Psychiatrisierung von Trauerarbeit ante portas. Bahr will Pflegekräfte importieren. Die Babyboomer nerven die Jungen jetzt schon. Und was ist „Dorv“?

Was ist in den heutigen Zeiten schon noch normal? Diese Frage wird man sich bestimmt an der einen oder anderen Stelle schon mal gestellt haben – derzeit tun das die deutschen Psychiater aus gutem Grund, denn folgt man einem neuen Handbuch aus den USA, dann wäre intensive Trauer um einen geliebten Menschen bereits nach 14 Tagen eine behandlungsbedürftige Depression. Über solche und andere auf den ersten Blick skurril anmutende Diagnosen berichtet Adelheid Müller-Lissner in ihrem Artikel Ist das noch normal?. Das mit der Transformation von Trauer nach 14 Tagen in eine (natürlich behandlungsbedürftige) Depression ist nun nicht irgendeinem wirren Aufsatz entnommen, sondern im Mai wird die Neufassung des Krankheitskataloges der American Psychiatric Association (APA) veröffentlicht, die fünfte Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-5. Kritiker warnen schon seit Jahren vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie. Mittlerweile liegt auch seitens der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) eine kritische Stellungnahme vor: „Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? Zur Diskussion über das angekündigte Diagnosesystem DSM-V“. 

Ein weiteres Beispiel aus dem amerikanischen Arbeitsbeschaffungsprogramm für Psychiater:

»Auch undramatischen Formen des normalen Alterungsprozesses von Gedächtnis- und anderen Gehirnfunktionen werde im DSM-5 zu Unrecht Krankheitswert zugesprochen. Das lege die neue Diagnose „minore neurokognitive Störung“ (etwa: geringe geistige Fehlfunktion) nahe.«
»Problematisch finden die deutschen Psychiater ferner die „Substanzgebrauchsstörung“. In dieser Sucht-Sammeldiagnose wurden schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit zusammengefasst. Hier fürchten sie, die Grenze zwischen echter Sucht und Formen des Alkoholgenusses, die soziale Probleme zur Folge haben, könnte verwischen.«

Insgesamt zeigt sich an diesem Beispiel neben dem ökonomischen Prozess einer angebotsinduzierten Nachfragegenerierung auch und vor allem ein nicht nur bedenklicher, sondern abzulehnender Prozess der Pathologisierung von Beeinträchtigungen, die zum „normalen Leben“ dazugehören bis hin zur Medikalisierung sozialer Probleme.

Während es offensichtlich Bestrebungen gibt, neue Nachfrage nach medizinischen Leistungen zu erschaffen, wird die real vorhandene Nachfrage in anderen Bereichen wie beispielsweise der Pflege immer öfter nicht mehr bedienbar. Ein Blick auf die Probleme in der ambulanten Pflege wirft der Artikel Zwölf Minuten für Tabletten, Tropfen und tschüs! Ein gute Ergänzung zu diesem Bericht ist der Film-Beitrag Ambulante Pflege im Akkord, der im Politikmagazin Westpol im WDR-Fernsehen gezeigt wurde. Aber die Rettung – zumindest was den Personalmangel in der Pflege angeht – scheint nahe: »In deutschen Krankenhäusern und Altenheimen fehlen Pflegekräfte. Nun soll Hilfe aus dem Ausland kommen. Die Zuwanderungshürden seien zu hoch, kritisiert der Gesundheitsminister«, so Stefan von Borstel und Karsten Kammholz in ihrem Artikel Bahr will Pflegekräften die Zuwanderung erleichtern. Dem Minister geht es um etwas ganz Konkretes:

»Im Sommer 2011 hatte die Bundesregierung die Grenzen für Ärzte und Ingenieure aus Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) geöffnet und die sogenannte Vorrangprüfung abgeschafft. Die Arbeitsagenturen prüfen dabei, ob die Stelle nicht mit einem Deutschen oder EU-Ausländer besetzt werden kann, bevor sie ihre Zustimmung zur Arbeitsgenehmigung geben. „Die Vorrangprüfung für Pflegekräfte muss fallen“, fordert Bahr jetzt.«

Auch wenn man einer solchen Zuwanderung positiv gegenübersteht wird man erkennen müssen, dass damit eine Problemlösung insgesamt nicht erreicht werden wird. Man wird dadurch sicher hier und da Löcher stopfen können, aber der Fachkräftemangel ist heute schon so ausgeprägt, dass man ein ganzes Bündel an Maßnahmen braucht, um dem begegnen zu können. Unter anderem müsste man – wenn es überhaupt eine signifikante Zuwanderung von Pflegekräften geben sollte – verhindern, dass dann weiterhin die Gehälter und die anderen Arbeitsbedingungen in den unteren Etagen gehalten werden, weil man eine gewisse Druckentlastung verspürt aufgrund des zusätzlichen („preisgünstigen“) Arbeitsangebots.

