Der deutsche gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro ist nur Mittelmaß. Ist er das?

Das passt in die aktuelle Mindestlohn-Debatte: »Deutsche Unternehmer schimpfen auf den gesetzlichen Mindestlohn. Doch eine Studie zeigt: Mit 8,50 Euro liegt die Bundesrepublik international nur im Mittelfeld«, kann man dem Artikel Deutscher Mindestlohn ist nur Mittelmaß entnehmen. Als Nachzügler – in 22 der 28 EU-Staaten gilt nun ein gesetzlicher Mindestlohn – hat Deutschland seit Januar 2015 eine solche allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro eingeführt, die für fast alle gilt und der erstmals wieder zum Januar 2017, also in gut zwei Jahren, angepasst werden kann, nachlaufend zur Tariflohnentwicklung der Vergangenheit. In 16 Staaten sei die gesetzliche Lohnuntergrenze zum 1. Januar gestiegen, berichtet der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), auf den sich der Artikel bezieht: »Der höchste Mindestlohn wird demnach in Luxemburg bezahlt, wo er zu Jahresbeginn … auf 11,12 Euro kletterte. Den zweithöchsten Mindestlohn gibt es mit 9,61 Euro in Frankreich … Auch andere deutsche Nachbarn hoben ihre Lohnuntergrenze an, darunter die Niederlande auf 9,21 Euro und Belgien auf 9,10 Euro.« Und da streiten wir uns über 8,50 Euro in der stärksten Volkswirtschaft der EU? Schauen wir etwas genauer hin.

Im internationalen Vergleich liegt der deutsche Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro pro Stunde im Mittelfeld, wenn man das am „Medianlohn“ misst (der Medianlohn ist der mittlere Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient; er bildet den „wahren“ Durchschnittsverdienst besser ab als das arithmetische Mittel, denn das kann durch wenige Ausreißer stärker verzerrt werden).

In der Pressemitteilung des WSI zum neuen Mindestlohnbericht liest sich das so: »Der deutsche Mindestlohn ist im westeuropäischen Vergleich moderat und liegt relativ zum nationalen Durchschnittsverdienst lediglich im internationalen Mittelfeld.« Insofern ist die im zitierten Artikel gemachte Aussage »Mit 8,50 Euro liegt die Bundesrepublik international nur im Mittelfeld« eine etwas irreführende Zusammenfassung. Wie so oft in der Statistik geht es immer auch um die Bezugsbasis und das Bezugsjahr. Beispiel Großbritannien:

»In den westeuropäischen Euro-Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne nun zwischen 8,50 Euro in Deutschland und 11,12 Euro brutto in Luxemburg. In Großbritannien müssen umgerechnet mindestens 8,06 Euro gezahlt werden. Dieser Wert ist jedoch von der anhaltenden Schwäche des Britischen Pfunds beeinflusst. Wenn man den Wechselkurs zugrunde legen würde, der 1999 bei Einführung des britischen Mindestlohns galt, läge dieser heute bei 9,87 Euro und damit im westeuropäischen Spitzenbereich«, kann man der Zusammenfassung des Mindestlohnberichts 2015 entnehmen.

Aber auch hier findet man – mit Bezug auf Thorsten Schulten, dem Verfasser des Mindestlohnberichts – die folgende Formulierung:

»Der neue deutsche Mindestlohn liegt nach Schultens Analyse bei der absoluten Höhe „am unteren Rand der westeuropäischen Spitzengruppe“ – hinter Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Irland. Schaut man auf das relative Niveau, rangiert Deutschland lediglich im internationalen Mittelfeld: Gemessen am jeweiligen Medianlohn, den Vollzeitbeschäftigte verdienen, hätte die deutsche Lohnuntergrenze im Jahr 2013 – dem letzten, für das derzeit international vergleichbare Daten vorliegen – 50 Prozent betragen. Beim Medianlohn handelt es sich um denjenigen Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Da seit 2013 der Medianlohn in Deutschland weiter angestiegen ist, dürfte der relative Wert des Mindestlohns heute sogar unter 50 Prozent liegen.«

Also doch. Allerdings gibt es dann im weiteren Verlauf einen wichtigen Hinweis, der zur Relativierung einlädt: »Setzt man die Lohnuntergrenze ins Verhältnis zu den nationalen Lebenshaltungshaltungskosten, profitieren deutsche Mindestlohnbezieher vom relativ günstigen Preisniveau in der Bundesrepublik: Ihre Kaufkraft ist etwas höher als die von Beschäftigten, die in den Niederlanden, Belgien oder Irland für den Mindestlohn arbeiten müssen.« An dieser Stelle wird der Ökonom sofort an die Kaufkraftparitäten denken. »Kaufkraftparitäten sind Preisrelationen, die angeben, wie viele Einheiten inländischer Währung erforderlich sind, um die gleiche Menge an einem Gut oder an einem Bündel von Gütern zu erwerben, die für eine Einheit einer bestimmten ausländischen Währung erhältlich ist«, so die Erläuterung der Bundesstatistiker. Aber nicht nur für die Vergleiche zweier oder mehr Länder mit unterschiedlichen Währungen nutzt man das, auch innerhalb der Euro-Zone ist das relevant und wird auch zur Anwendung gebracht.

