Beatmungspatienten in einem Bürogebäude und der Frust der Behörden mit einem renitent schlechten Pflegeheim. Aus den Niederungen realer Pflegemissstände

Man ist einiges gewohnt, wenn es um die Berichterstattung über Pflegemissstände geht. Aber bei dieser Meldung müssen selbst die Zyniker unter der Beobachtern mehr als schlucken: Feuerwehr räumt illegale Pflege-WG an der Hansastraße, so Bettina Ansorge in einem Bericht aus der Stadt Dortmund: »Geräumt werden Räume im dritten Stock. In ihnen leben nach Angaben der Feuerwehr vier Menschen. Drei von ihnen müssen mit Maschinen beatmet werden. Zwei von ihnen haben Infektionskrankheiten – deswegen tragen die Rettungsdienst-Mitarbeiter Schutzanzüge.« Man muss zur Einordnung wissen, es geht hier um ein Bürogebäude. In der „Wohnung“ hätten niemals intensiv pflegebedürftige Menschen untergebracht werden dürfen. »Eigentlich als Büroräume vermietet, hatte der Mieter die Räume an eine Firma untervermietet, die dort die vier Patienten untergebracht hatte. Sie wurden nach Angaben der Feuerwehr von einem Pfleger versorgt.« Bei einem Brand hätten die Patienten nicht gerettet werden können – daher wurde wegen Gefahr in Verzug geräumt. Nun stellt sich hier die berechtigte Frage: Was machen Beatmungspatienten in einem Bürogebäude? Wie konnte es überhaupt zu so einem abgründigen Geschäftsmodell kommen?  

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Man bittet das Bundesverfassungsgericht um „Hilfe in höchster Not“. Es geht also um die Pflege. Um die Pflege von Menschen mit Grundrechten

»So eine Verfassungsklage hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Sieben Musterkläger fordern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf, gegen den Pflegenotstand in Deutschland einzuschreiten und den Gesetzgeber „zur Einhaltung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen“ zu bewegen«, so Heribert Prantl in seinem Artikel Aufschrei gegen den Pflegenotstand. Das erscheint juristisch wagemutig und spektakulär, zugleich menschlich bewegend. Die Nöte der Beschwerdeführer, die zwischen 35 und 89 Jahre alt sind und die aufgrund ihrer Lebenssituation damit rechnen müssen, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden, sind dem höchsten deutschen Gericht in einer 112-seitigen Klageschrift zugestellt worden. Hinter den Klägern steht der Sozialverband VdK. Dem VdK gehe es nicht darum, dass das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberisch tätig werden solle, was es gar nicht kann, sehr wohl aber das: »Wenn die Richter in Karlsruhe aber zu dem Schluss kommen, dass der Staat seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen bislang verletzt, muss der Gesetzgeber in einer bestimmten Frist Abhilfe schaffen«, so der Verband in seiner Pressemitteilung VdK-Verfassungsbeschwerde für menschenwürdige Pflege eingereicht. Ausgearbeitet wurde die Verfassungsbeschwerde vom Rechtsprofessor Alexander Graser, Ordinarius für Öffentliches Recht, Politik und Rechtsvergleichung an der Universität Regensburg, sowie dem Rosenheimer Rechtsanwalt Christoph Lindner. Um gleich jede Hoffnung auf kurzfristige Ergebnisse zu dämpfen: Das Verfassungsgericht wird erst einmal die Zulässigkeit der Beschwerden prüfen und sollte sie diese bejahen, dann kann sich die Dauer des Verfahrens strecken. Möglicherweise jahrelang.

