl heranzog. Die Bewohnerin stürzte und zog sich eine Femurfraktur zu … Die Kasse der Bewohnerin, die AOK Plus, sah die Schuld für den Sturz beim Pflegeheim, das seiner Betreuungspflicht nicht nachgekommen sei. Und verklagte das Pflegeheim auf Erstattung der Op- und Behandlungskosten in Höhe von knapp 7000 Euro. Das Heim hätte eine Pflichtverletzung begangen, „da die Versicherte nicht hätte allein am Tisch stehen gelassen werden dürfen“, wird im Urteil zitiert.

Das DRK erwiderte, dass der Unfall nicht erwartbar gewesen sei und dass sich die Bewohnerin „völlig plötzlich und unvermutet, bevor der Stuhl herangezogen wurde, fallen lassen“ habe.«
Das Gericht folgte der Argumentation des Klägers. Es läge ein „schuldhafter Pflegefehler“ vor, „im Bereich des vollbeherrschbaren Risikos“. Das Heim müsse zahlen.«

Nun kann man sich über die interessante Vorstellung von „vollbeherrschbaren Risiken“ im Pflegealltag Gedanken machen (auch unter anderen Rahmenbedingungen als im vorliegenden Fall), aber das angedeutete Entsetzen auf Seiten der Pflegeheimbetreiber begründet sich aus einem weiteren Satz, den man in der Urteilsbegründung finden kann:

»Es sei ein „Organisations- und Überwachungsfehler“ zu konstatieren, da die „ungelernte Hilfskraft“ nicht die „zur Sturzvermeidung objektiv gebotenen Maßnahmen anwenden konnte“. Es handle sich um „einen Standardvorgang, der für eine Pflegekraft mit entsprechender Ausbildung überblickbar und mit der entsprechenden fachlichen Kompetenz auch vermeidbar gewesen wäre“, heißt es im Urteil.«

Man kann die Skepsis des betroffenen Heimbetreibers – der unter erheblichen Fachkräftemangel leidet – durchaus nachvollziehen, wenn man die Entscheidung konsequent zu Ende denkt, denn darin steckt eine doppelte Herausforderung:

  1. Zum einen wird im Grunde postuliert, dass letztendlich alle Tätigkeiten am Patienten von einer ausgebildeten Fachkraft durchgeführt werdenb und es vor dem Hintergrund der möglichen Folgen kaum noch Tätigkeiten am Patienten geben kann, die auch FSJler, Hilfskräfte oder ähnliche Kräfte ausüben könnten.
  2. Der Tatbestand einer ausgebildeten Pflegefachkraft hilft aber auch noch nicht, denn diese muss so geschult sein, dass sie mit Sicherheit Stürze oder ähnliche Unfälle vermeiden könnte, da ansonsten Organisatonsversagen konstatiert werden kann/muss.

Thomas Trappe hat den Sachverhalt in seinem Kommentar Ratlos nach Richterspruch so eingeordnet:

»Wen können wir noch mit der Betreuung von Bewohnern betrauen, ohne Gefahr zu laufen, später von der Krankenkasse wegen eines „vermeidbaren“ Unfalls verklagt zu werden? Die Konsequenz des Richterspruchs müsste lauten: Ungelernte Kräfte müssen immer dann vom Patienten ferngehalten werden, wenn Unfallgefahr droht, weil nur der Einsatz einer geschulten Fachkraft vor Schadenersatzansprüchen zu schützen scheint.

Das kommt faktisch einem Ausschluss vieler unentbehrlicher und meist sehr engagierter Helfer aus der täglichen Pflege gleich. Seien es nun Studenten, Jugendliche im Freiwilligendienst oder andere Kräfte, die, ganz nebenbei, ihren Beitrag leisten, die Pflegekassen zu entlasten.«

Auf der anderen Seite gibt es auch andere Stimmen, die darauf hinweisen, dass dieses Urteil – gegen das übrigens vom DRK Zittau Berufung eingelegt wurde – zu begrüßen sei, weil es gegen den „Missbrauch“ ungelernter Kräfte in den Pflegeheimen gerichtet ist und die Heimbetreiber zwinge, endlich für ausreichend qualifiziertes Personal zu sorgen.

In den Kommentaren zu dem Artikel der Ärzte-Zeitung findet man dazu beispielsweise die Anmerkungen von Berthold Neu:

»Viel zu lange haben Staat und Organisationsverantwortliche vor Ort die Augen davor verschlossen, daß Ehrenamtliche, Praktikanten, Azubis und anderern Hilfkräfte – nicht nur im Gesundheitswesen – die Systeme noch am Laufen hielten. (Das sind die gleichen Befürworter, die jedweden Hartz-IV-Empfänger in die Altenheime und Senioren in die Kindertagesstätten schicken wollen). Ausgebildetes Pflegepersonal, das täglich maximal ausgenutzt wird, kommt unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen kaum umhin, Tätigkeiten auf ungelernte Kräfte zu verlagern. Aber das war noch niemals rechtens, nur eine profitable Gewohnheit. Im Schadensfall wird dann meist von – angeblich unwissenden – kaufmännischen Entscheidungsträgern auf die alleinige medizinisch-fachliche Vorantwortlichkeit verwiesen und die Justiz gibt sich mit dem Bauernopfer zufrieden. Schön zu sehen, daß auch endlich die „Täter hinter dem Täter“ herangezogen werden.«

Man darf gespannt sein, wie sich der weitere juristische Fortgang dieses Falls darstellen wird. Am Ende würde bei Aufrechterhaltung und Diffusion der „Görlitzer Linie“ in die Fläche natürlich die spannende Frage stellen, wie und wo man denn die Fachkräfte besorgen will oder kann und was das für sie stationäre Pflege bedeuten würde, wenn das nicht klappt. Und außerdem sollte nicht vergessen werden – bei aller absolut berechtigten Regulierung und Kontrolle der Bedingungen in den Heimen werden diese immer stärker in den Fokus gerückt, während das in der ambulanten, aber vor allem in der häuslichen Pflege teilweise völlig anders aussieht. Das Gefälle ist heute schon erheblich und würde sich weiter vergrößern. Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass solche Urteile auch zu beklagenswerten, aber wahrscheinlich beobachtbaren Nebenfolgen führen können, beispielsweise lässt man ältere Menschen dann noch öfters oder noch länger einfach im Bett liegen, statt sie in eine Situation zu bringen, bei der Fehler solche Konsequenzen für das Heim haben können.