Der Euro hat in einzelnen Ländern der Eurozone abhängig vom nationalen Preisniveau eine unterschiedliche Kaufkraft. Die Kaufkraftparitäten sind Preisverhältnisse zwischen Preisen für gleiche Waren oder Dienstleistungen. Für die Preiserhebung wird ein Korb vergleichbarer Waren und Dienstleistungen verwendet, die die Verbrauchsstrukturen der verschiedenen Länder berücksichtigen. Es geht also um Umrechnungsfaktoren in eine künstliche gemeinsame Währung, Kaufkraftstandard (KKS) genannt, um die Aggregate dann vergleichen zu können. Beispielsweise die Kaufkraft der Löhne in den einzelnen Euro-Ländern.

Das WSI-Tarifarchiv, das auch den Mindestlohnbericht verantwortet, hat nun auch die gesetzlichen Mindestlöhne nach dem KKS-Konzept ausgewiesen, also unter Berücksichtigung der Kaufkraftverhältnisse nicht nur zu Ländern mit anderen Währungen, wie den USA, Großbritannien usw., sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der Euro-Zone. Nach Korrektur um die unterschiedlichen Kaufkraftverhältnisse ergeben sich die Verhältnisse, die in der zweiten Abbildung dargestellt sind.

Wenn man das macht, dann zeigt sich, dass Deutschland mit seinem neuen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den dritten Platz im europäischen Vergleich vorrückt – nur in Luxemburg und in Frankreich ist der so umgerechnete Wert höher.

Und ein weiterer Aspekt ist hier z berücksichtigen: Seit dem 1. Januar 2015 gibt es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro auf Basis des Mindestlohngesetzes (MiLoG), allerdings Ausnahmen vom Mindestlohn für einzelne Personen- und Beschäftigtengruppen (Jugendliche unter 18 Jahren, Praktikanten, Langzeitarbeitslose, Zeitungszusteller) – und über den wurde hier bislang gesprochen. Darüber hinaus gibt es aber auch noch allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne auf Basis des Tarifvertragsgesetzes (TVG), des Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Nur noch für eine Übergangszeit von mittlerweile weniger als zwei Jahren, bis Ende 2016, dürfen Branchenmindestlöhne unter dem allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro liegen. In sechs Branchen liegen die Mindestlöhne derzeit noch unterhalb von 8,50 Euro. Aber es gibt auch zahlreiche Branchenmindestlöhne, die über den 8,50 Euro liegen – und das müsste korrekterweise auch berücksichtigt werden. Und hier geht es nicht um irgendwelche abseitigen Gruppen der Gesellschaft:

»Aktuell bestehen für 18 Wirtschaftszweige branchenspezifische Mindestlöhne. Insgesamt arbeiten in diesen Branchen rund 4,6 Millionen Beschäftigte. Diese Mindestlöhne bewegen sich je Branche und regionalem Tarifgebiet zwischen 7,20 und 14,20 Euro.« (2015 – Das Jahr des Mindestlohns: Alle Daten auf einen Blick)

Das relativiert auf der einen Seite die Aussage, dass der deutsche Mindestlohn eher im Mittelfeld oder gar im unteren Mittelfeld liegt, auf der anderen Seite bleibt dieser Befund davon unberührt, was im neuen Mindestlohnbericht (Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2015 – Ende der Lohnzurückhaltung?, in: WSI-Mitteilungen, Heft 2/2014, S. 133-140) so formuliert wird: »Hätte Deutschland bereits im Jahr 2013 einen Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde eingeführt, so hätte dieser bei 50 % des Medianlohns für Vollzeitbeschäftigte gelegen« (S. 135). In einer Fußnote erläutert er den Rechenweg: »Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit weist für das Jahr 2013 für Vollzeitbeschäftigte einen Medianlohn von 2.960 € pro Monat aus … Bei einer 40-Stunden-Woche entspricht dies einem Median-Stundenlohn von 17,11 €. Ein Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde läge demnach bei 49,7 % des Medianlohns.«

Das relative Niveau des Mindestlohns ist in den meisten Ländern nicht besonders hoch und auch in Deutschland liegt es deutlich unterhalb der offiziellen Niedriglohnschwelle, die nach internationalen Konventionen bei zwei Dritteln des Medianlohns angesetzt wird. »In vielen Ländern reicht das Mindestlohnniveau demnach nicht aus, um die wachsende Anzahl von „arbeitenden Armen“ (wor- king poor) zu begrenzen«, so Schulten (S. 136).

In diesem Kontext interessant ist dann auch der Hinweis von Schulten, dass die Diskussionen über eine koordinierte Europäische Mindestlohnpolitik wieder an Intensität gewonnen haben. Dabei gehe es im Wesentlichen darum, sich auf europäischer Ebene auf einen gemeinsamen Mindestlohnstandard zu verständigen. Vorgeschlagen werde beispielsweise, dass der Mindestlohn in allen EU-Staaten 55 oder 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns nicht unterschreiten dürfe.