Was nun genau wird in der Klageschrift vorgetragen? Dazu Heribert Prantl in seinem Artikel:

»Die Liste von deutschlandweiten Versorgungsmängeln, die die Klage aufzählt, ist lang. Moniert wird unter anderem die sogenannte Fixierung, also die Fesselung von Patienten, die zu oft auch ohne die notwendige richterliche Anordnung praktiziert wird; sie führt nicht selten zum Tod durch Strangulation. Rund 150.000 Menschen, so die Klage, dürften von „freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“ dieser Art betroffen sein. Moniert wird die gezielte Ruhigstellung von Demenzkranken durch Psychopharmaka, um so Pflegepersonal einzusparen und die Einstufung des Betroffenen in eine höhere Pflegestufe zu erreichen. Moniert wird mangelnde Vorsorge gegen Druckgeschwüre bei bettlägerigen Patienten; mindestens 25.000 solcher „Dekubiti“ seien durch ordentliche Pflege vermeidbar. Moniert wird, dass viel zu viele Demenzkranke per Magensonde ernährt werden. Derzeit gibt es in Deutschland hunderttausend Patienten, die per „Schlauch im Bauch“ ernährt werden.«

Der VdK selbst hat seine Argumente für die Verfassungsklage auch in seinem Video-Beitrag zusammengefasst:

Und dann ein wichtiger, wenn nicht der zentrale Punkt dieses Vorstoßes hin zu besseren Bedingungen der Pflege: »Leid wird es in Pflegeheimen immer geben. Das gesteht auch die Verfassungsklage ein. Was unvermeidbar ist, muss und darf der Staat dulden«, so Prantl mit Blick auf die Argumentation der Verfassungsklage. Aber wann ist diese Grenze der Unvermeidbarkeit von Leid überschritten? Wann endet die Duldung durch den Staat und wann beginnen die Schutzpflichten des Staates? Das wird schwierig werden.

Zwanzig Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung, so wird die VdK-Präsidentin Ulrike Macher in der Süddeutschen Zeitung zitiert, müsse endlich dafür gesorgt werden, dass Menschen in Würde altern können. Man erbitte vom Verfassungsgericht „Hilfe in schreiender Not“. Immerhin haben die Medien die Angelegenheit aufgegriffen, wieder einmal über die Pflege zu berichten und die Klage als Aufhänger dafür zu verwenden (vgl. nur beispielhaft den Hintergrund-Beitrag Verfassungsbeschwerde für menschenwürdige Pflege des Deutschlandfunks).

Aber wird man diese Hilfe vom höchsten Gericht auch bekommen? So sehr man sich gerade an dieser Stelle eine volle Bejahung wünschen würde, plausibel ist so ein Ergebnis eher nicht.
Warum das? Man könnte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass bereits vor kurzem folgende Meldung in den Medien rezipiert wurde: Verfassungsklage für bessere Pflege abgeschmettert. Also bereits an der Schwelle der (Nicht-)Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde. Auch bei dieser Klage wurden ähnliche oder die gleichen Argumente vorgetragen, die man nun auch wieder in der vom VdK unterstützten Klage findet.

»Die Argumentation: Weil der Staat seit Jahren Missständen in deutschen Pflegeeinrichtungen tatenlos zuschaue, vernachlässige er seine Schutzpflicht gegenüber Pflegebedürftigen. Deren Rechte würden in vielerlei Hinsicht verletzt – zum Beispiel das auf Würde, auf Gleichheit, auf körperliche Unversehrtheit«, so der Artikel Für bessere Bedingungen: Heimchef zieht vors Verfassungsgericht. Auch dieser Punkt entspricht der Wahrnehmung vieler Pflegeexperten:

So müssen wegen Personalüberlastung Bewohner immer wieder warten, bis sie zur Toilette gebracht werden und bis ihnen Essen eingegeben wird. In Urlaubs- oder Krankheitszeiten sei es unmöglich, immobile Senioren ständig vorschriftsgemäß zu drehen. Die Folge: erhöhte Dekubitus-Gefahr, also Wundliegen. Rieger: „Eine Haftung als Heim muss daher ausgeschlossen werden, da es schlicht unmöglich ist, mit dem vorgegebenen Personal und den Mitteln die Vorschriften einzuhalten.“