Dass die Pflege immer mehr zu unserem gesellschaftlichen Megathema wird, liegt auch an der demografischen Entwicklung. Und die führt dazu, dass die großen Herausforderungen nicht nur für die Alterssciherungssysteme, sondern auch für die Krankenversicherungen, vor allem aber für die Pflege erst noch auf uns zukommen werden – dann nämlich, wenn die „Babyboomer“ kollektiv ins höhere Alter vorstoßen werden. Aber bereits heute machen die, von denen es immer „zu viele“ gab und gibt, den jüngeren Menschen das Leben nicht nur leichter, ganz im Gegenteil, wie man derzeit im Arbeitsleben beobachten kann. Hierzu der polemische, aber interessante Artikel: Die schon wieder!: Sie sind viele, sie sind reich, und sie sind mächtig: Die Babyboomer bestimmen, wo es langgeht – in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur. Warum kommen die Jüngeren nicht gegen sie an? Eine Polemik von Anita Blasberg.

Bekanntlich – und irgendwie auch hier wieder – steht die demografische Entwicklung mittlerweile als Synonym für eine apokalyptisch daherkommende Sichtweise auf die vor uns liegende Zukunft. Da muss was Positives her, denn die Demografie hat ja bereits heute schon zugeschlagen in vielen ländlichen Regionen. Annette Jensen berichtet in ihrem Artikel Das Tante-Emma-Dorf von dem 1.400-Seelen-Dorf Barmen nahe der holländischen Grenze. Dass es heute in diesem Ort frische Brötchen, Wurst und Zahnpasta, ein Internetcafé und drei Ärzte gibt, ist das Ergebnis eines jahrelangen Ringens um die Gestaltung der Folgen der demografischen Entwicklung. Ausgangspunkt der Entwicklung war der Wunsch, einen eigenen Lebensmittelladen zu bekommen. Problem: »… laut Faustformel müssen heute mindestens 5.000 Menschen im Einzugsgebiet eines Lebensmittelgeschäfts wohnen, wenn es rentabel arbeiten soll; große Ketten eröffnen erst ab 8.000 potenziellen Kunden eine Filiale.« Dann kann man in einem 1.400-Seelen-Ort entweder kapitulieren oder: „Wenn sich ein Tante-Emma-Laden allein nicht rechnet, müssen wir eben mehr anbieten“, so einer der Initiatoren der Erfolgsstory in Barmen. „Dienstleistung und ortsnahe Rundumversorgung“ – kurz Dorv -, wurde der Ansatz getauft.

»2006 eröffnete dann der Dorv-Laden, der sich bis heute beständig weiterentwickelt hat. Wer heute den Vorraum des schlichten Backsteinbaus der ehemaligen Sparkasse betritt, findet nach wie vor einen Bankautomaten. Wo einmal die Schalter standen, befindet sich heute eine lange Theke. Rechts im Selbstbedienungsbereich gibt es alles, von der Tütensuppe über Milch, Obst, Zeitungen bis hin zur Schuhcreme. Die Preise bewegen sich auf Supermarktniveau. Neben der Kasse aufgereiht stehen Glasvitrinen für frisches Brot, Käse und Fleisch aus der Region; der Absatz in Barmen ermöglicht einem Bäcker und einem Schlachter in zwei Nachbarorten das Überleben.

Auf der anderen Seite der Kasse kann man bei einer der beiden Verkäuferinnen seine Jacke zur Reinigung geben, Medikamente auf Rezept abholen, Briefmarken kaufen, Verwaltungsformulare beantragen oder schlicht ein heißes Getränk ordern und sich damit ins Café setzen, wo man auch im Internet surfen kann. Ältere Einwohnerinnen treffen sich dort regelmäßig, die jungen Männer vom Bauhof sieht man hier in ihrer Mittagspause. Ab und zu kommt auch jemand vorbei, um einen Stapel Fotos abzuziehen, und abends hält manchmal jemand einen Vortrag. Wer nicht mehr gut zu Fuß ist, kann sich mit dem Bus der Arbeiterwohlfahrt abholen lassen oder den Dorv-Lieferdienst nutzen. Drei anständig bezahlte Vollzeitstellen und sechs Aushilfsjobs sind entstanden – nicht wenig für einen kleinen Ort wie Barmen. Außerdem kommt ein Arzt aus einem Nachbarort einmal wöchentlich zur Sprechstunde hierher. Und als ein Zahnarzt aus Jülich neue Praxisräume suchte, kaufte er das Dorv-Gebäude und quartierte sich auf der Rückseite ein. „Manchmal braucht man einfach nur Glück“, … 450.000 Euro Umsatz macht das Dorv-Zentrum heute; die Preise sind so kalkuliert, dass am Jahresende eine schwarze Null in der Bilanz steht.

Hört sich gut an. Ein Einzelfall? Keineswegs mehr: Fünfzig Dorv-Initiativen gibt es bundesweit. Weitere Informationen zu „DORV: ‚D’ienstleistung und ‚O’rtsnahe ‚R’undum’V’ersorgung. Ein Modell zur Sicherung der Grundversorgung auch in kleinen Gemeinden“ gibt es hier.