Aus dieser Perspektive wäre der derzeitige gesetzliche Mindestlohn also eindeutig zu niedrig. Und zuweilen würde es auch ausreichen, mit Betroffenen zu sprechen, wie sie mit so einem Mindestlohn über die Runden kommen (können). Damit kann man nicht nur keine großen Sprünge machen, auch normale Schritte fallen da schon schwer. Und wir reden erst gar nicht über die Tatsache, dass auch ein Mindestlohn von (derzeit) 8,50 Euro bei 45 (!) Beitragsjahren nicht zu einer Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung führen wird, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus für Ältere liegen wird (vgl. hierzu auch meinen Blog-Beitrag 8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn vom 17.02.2015). Und natürlich setzt das alles voraus, dass der Mindestlohn überhaupt in der genannten Höhe zur Auszahlung kommt. Keine Frage. Aber dennoch muss man eben auch sagen, dass wir uns mit den 8,50 Euro keineswegs im Keller- oder Erdgeschoss befinden, sondern eher weit oben – was wiederum den Betroffenen, die über die Runden kommen müssen, kaum Trost spenden wird.

Tiefen und Untiefen des Mindestlohns. Komplizierte Fragen, wenig Zeit und deshalb der Verweis auf das, was schon geschrieben wurde

Natürlich ist es immer schwierig, in einer Talksendung komplizierte Sachverhalte ausreichend genau darzustellen oder gar erschöpfend zu behandeln – und auch wenn man das eine oder andere sagen kann, bleiben angesichts der (partei)politischen Aufladung des Themas Mindestlohn zahlreiche offene Fragen. Da ich heute zu Gast bin in der Talksendung von Günther Jauch (ARD, 21:45 Uhr) und mir sicher bin, dass die Zeit nicht ansatzweise ausreichen wird, um wichtige Punkte anzusprechen, habe ich nur die aktuellsten Beiträge zum Thema Mindestlohn, die ich hier in meinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ veröffentlicht habe, chronologisch sortiert und verlinkt, so dass jeder ein Blick werfen kann auf die ganz unterschiedlichen Aspekte und auch auf meine Einschätzungen und Bewertungen zu diesem mehr als kontroversen Thema. Und angesichts der aktuellen Debatte werden hier weitere Beiträge sicher kommen (müssen). Man greife aus den aktuellen Berichten nur einige wenige heraus: Mindestlohn sorgt bei der Klinikgesellschaft in Heiligenstadt für Ärger – es geht um die Sonn- und Feiertagszuschläge, die nicht auf den Mindestlohn im Hotelbereich angerechnet werden darf. »Daraus folgt bei der Klinikgesellschaft … die Streichung der Sonn- und Feiertagszuschläge – ergo: Um Mindestlohn zahlen zu können, wird auf der anderen Seite gestrichen.« Die DGB-Hotline zum Mindestlohn hat eine Menge zu tun mit vielen Anrufern, die von zahlreichen Umgehungsversuchen berichten. Und selbst das angeblich zum deutschen Kulturgut zählende Oktoberfest in München wird – ebenfalls angeblich – vom Mindestlohngesetz bedroht: Mindestlohn: Schießen die Wiesn-Preise in die Höhe?, so muss man lesen, wobei der eine oder andere sich dunkel erinnern wird, dass der Bierpreis bislang immer verlässlich gestiegen ist, auch in den Prä-Mindestlohngesetz-Zeiten.

Hier nun die Liste mit den aktuellsten Beiträgen zum Themenfeld Mindestlohn in diesem Blog, nur aus diesem nicht jungen Jahr:

Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben, 26.02.2015

8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn, 17.02.2015

Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss, 03.02.2015

Gesetzlicher Mindestlohn: Von krampfhaft konstruierten Beispielen zu seinen angeblich schlimmen Folgen über parteipolitische Aufforderungen, der Staat möge sich selbst stilllegen bis hin zu den echten Baustellen, über die kaum einer spricht, 01.02.2015

Noch auf der Entbindungsstation wird am Mindestlohn gezerrt und gerüttelt. Und manche Forderungen nach „Entbürokratisierung“ erweisen sich als Scheunentor für „Mindestlohn light“-Strategen, 28.01.2015

„Die“ Praktika, ihre berechtigte (Nicht-)Ausnahme vom Mindestlohn, zusammenbrechende Geschäftsmodelle mit Langzeitpraktikanten und ein Blick auf den Bundestag und die dort vertretenen Parteien darf auch nicht fehlen, 18.01.2015

Ein Sub-Mindestlohn für Zeitungszusteller reicht einigen offensichtlich nicht. „Kreative“ Umgehungsversuche auf der Unternehmensseite, 15.01.2015

Der gesetzliche Mindestlohn. Kaum ist er da, wird seine Umsetzung ins Visier genommen und die Gewerkschaften sollen gar alle Tarifrunden absagen. Arbeitnehmer hingegen dürfen schwitzen, 11.01.2015

Im Jahr 2014 gab es ebenfalls zahlreiche Beiträge zum Thema Mindestlohn in diesem Blog (siehe Archiv der Beiträge).