Also gute und an vielen Stellen zutreffende Argumente – und dennoch wurde sein Ansinnen vom Bundesverfassungsgericht abschlägig beschieden. Dies allerdings weniger wegen der Inhalte oder eine fehlenden substanziellen Begründung, denn die hat das BVerfG gar nicht erst geprüft. Die Entscheidung zur Ablehnung wird formalistisch begründet: Am Montag, 18. August, hatte Armin Rieger seine Verfassungsbeschwerde für bessere Pflege abgeschickt, bereits kurze Zeit später bekam er die Mitteilung, dass sie nicht zugelassen wird. Begründung: Für bessere Pflege in Senioreneinrichtungen dürften nur diejenigen klagen, die dort leben. Rieger dagegen ist Geschäftsführer und Mitinhaber des „Haus Marie“. Man möchte dem Gericht nicht zu nahe treten, aber so ganz konsequent erscheint diese etwas gewillkürt daherkommende Grenze nun auch wieder nicht, denn auch ein Heimleiter kann ein Betroffener sein – vor allem von Zuständen, die als systematisch generiert angesehen werden.

Aber die formalistische Ablehnungsbegründung des BVerfG könnte sich auch bei dem – anders gelagerten – Ansatz des VdK als Bumerang erweisen, da es sich auch hier um Einzelkläger handelt, die (noch) nicht in einem Heim leben und eine andere Politik wollen angesichts dessen, dass ihnen dann droht.

Aber auch wenn wir einmal spekulieren, dass das Bundesverfassungsgericht entscheiden sollte, man lässt das Verfahren zu, weil wenigstens eine „halbseitige“ Betroffenheit angenommen wird. Was dann? Wo soll das Gericht die beschriebene Grenze zwischen einem unabwendbaren Leid und einer Konsequenz aus einer unterentwickelten Ressourcenlage oder einer unterlassenen Heimaufsicht auf der anderen Seite ziehen? Ab wann kippt in praxi die Schuldfrage von der einen zur anderen Seite?

Unabhängig von dem skizzierten – eher pessimistischen – Blick auf die Erfolgswahrscheinlichkeit des Unterfangens sind solche Aktivitäten – eingebettet in zahlreiche andere Vorstöße – wichtig, um das Thema Pflege weiter auf der Tagesordnung zu lassen. Denn so ein Streik, wie ihn diese Tage die Lokführer hingelegt haben, kann man sich im Bereich der Altenpflege wahrlich nicht vorstellen. Also muss man andere Kanäle suchen.

Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal

»Die Personalbesetzung der pflegerischen Berufsgruppen in deutschen Krankenhäusern liegt auf einem grenzwertig niedrigen Niveau, sodass häufig nicht gewährleistet ist, dass alle notwendigen pflegerischen Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden können. Sowohl die internationalen Vergleiche der Betreuungsrelation (im Sinne Verhältnisses von Patienten je Pflegekraft) als auch die nationalen Studien zur Belastungssituation in der Pflege zeigen einen gesundheitspolitischen Handlungsbedarf auf« (Thomas et al. 2014: 29). Diese akademisch daherkommende Beschreibung dessen, was andere hemdsärmeliger als real existierenden Pflegenotstand bezeichnen, kann man in einer neuen Studie nachlesen, die im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di von einem Wissenschaftlerteam der Universität Duisburg-Essen unter Leitung von Jürgen Wasem erstellt worden ist: Instrumente zur Personalbemessung und ‐finanzierung in der Krankenhauspflege in Deutschland, so lautet der Titel der Expertise. Und sie beschäftigt sich angesichts der teilweise desaströsen Beschäftigungsbedingungen in zahlreichen Krankenhäusern mit einem  wichtigen Thema, von dem viele unbedarfte Bürger gar nicht ahnen werden, dass es ein Thema ist: mit der Frage, ob es notwendig und vor allem ob es möglich ist, seitens des Gesetzgebers Mindeststandards für die Personalausstattung der Krankenhäuser im pflegerischen Bereich vorzugeben. 