Was für ein (scheinbares) Durcheinander: Immer weniger Arbeitslose und viele offene Stellen, gleichzeitig profitieren immer weniger Arbeitslose vom „Jobwunder“ und der Mindestlohn hält auch nicht das, was einige von ihm erwartet haben

„Im Februar hat sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortgesetzt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und die Beschäftigung behält ihren Aufwärtstrend bei.“ Mit diesen Worten wird Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) von seiner eigenen Behörde zitiert. »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von Januar auf Februar um 15.000 auf 3.017.000 gesunken. Im Durchschnitt der letzten drei Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Februar gestiegen, und zwar um 15.000. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 20.000 gesunken. Gegenüber dem Vorjahr waren 121.000 Menschen weniger arbeitslos gemeldet.« Und auch die Zahl der Unterbeschäftigten wird erwähnt: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt, hat sich saisonbereinigt um 20.000 verringert. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im Februar 2015 auf 3.888.000 Personen. Das waren 173.000 weniger als vor einem Jahr.« Und auch die Arbeitsnachfrage – gemessen an der Zahl der bei der BA gemeldeten offenen Stellen, die nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage abzubilden in der Lage ist – befindet sich im positiven Bereich: »Die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern ist weiter aufwärtsgerichtet. Im Februar waren 519.000 Arbeitsstellen bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet, 63.000 mehr als vor einem Jahr … Besonders gesucht sind zurzeit Arbeitskräfte in den Berufsfeldern Mechatronik, Energie- und Elektrotechnik, Verkauf und Verkehr und Logistik. Es folgen Berufe in der Metallerzeugung, Maschinen- und Fahrzeugtechnik sowie Gesundheitsberufe.« Also alles gut.
Wie passen dann aber solche Schlagzeilen in diese schöne Landschaft: Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren? Und Moment – gab es da nicht die Schreckensvisionen vieler Ökonomen in den vergangenen Monaten, die immer wieder von mehreren hunderttausend Arbeitsplätzen gesprochen haben, die mit der Einführung des Mindestlohns verloren gehen werden? Wie passt das alles zusammen?

Warum Arbeitslose nicht vom Jobwunder profitieren, fragt Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung: Er verweist nicht nur auf die Zahl von mehr als 43 Millionen Beschäftigten (wobei man hier immer mitdenken muss, dass es sich um alle Erwerbstätige handelt, also nicht nur der Vollzeitbeschäftigte mit einer 40-Stunden-Woche ist darin enthalten, sondern beispielsweise auch die Minijobber), sondern auch auf die enorme Bewegung, die wir auf dem Arbeitsmarkt haben: »Jeden Werktag melden sich gut 10.000 Menschen arbeitslos, weil sie ihren Job verloren haben. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte aber auch 2014 mehr als zwei Millionen Menschen, die ihre Arbeitslosigkeit beenden konnten.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, hat bei der Bundesregierung nachgefragt, wie sich denn der Beitrag der Arbeitsagenturen und Jobcenter darstellt, wenn es um die Vermittlung in eine (neue) Beschäftigung geht. »Das Ergebnis fand sie ziemlich ernüchternd: Trotz der Rekordbeschäftigung gelingt es den staatlichen Vermittlern immer seltener, Arbeitslosen einen festen Job zu vermitteln«, so Thomas Öchsner in seinem Bericht über die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage:

»2014 erhielten etwa 272 000 Arbeitssuchende eine reguläre, ungeförderte Stelle auf dem Arbeitsmarkt, weil sie ein Jobcenter oder eine Agentur bei einem Arbeitgeber vorgeschlagen hatte. Das sind 28 Prozent oder 100 000 weniger als noch 2011 … Wie erfolgreich die Arbeit der staatlichen Vermittler ist, zeigt unter anderem die Vermittlungsquote. Diese ist … seit Jahren rückläufig. Danach waren von allen arbeitslosen Menschen, die 2011 eine normale, nicht geförderte Stelle ergattern konnten, 16,2 Prozent von den staatlichen Behörden direkt vermittelt worden. 2014 waren es nur noch 13 Prozent.«

Nun sollte man fairerweise zugestehen, dass die Vermittlungsquote den Teil der Stellenbesetzungen abbildet, bei dem die Agenturen und Jobcenter direkt vermittlerisch tätig waren (oder wo das als solches statistisch erfasst wurde). Daneben kann man natürlich argumentieren, dass es auch zahlreiche indirekte Vermittlungsleistungen gibt oder geben kann, die dann in einer Stellenbesetzung münden, ohne dass diese in der Vermittlungsquote ausgewiesen werden.

Öchsner weist aber auch noch auf einen weiteren Aspekt hin, den man der Antwort der Bundesregierung entnehmen kann: Frühere Erwerbslose verlieren häufig relativ schnell wieder ihren neuen Job. »Danach haben nur knapp 57 Prozent noch nach einem Jahr die Stelle, die sie mithilfe der staatlichen Behörden bekommen haben. Bei denjenigen, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen und meist länger als ein Jahr arbeitslos sind, gelingt es nicht einmal jedem Zweiten, den zuvor vermittelten Job mindestens ein Jahr zu behalten.« Auch in der Bundesagentur wird das als Problem erkannt: „Die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse ist besonders für Hartz-IV-Bezieher zu kurz.“ Jeder Arbeitsvermittler werde eine unbefristete Stelle einer befristeten Stelle oder einer in der Zeitarbeit vorziehen. „Wir können uns solche Stellen jedoch nicht backen“, zitiert Öchsner eine Sprecherin der BA.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, »fordert einen Politikwechsel in der Arbeitsförderung, „weil weder Umfang noch Qualität der Vermittlung überzeugen können“. Vor allem bei gering Qualifizierten sei es nötig, stärker das Augenmerk auf das Fördern und Qualifizieren der Arbeitslosen zu legen, statt ihrer schnellen Vermittlung den Vorrang zu geben.«

Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt, der allerdings derzeit in einem doppelten Sinne versperrt wird: Zum einen durch zahlreiche förderrechtliche Restriktionen im SGB III und II, die dazu führen, dass an sich sinnvolle und gebotene Maßnahmen gar nicht durchgeführt werden dürfen, zum anderen aber auch eine seit 2011 ablaufende erhebliche Kürzung der Mittel für Fördermaßnahmen (vgl. dazu auch den Beitrag Arbeitsmarktpolitische Förderung: Weiterer Rückgang 2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt). Und vor dem Hintergrund der folgenden Äußerung der Sprecherin der BA, die Öchsner in seinem Artikel zitiert, wird zugleich die völlig unsinnige Ausgestaltung der Nicht-Förderung derzeit im SGB II erkennbar: „Unter den Arbeitslosen haben wir zu wenig Fachkräfte, die werden aber gesucht.“ Richtig, über die Hälfte der arbeitslos registrierten Hilfeempfänger im Hartz IV-System haben keine Ausbildung. Dann wäre es doch nur naheliegend, alles daran zu setzen, die Betroffenen, wenn sie denn wollen und können, zu einem ordentlichen Berufsabschluss zu verhelfen, auch und gerade vor dem Hintergrund das wir wissen, dass die Arbeitgeber in Deutschland extrem abschlussorientiert sind, also darauf schauen, ob jemand einen Berufsabschluss hat – oder eben nicht. Dann nützen auch zahlreiche Zertifikate mehr oder weniger sinnvoller Maßnahmen nichts. In der Rarität aber werden Hartz IV-Empfängern ohne eine Ausbildung aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung im SGB II zahlreiche Steine in den Weg gelegt, wenn sie eine Ausbildung machen wollen, bei älteren Hilfeempfängern kann sogar die Leistung vollständig gestrichen werden, wenn sie sich selbst bemühen, ohne Ansprüche auf andere Leistungen – ein Irrsinn (vgl. dazu den Beitrag Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft des Politikmagazins „Monitor“ in der Sendung am 26.02.2015).

Und wie sieht es auf einer anderen großen arbeitsmarktpolitischen Baustelle aus? Beim (fast) flächendeckenden Mindestlohn? Der muss hier natürlich gerade vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsmarktzahlen aufgerufen werden. Denn wie war das im vergangenen Jahr, vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns? Hunderttausende Arbeitsplätze sollten nach den Vorhersagen zahlreiche Mainstream-Ökonomen durch die neue Lohnuntergrenze verloren gehen. Vom „Jobkiller“ Mindestlohn war die Rede und viele Medien haben die apokalyptischen Visionen der Ökonomen übernommen und verbreitet. Da gab es – um nur ein Beispiel zu nennen – die Zahl von 900.000 Arbeitsplätzen, die angeblich verloren gehen durch den Mindestlohn, wie eine Studie ergeben habe. Die Zahl stammt aus einem Diskussionspapier der Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe, Ronnie Schön und Marcel Thun: Der flächendeckeckende Mindestlohn, veröffentlicht im Februar 2014. Dort findet man tatsächlich den folgenden Satz: »Die gesamten Beschäftigungsverluste belaufen sich auf über 900.000 Arbeitsplätze« (Knabe et al. 2014: 34). Aufschlussreich wird es dann schon, wenn man nicht nur bei diesem Satz stehen bleibt, sondern einfach mal weiterliest: »Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu interpretieren, da in ihr auch der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt wird. Rechnet man die Verluste bei den geringfügig Beschäftigten in Vollzeitäquivalente um, so entsprechen diese Verluste in etwa 340.000 Vollzeitarbeitsplätzen. Konzentriert man sich auf die Vollzeitbeschäftigten, so ergeben sich insgesamt rund 160.000 Arbeitsplatzverluste, die etwa je zur Hälfte in den Neuen und Alten Bundesländern anfallen.«