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Richtungsweisendes Urteil hin zu einer lebensfremden Utopie oder ein längst überfälliges Vorgehen gegen die „Täter hinter den Tätern“? Die Figur der omnipräsenten Pflegefachkraft

Ach die Pflege – immer wieder wird berichtet von Missständen und Problemen, zumeist und vor allem aus den Heimen. Man kann sicher die Behauptung aufstellen, dass die Berichterstattung mit dazu beigetragen hat, dass für viele Menschen die Vorstellung, in ein Pflegeheim zu müssen, mit Schreckensvisionen verbunden ist. Auf der anderen Seite leben und müssen dort mehrere hunderttausend Menschen leben und versorgt werden. Und viele Pflegekräfte arbeiten am oder über ihrem Limit, um eine halbwegs menschenwürdige Pflege ermöglichen zu können. In Sonntagsreden sind sich zudem so gut wie alle einig darüber, dass gerade ihre Arbeitsbedingungen endlich verbessert werden müssen – und dazu gehört nicht nur eine bessere Vergütung ihrer Leistung, sondern ein ganz wesentlicher Bestandteil – gerade aus Sicht der Betroffenen – wäre ein verbesserte Personalschlüssel.

Man muss es an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen: Dass so viele Pflegekräfte in den Heimen auf dem Zahnfleisch gehen, hat eben auch damit zu tun, dass sich in den vergangenen zwanzig Jahren die Heimlandschaft radikal verändert hat – die früher noch anzutreffende „Drittel-Mischung“ der Bewohner eines Heims, also von denjenigen älteren Menschen, die im Grunde nur Hotellerie-Leistungen beanspruchen über die „normal“ bis hin zu den schwer Pflegebedürftigen hat sich radikal gewandelt. Heute treffen wir auf Heime, in denen das durchschnittliche Heimeintrittsalter bei weit über 80 Jahren liegt, immer mehr in Pflegestufe II oder III und vor allem ein stetig steigender Anteil an Demenzkranken. Nur ist der Personalschlüssel nicht mit dieser radikal veränderten Grundgesamtheit mitgewachsen, so dass es mehr als verständlich ist, dass die hier arbeitenden Menschen die steigende Pflegeintensität als immer erdrückender empfinden. Das soll keine Entschuldigung sein, aber der Hinweis auf eine systematisch bedingte Zwangsläufigkeit sei hier angebracht: Der systematische Überforderung des Personals ist eine der bedeutsamsten Quellen für das, was sich dann als Pflege-Missstände manifestiert und hier und da auch an die Öffentlichkeit dringt.

Und zuweilen landen diese Fälle dann auch vor Gericht. So wie in Görlitz. Und das dortige Landgericht hat ein Urteil gesprochen, das die Gemüter bewegt: »Das Görlitzer Landgericht verurteilt ein Pflegeheim zu einer Geldstrafe, weil sie eine Bewohnerin der Obhut einer ungelernten Kraft überließen. Das Urteil sorgt für Entsetzen«, so Thomas Trappe in seinem Artikel Richterin will omnipräsente Pflegefachkräfte. Die Entscheidung (Landgericht Görlitz, Az.: 1 O 453/13) wird Betreiber von Pflegeeinrichtungen aufhorchen lassen müssen. Das DRK Zittau, das als Heimbetreiber das Urteil kassiert hat, weist darauf hin, dass es sich um eine „richtungsweisende“ Entscheidung handelt – »richtungsweisend in eine falsche Richtung«, so wird der Vorstandsvorsitzende Georg Hanzl zitiert. »Denn der Beschluss der sächsischen Richterin legt nahe, ungelernte Kräfte vom direkten Kontakt mit Heimbewohnern auszuschließen.« Das wäre allerdings eine mehr als heftige Konsequenz.

Nun muss man sich zuerst mit dem Sachverhalt befassen, der dieser Entscheidung zugrunde liegt:

»Das DRK betreibt in Zittau ein Altenpflegeheim, darin auch einen „Wohnpflegehaushalt für Demenzkranke“. Neben den Pflegefachkräften sind hier auch ungelernte Kräfte beschäftigt, zum Beispiel eine Jugendliche, die in dem Haus ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvierte. Jene FSJlerin war an dem Unfall beteiligt, der dem Urteil vorausging. Wie schon viele Tage zuvor hatte die Helferin im Oktober 2010 eine damals 84 Jahre alte Bewohnerin zum Mittagstisch geführt. Dort sollte sich die Frau kurz eigenhändig abstützen, während die FSJlerin einen Stuhl heranzog. Die Bewohnerin stürzte und zog sich eine Femurfraktur zu … Die Kasse der Bewohnerin, die AOK Plus, sah die Schuld für den Sturz beim Pflegeheim, das seiner Betreuungspflicht nicht nachgekommen sei. Und verklagte das Pflegeheim auf Erstattung der Op- und Behandlungskosten in Höhe von knapp 7000 Euro. Das Heim hätte eine Pflichtverletzung begangen, „da die Versicherte nicht hätte allein am Tisch stehen gelassen werden dürfen“, wird im Urteil zitiert.