Wenn das alles so wäre, dann müssten wir erste Spuren dieses Beschäftigungsabbaus in den Zugangszahlen in die Arbeitslosigkeit sehen. Sehen wir aber nicht. Vielleicht einfach deshalb, weil es eben nicht zu den von vielen abgeschriebenen Arbeitsplatzverlusten kommt, wie Kritiker immer eingewandt haben? Nun kann man an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es vielleicht noch zu früh ist, für eine erste Bilanzierung des Mindestlohns, denn möglicherweise halten sich viele Unternehmen noch zurück mit den Entlassungen, die es eigentlich geben müsste, wenn denn die Modellwelten der Mindestlohnkritiker was mit der Realität zu tun haben. Schauen wir mal, kann und muss man dieser Stelle sagen, aber es ist durchaus plausibel, dass es insgesamt gesehen kaum relevante Arbeitsmartkeffekte geben wird – was nicht bedeutet, dass nicht einzelne Unternehmen bzw. bestimmt Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden werden. Aber derzeit kann und muss man sagen, dass sich der Arbeitsmarkt sehr robust darstellt und keine Anhaltspunkte für ein Eintreten der Horrorszenarien, die manche an de Wand gemalt haben, zu beobachten sind.

Statt dessen dreht sich die aktuelle Diskussion um die Versuche eines Teils der Arbeitgeber bzw. ihrer Funktionäre, die Arbeitszeiterfassung bestimmter Beschäftigter und hierbei vor allem der Minijobber wieder aus den Vorschriften zu kegeln. Was natürlich ein Scheunentor öffnen würde für schwarze Schafe. Und in der Praxis werden – nicht wirklich überraschend – von dem einen oder anderen Unternehmen Umgehungsstrategien gesucht und ausprobiert, um faktisch einen Lohn unterhalb der Lohnuntergrenze zahlen zu können. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Der schwierige Kampf gegen den Überstunden-Trick. In diesem Artikel wird das Vorstandsmitglied der BA, Heinrich Alt, zitiert:

Dass ausgerechnet die Erfassung der Arbeitszeiten für Konfliktstoff sorgt, kommt überraschend. Schließlich ist sie laut Arbeitszeitgesetz Pflicht, betonte Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Erfassung von Arbeitszeiten „sollte der Normalfall sein – nicht nur, wenn es um den Mindestlohn geht“.
Er sei „immer davon ausgegangen, dass Arbeitszeiten festgehalten werden, wenn nach geleisteten Arbeitsstunden abgerechnet wird“, sagte Alt. Die hitzige Debatte in der Koalition über das Thema verstehe er nicht: „Wenn man die Zahl der geleisteten Stunden nicht dokumentiert, ist Missbrauch nicht auszuschließen, auch nicht bei Minijobs.“

Man sollte an dieser Stelle ergänzen: nicht auch, sondern gerade bei den Minijobs ist der Missbrauch mit der unbezahlten Mehrarbeit in der Vergangenheit schon an vielen Stellen beobachtet und in Studien auch kritisiert worden. »Für geringfügig Beschäftigte solle die Dokumentationspflicht ganz abgeschafft werden, wenn ein schriftlicher und aussagekräftiger Arbeitsvertrag vorliege.« Die Verwirklichung dieser Forderung von Arbeitgeberverbänden unter dem Segel eines angeblichen „Bürokratie-Abbaus“ würde gerade den für Missbrauch am anfälligsten Bereich, also die geringfügige Beschäftigung, schutzlos den schwarzen Schafen unter den Unternehmen überlassen.

Selbst aus dem Osten Deutschlands kommen – neben den derzeit üblichen Berichten über Umgehungsversuche in einzelnen Betrieben – (noch) keine Hiobsbotschaften. „Frustrierend“ für die Mindestlohn-Gegner. Ein Beispiel aus Brandenburg:

»Seine Mitarbeiter zu erpressen, das kommt für Ralf Blauert nicht in Frage. Er betreibt in Potsdam ein Cateringunternehmen mit 50 Mitarbeitern. Früher verdienten die um die sieben Euro. Jetzt zahlt Blauert ihnen gern den Mindestlohn – dafür musste er allerdings die Preise anheben: An den Grundschulen, die Blauert mittags beliefert, zahlen Eltern jetzt für ein Essen 3,25 Euro statt 3 Euro. Die Reaktionen waren nicht so negativ, wie Blauert erwartet hatte. „Natürlich waren nicht alle begeistert. Aber wir haben mit viel mehr Unverständnis gerechnet“, sagt er. Entlassungen sind für Ralf Blauert kein Thema.«

Das sind alles erste Eindrücke, die natürlich keine annähernd seriöse Evaluierung der neuen Lohnuntergrenze darstellen. Dazu muss man zahlreiche Faktoren und Wirkungskanäle über einen längeren Zeitraum beobachten. Aber es sind Indizien, dass die Welt sicher keine ökonomische Modellwelt ist.