Das DRK erwiderte, dass der Unfall nicht erwartbar gewesen sei und dass sich die Bewohnerin „völlig plötzlich und unvermutet, bevor der Stuhl herangezogen wurde, fallen lassen“ habe.«
Das Gericht folgte der Argumentation des Klägers. Es läge ein „schuldhafter Pflegefehler“ vor, „im Bereich des vollbeherrschbaren Risikos“. Das Heim müsse zahlen.«

Nun kann man sich über die interessante Vorstellung von „vollbeherrschbaren Risiken“ im Pflegealltag Gedanken machen (auch unter anderen Rahmenbedingungen als im vorliegenden Fall), aber das angedeutete Entsetzen auf Seiten der Pflegeheimbetreiber begründet sich aus einem weiteren Satz, den man in der Urteilsbegründung finden kann:

»Es sei ein „Organisations- und Überwachungsfehler“ zu konstatieren, da die „ungelernte Hilfskraft“ nicht die „zur Sturzvermeidung objektiv gebotenen Maßnahmen anwenden konnte“. Es handle sich um „einen Standardvorgang, der für eine Pflegekraft mit entsprechender Ausbildung überblickbar und mit der entsprechenden fachlichen Kompetenz auch vermeidbar gewesen wäre“, heißt es im Urteil.«

Man kann die Skepsis des betroffenen Heimbetreibers – der unter erheblichen Fachkräftemangel leidet – durchaus nachvollziehen, wenn man die Entscheidung konsequent zu Ende denkt, denn darin steckt eine doppelte Herausforderung:

  1. Zum einen wird im Grunde postuliert, dass letztendlich alle Tätigkeiten am Patienten von einer ausgebildeten Fachkraft durchgeführt werdenb und es vor dem Hintergrund der möglichen Folgen kaum noch Tätigkeiten am Patienten geben kann, die auch FSJler, Hilfskräfte oder ähnliche Kräfte ausüben könnten.
  2. Der Tatbestand einer ausgebildeten Pflegefachkraft hilft aber auch noch nicht, denn diese muss so geschult sein, dass sie mit Sicherheit Stürze oder ähnliche Unfälle vermeiden könnte, da ansonsten Organisatonsversagen konstatiert werden kann/muss.

Thomas Trappe hat den Sachverhalt in seinem Kommentar Ratlos nach Richterspruch so eingeordnet:

»Wen können wir noch mit der Betreuung von Bewohnern betrauen, ohne Gefahr zu laufen, später von der Krankenkasse wegen eines „vermeidbaren“ Unfalls verklagt zu werden? Die Konsequenz des Richterspruchs müsste lauten: Ungelernte Kräfte müssen immer dann vom Patienten ferngehalten werden, wenn Unfallgefahr droht, weil nur der Einsatz einer geschulten Fachkraft vor Schadenersatzansprüchen zu schützen scheint.

Das kommt faktisch einem Ausschluss vieler unentbehrlicher und meist sehr engagierter Helfer aus der täglichen Pflege gleich. Seien es nun Studenten, Jugendliche im Freiwilligendienst oder andere Kräfte, die, ganz nebenbei, ihren Beitrag leisten, die Pflegekassen zu entlasten.«

Auf der anderen Seite gibt es auch andere Stimmen, die darauf hinweisen, dass dieses Urteil – gegen das übrigens vom DRK Zittau Berufung eingelegt wurde – zu begrüßen sei, weil es gegen den „Missbrauch“ ungelernter Kräfte in den Pflegeheimen gerichtet ist und die Heimbetreiber zwinge, endlich für ausreichend qualifiziertes Personal zu sorgen.

In den Kommentaren zu dem Artikel der Ärzte-Zeitung findet man dazu beispielsweise die Anmerkungen von Berthold Neu:

»Viel zu lange haben Staat und Organisationsverantwortliche vor Ort die Augen davor verschlossen, daß Ehrenamtliche, Praktikanten, Azubis und anderern Hilfkräfte – nicht nur im Gesundheitswesen – die Systeme noch am Laufen hielten. (Das sind die gleichen Befürworter, die jedweden Hartz-IV-Empfänger in die Altenheime und Senioren in die Kindertagesstätten schicken wollen). Ausgebildetes Pflegepersonal, das täglich maximal ausgenutzt wird, kommt unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen kaum umhin, Tätigkeiten auf ungelernte Kräfte zu verlagern. Aber das war noch niemals rechtens, nur eine profitable Gewohnheit. Im Schadensfall wird dann meist von – angeblich unwissenden – kaufmännischen Entscheidungsträgern auf die alleinige medizinisch-fachliche Vorantwortlichkeit verwiesen und die Justiz gibt sich mit dem Bauernopfer zufrieden. Schön zu sehen, daß auch endlich die „Täter hinter dem Täter“ herangezogen werden.«

Man darf gespannt sein, wie sich der weitere juristische Fortgang dieses Falls darstellen wird. Am Ende würde bei Aufrechterhaltung und Diffusion der „Görlitzer Linie“ in die Fläche natürlich die spannende Frage stellen, wie und wo man denn die Fachkräfte besorgen will oder kann und was das für sie stationäre Pflege bedeuten würde, wenn das nicht klappt. Und außerdem sollte nicht vergessen werden – bei aller absolut berechtigten Regulierung und Kontrolle der Bedingungen in den Heimen werden diese immer stärker in den Fokus gerückt, während das in der ambulanten, aber vor allem in der häuslichen Pflege teilweise völlig anders aussieht. Das Gefälle ist heute schon erheblich und würde sich weiter vergrößern. Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass solche Urteile auch zu beklagenswerten, aber wahrscheinlich beobachtbaren Nebenfolgen führen können, beispielsweise lässt man ältere Menschen dann noch öfters oder noch länger einfach im Bett liegen, statt sie in eine Situation zu bringen, bei der Fehler solche Konsequenzen für das Heim haben können.

Schon wieder eine „Reform“ – jetzt die „der“ Pflege. Von Beitragsmitteln und ihrer Verwendung, einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Dauerschleife des täglich grüßenden Murmeltiers und anderen Merkwürdigkeiten

Bekanntlich zucken viele Menschen – und das nicht ohne Grund – zusammen, wenn sie in einem der vielen Felder der Sozialpolitik die Ankündigung einer „Reform“ zu hören bekommen. Denn damit war in den zurückliegenden Jahren – seien wir ehrlich – oftmals weniger Fortschritt und Verbesserung verbunden, sondern Einschränkungen und Abbau, zuweilen auch Exklusion.
Hinsichtlich der von der Großen Koalition angestrebten nächsten „Pflegereform“ – die korrekter (wieder einmal) primär als Reform der Pflegeversicherung bezeichnet werden muss – gibt es auf den ersten Blick mehrere sehr ambitionierte Zielsetzungen: Es soll mehr Geld für die Pflege organisiert , endlich ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in die Versorgungsrealität gehoben werden, es soll mehr Personal geben und einiges anderes mehr. Offensichtlich – so könnte man meinen – hat die Politik nun endlich die immer lauter werdenden Stimmen aus der Pflege selbst vernommen, die dringend konkrete Verbesserungen anmahnen und sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden  – ob mit breiten Zusammenschlüssen wie dem „Bündnis für gute Pflege„, in dem sich zahlreiche Wohlfahrts-, Sozial- und Pflegeverbände zusammengeschlossen haben oder dem Aktionsbündnis „Pflege am Boden„, die mit bundesweiten Flashmob-Aktionen um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen streiten.