Um das Thema abschließend abzurunden: Bereits am 1. Februar 2014 hatte ich in dem Beitrag Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben darauf hingewiesen, dass  zumindest für alleinstehende Aufstocker ein Mindestlohn von 8,50 Euro ausreicht, um die aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System wegfallen zu lassen, die ja aus Steuermittel gezahlt werden müssen und damit eine Subventionierung der Geschäftsmodelle mit besonders niedrigen Löhnen darstellt. Nun hat sich auch die BA zu Wort gemeldet: Bundesagentur sieht Millioneneinsparungen durch Mindestlohn, so eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa:

»Nach vorläufigen Berechnungen sei bei den Ausgaben für alleinlebende Hartz IV-Empfänger mit einer Vollzeitstelle jährlich mit 600 Millionen bis 900 Millionen Euro weniger zu rechnen, sagte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt am Donnerstag in Nürnberg. Diese Gruppe der sogenannten Aufstocker benötige künftig deutlich weniger Arbeitslosengeld II zusätzlich zu ihrem Lohn.«

Eben. Und Heinrich Alt legt noch einen nach und das, was er gesagt hat, soll hier als Schlusswort gesetzt werden: „Aber eines kann man schon jetzt sagen: Für die Horrorprognosen des Münchner Ifo-Instituts, das mit dem Mindestlohn eine Million Arbeitsplätze verloren gehen, gibt es bislang keine Hinweise.“ So ist das.

8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn

Immer wieder wurde und wird in der Mindestlohndiskussion auf die existenzsichernde Funktion des gesetzlichen Mindestlohns verwiesen. Man soll von der Arbeit leben können – und beispielsweise nicht auf ergänzende, das Erwerbseinkommen aufstockende Hartz IV-Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen sein. Und eine Altersrente oberhalb der Grundsicherung für Ältere soll auch drin sein. Aber kann das mit den 8,50 Euro pro Stunde, die nunmehr seit Jahresanfang für viele, wenn auch nicht für alle alle als Lohnuntergrenze Gültigkeit haben, gelingen? Dieser Frage geht Johannes Steffen mit aktualisierten Berechnungen nach, die er auf dem Portal Sozialpolitik veröffentlicht hat: Ein Mindestlohn für Arbeit und Rente. Erforderliche Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns, so ist seine hilfreiche Ausarbeitung überschrieben. Und seine Ergebnisse verdeutlichen Licht und Schatten des Hoffnungsträgers gesetzlicher Mindestlohn. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Befunde von Steffen.

Vor allen Berechnungen über die notwendige Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns muss man einige Annahmen machen, was die relevanten Fallkonstellationen angeht. Steffen hat sich für die folgende Konfiguration entschieden: »Als Referenzgröße für Lohn und Lohnersatz (Rente) dient hier ein Single in Vollzeitbeschäftigung. Die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit betrug laut WSI-Tarifarchiv … zuletzt 37,7 Stunden und als (potenzielle) Lebensarbeitszeit wird die sogenannte Standarderwerbsbiografie mit 45 Beitragsjahren zugrunde gelegt. Zudem wird beim Existenzminimum auf ein Zwölftel des steuerlichen Grundfreibetrags (2015: 8.472 Euro …) zurückgegriffen – das sind 706 Euro im Monat. Bei einem Regelbedarf von aktuell 399 Euro (Regelbedarfsstufe 1) entfallen damit implizit 307 Euro auf Unterkunft und Heizung (KdU).«

Wenn man auf dieser Grundlage die Frage stellt, welcher Stundenlohn notwendig ist, damit ein Single in Vollzeitarbeit keinen Anspruch mehr hat auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II), dann ergibt sich der erste Wert für einen existenzsichernden Mindestlohn: »Nach gegenwärtigem Stand wäre dies ein Brutto-Stundenlohn in Höhe von 8,17 Euro oder monatlich 1.333 Euro«, so Johannes Steffen. Insofern könnte man an dieser Stelle also zu dem Ergebnis kommen, dass der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde zu einer Existenzsicherung führt, wenn man diese daran bemisst, dass man keine Ansprüche mehr auf SGB II-Leistungen hat. Allerdings gilt das nur unter den beschriebenen Rahmenbedingungen, also eine alleinstehende Person in Vollzeit. Anders würde es aussehen, wenn weitere Haushaltsmitglieder dazu kommen und vor allem natürlich, wenn Teilzeit gearbeitet oder – bei Aufstocken sehr häufig – nur eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt wird. Aber das kann man nicht dem Mindestlohn an sich anlasten. Für den hier definierten Referenzfall Alleinstehende und Vollzeit würde es funktionieren mit en 8,50 Euro.