Doch noch ist nichts in trockenen Tüchern bei der anstehenden Pflegereform und ob es sich wirklich um Verbesserungen handeln wird, darüber kann und muss man mit einer gehörigen Portion Skepsis streiten. Unterstützung für das Lager der Skeptiker kann man auch solchen Überschriften entnehmen: „Verschenktes Geld“ – Streit um Rücklagen für die Pflege, so hat Rainer Woratschka seinen Beitrag überschrieben oder wie wäre es damit: „Es wird nicht nur Gewinner geben“. Laumann über die Pflegereform, so hat Anno Fricke ein Interview mit Karl-Josef Laumann, seines Zeichens „Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patientenrechte und Pflege“ im Rang eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium, überschrieben.

Und in diesem Interview findet sich ein interessantes Zitat des Herrn Laumann: Seiner Meinung nach sollte bei der nun umzusetzenden Pflegereform ein Aspekt stärker beachtet werden: »… nämlich dass das Beitragsgeld ausschließlich für die Pflegebedürftigen da ist, und für diejenigen, die die Pflegearbeit leisten.«

Da kann man nur zustimmen. Aber schauen wir genauer hin, was denn mit dem Geld des Beitragszahlers eigentlich geplant ist. Das hat Rainer Woratschka so zusammengefasst:

»Bisher ist vorgesehen, den Pflegebeitrag für die geplante Reform Anfang 2015 um 0,3 Prozentpunkte zu erhöhen – und davon ein Drittel in die Rücklage fließen zu lassen. Das entspräche 1,2 Milliarden Euro pro Jahr. Mit der Reserve soll der vorhergesagte Ausgabenanstieg in den Jahren zwischen 2035 und 2055 abgefedert werden, wenn die geburtenstärksten Jahrgänge ins Pflegealter kommen. Die restlichen 2,4 Millionen Euro sollen in sofortige Leistungsverbesserungen fließen.
Für einen zweiten Reformschritt, den versprochenen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, soll der Beitrag Anfang 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Vorgesehen ist etwa eine differenziertere Einstufung der Pflegebedürftigen, die Abschaffung der so genannten Minutenpflege und mehr direkte Zuwendung statt bloß körperbezogener Leistungen. Davon sollen vor allem Demenzkranke profitieren.«

Diesen Ausführungen kann man zwei zentrale Sollbruchstellen entnehmen: Zum einen die Frage der Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und zum anderen die angesprochene Rücklage für die Zukunft, auch als „Vorsorgefonds“ tituliert.

Zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass ein neuer Pflegebedürfigkeitsbegriff kein neuer konzeptioneller Schritt ist, vielmehr pflastern Kommissionen und Gutachten seinen bisherigen Weg – und ein erkennbares Muster, das sich rückblickend so zusammenfassen lässt: schieben, verschieben, aufschieben:

Im Herbst 2006 wurde der erste Pflegebeirat ins Leben gerufen, der die Aufgabe hatte, das Modellvorhaben mit dem Titel „Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI“ zu begleiten. Der Bericht des „Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ wurde am 29. Januar 2009 an die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben.  Im Mai 2009 wurde durch den Beirat der Umsetzungsbericht fertiggestellt. »Zum 1. März 2012 wurde durch Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr erneut einen Expertenbeirat einberufen, der fachliche und administrative Fragen zur konkreten Umsetzung klären sollte. Am 27. Juni 2013 hat der Expertenbeirat den „Bericht zur konkreten Ausgestaltung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben. Politische Entscheidungen, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gesetzlich zu verankern, stehen bisher aus«, so der GKV-Spitzenverband.
Und was sagt Pflegebeauftragter Laumann im Frühjahr 2014?

»Man braucht Zeit, um den Pflegebedürftigkeitsbegriff vernünftig umzusetzen. Zunächst müssen wir untersuchen, ob es Gewinner und Verlierer gibt. Das müssen wir mit den MDK und einer Reihe von Menschen, die neu pflegebedürftig werden, quer durch alle Bundesländer untersuchen. Der neue Begriff bedeutet auch, dass mit den Einrichtungen Pflegesätze neu verhandelt werden müssen. Das geht nicht von heute auf morgen. Eines muss ganz klar sein: Wir müssen den neuen Begriff in dieser Wahlperiode komplett umsetzen, ganz eindeutig.«

Da von allen Seiten akzeptiert wird, dass die Umsetzung eines neuen Pflegebdürftigkeitsbegriffs mehr Geld kosten wird (wobei die konkrete Höhe durchaus umstritten ist, aber: Dass die anvisierten 2,4 Milliarden Euro für das Vorhaben nicht reichen, ist Konsens unter vielen Experten) und gleichzeitig in der dargestellten Finanzplanung eine Anhebung des Beitragssatzes zur Finanzierung dieses Teils der Pflegereform erst für 2017 vorgesehen ist – also in dem Jahr, in dem die nächste Bundestagswahl stattfinden wird – können sich die Aufschiebe-Skeptiker bestätigt fühlen.

Zur Einführung eines (kapitalgedeckten) „Vorsorgefonds“ in der gesetzlichen Pflegeversicherung: Man muss sich in einem ersten Schritt einmal grundsätzlich klar machen, was die Große Koalition hier beabsichtigt: Innerhalb einer umlagefinanzierten Sozialversicherung soll aus Beitragsmitteln gespeist ein kapitalgedeckter Fonds angelegt werden.
Das hat es aus guten Gründen noch nie gegeben.

In dem Artikel von Woratschka wird der Bremer Wissenschaftler Heinz Rothgang zitiert, ein Experte auf dem Gebiet der Pflegefinanzierung, mit Blick auf die Zeitachse: Der Fonds sei „genau dann wieder leer, wenn die höchste Zahl an Pflegebedürftigen erreicht wird“.

Laut Koalitionsvertrag soll die nicht näher bezifferte Rücklage bis zu ihrer Verwendung von der Bundesbank verwaltet werden. Doch die bedankt sich. Angesichts des Auf und Ab beim GKV-Zuschuss traut die Bundesbank der Stetigkeit der öffentlichen Hand nicht, so die Zusammenfassung unter der Überschrift „Bundesbank hält wenig von Vorsorgefonds in Staatsregie“ in der Ärzte Zeitung.

Dazu schreibt die Bundesbank selbst in ihrem Monatsbericht März 2014:

»Ab 2015 soll … der Beitragssatz schrittweise um insgesamt 0,5 Prozentpunkte angehoben werden. Davon sollen 0,4 Prozentpunkte unmittelbar zur Finanzierung der laufenden Ausgaben eingesetzt werden und das den verbleibenden 0,1 Prozentpunkten entsprechende Beitragsaufkommen zunächst in eine (von der Bundesbank verwaltete) Rücklage geleitet werden. Das ausgedehnte Leistungsvolumen wird künftige Generationen noch stärker zusätzlich belasten, weil die schrumpfende Gruppe der für das Beitragsaufkommen besonders relevanten Erwerbstätigen die Pflegeleistungen für die wachsende Gruppe der Leistungsempfänger im Wesentlichen wird finanzieren müssen. Mit dem Aufbau einer Rücklage können die heutigen Beitragszahler zwar stärker und mit dem Abschmelzen zukünftige Beitragszahler weniger zusätzlich belastet werden. Nach dem Verzehr der Finanzreserven wird das höhere Ausgabenniveau dann aber durch laufend höhere Beiträge gedeckt werden müssen. Inwiefern die beabsichtigte Beitragsglättung tatsächlich erreicht wird, hängt von den weiteren Politikreaktionen ab. Nicht zuletzt die aktuelle Erfahrung zeigt, dass Rücklagen bei den Sozialversicherungen offenbar Begehrlichkeiten entweder in Richtung höherer Leistungsausgaben oder auch zur Finanzierung von Projekten des Bundes wecken. Zweifel an der Nachhaltigkeit einer kollektiven Vermögensbildung unter staatlicher Kontrolle erscheinen umso eher angebracht, je unspezifischer die Verwendung der Rücklagen festgelegt wird« (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2014, S. 10).
Eine deutliche Kritik.

Betrachtet man also wie hier geschehen nur zwei sehr wichtige Komponenten der anstehenden „Pflegereform“, dann wird das Lager der Skeptiker eher gestärkt aus der aktuellen Bestandsaufnahme herausgehen. Wir lassen uns aber natürlich gerne vom Gegenteil überzeugen.