Anders stellt sich die Situation dar, wenn es um eine existenzsichernde Rentenleistung geht. Hier kommt Steffen zu einem ernüchternden Befund: Er berechnet das notwendige Erwerbseinkommen, um nach 45 Beitragsjahren eine Nettorente in Höhe von 706 Euro erzielen zu können: »Nach den vorläufigen Werten für 2015 sind dies monatlich 1.793 Euro, so dass bei einer 37,7-Stunden-Woche ein Stundenlohn von 10,98 Euro für eine existenzsichernde Altersrente notwendig wäre.« Das nun ist ein deutlich höherer Wert als die 8,50 Euro. Aber selbst die 10,98 Euro reichen eigentlich nicht, denn man muss die Rentenniveausenkungen berücksichtigen, die im bestehenden Rentenrecht verankert sind und die derzeit nicht von der Regierung nicht in Frage gestellt werden. Und wenn man das berücksichtigt, was Steffen nachvollziehbar in seinen Berechnungen offenlegt, dann kommen zwei weitere Werte zum Vorschein:

»Zur Wahrung einer existenzsichernden Rente müsste (der derzeitige Mindestlohn) c. p. bis zum Jahr 2028 um gut 62 Prozent auf 17,84 Euro steigen. Und: Der nach heutigen Werten fürs Alter als existenzsichernd ermittelte Mindestlohn von 10,98 Euro erweist sich im Nachhinein – also aus Sicht des Jahres 2028 – als zu niedrig. Denn als Minimum ist dann bereits im Schnitt der 45 Beitragsjahre eine Entgeltposition von 67 (statt 61) Prozent des Durchschnitts nötig. Rückblickend wäre im Jahr 2015 demnach ein Mindestlohn von 11,94 Euro erforderlich gewesen. Der Grund für den Wertverlust des aus heutiger Sicht mit 10,98 Euro noch ausreichend hohen Mindestlohns liegt in dem künftig deutlich niedrigeren Rentenniveau.«

Der ausgewiesene Rentenexperte Johannes Steffen kommt zu einem sehr ernüchternden Fazit, wenn es um die Perspektive einer existenzsichernden Rente geht:

»Erforderlich sind vielmehr ein Stopp der weiteren Absenkung des Leistungsniveaus sowie die Rückkehr zu einer lebensstandardsichernd ausgerichteten Rente. Denn ohne Abkehr von dem unter Rot-Grün eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik bleiben alle Instrumente sowohl auf der Ebene der Primärverteilung, wie etwa ein Mindestlohn, als auch auf der Sekundärverteilungsebene (beispielsweise die nachträgliche Hochwertung niedriger Pflichtbeitragszeiten) im Kampf gegen Altersarmut weitgehend stumpf.«

Foto: © Stefan Sell 

Beim Mindestlohn-Bashing darf die Schattenwirtschaft nicht fehlen. Und wenn sie passend gemacht werden muss

Es sind harte Zeiten für die Mindestlohn-Befürworter. Überall wird man konfrontiert mit (angeblichen) Problemen, die durch die neue Lohnuntergrenze ans Tageslicht kommen. Nachdem im Vorfeld der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns von vielen Ökonomen massive Beschäftigungsverluste vorhergesagt wurden, von denen die Bundesagentur für Arbeit bislang in ihren Zahlen, in denen sich das aufgrund der Kündigungsfristen schon hätte niederschlagen müssen, (noch) nichts erkennen kann (bzw. ganz im Gegenteil, wie ein Blick auf den Frühindikator des IAB zeigt: Das IAB-Arbeitsmarktbarometer ist im Januar 2015 zum vierten Mal in Folge gestiegen), hat sich in den vergangenen Tagen die hochgekochte Debatte verschoben auf das Feld des (angeblichen) „Bürokratiemonsters“, mit dem viele Unternehmen zu kämpfen haben. Aber auch hier wurde und wird immer öfter auf gewisse Widersprüche zwischen Behauptungen und Realität hingewiesen.

In dieser Situation „passen“ dann wie gerufen solche Schlagzeilen: Mehr Schwarzarbeit wegen MindestlohnWo mehr Lohn ist, ist mehr Schatten oder noch deutlicher, damit gar nicht erst Zweifel aufkommen: Mindestlohn befeuert Schwarzarbeit in Deutschland. Und andere Medien schreiben diese Aussage ab und reichen sie weiter. Es wird bei vielen Menschen hängen bleiben. Aber was ist dran an dieser Botschaft?

Besonders forsch daher kommt der Beitrag von Henning Krumrey von der WirtschaftsWoche: »Durch den neuen Mindestlohn nehmen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung um 1,5 Milliarden Euro zu … Das Ergebnis ist eindeutig: Der jahrelange Rückgang der Schattenwirtschaft erlahmt. Der Mindestlohn macht’s möglich.« 1,5 Mrd. Euro? Nicht nur grundsätzliche Skeptiker werden sich irritiert zeigen ob der Konkretheit der hier präsentierten Folgen des Mindestlohns für ein höchst subtiles und gleichsam naturbedingt nur schwach ausgeleuchtetes Feld, also der Schattenwirtschaft, zu der die Schwarzarbeit gezählt wird, die sich ja eben – wie der Name schon sagt – dadurch auszeichnet, dass sie im Verborgenen stattfindet und – wenn überhaupt – ihre Ausmaße nur geschätzt werden können.
Alle Artikel, die jetzt die Botschaft von den Auswirkungen des Mindestlohnes auf die Schattenwirtschaft transportieren, leiten ihre Aussagen aus einer Quelle ab:

Schneider, F./ Boockmann, B. (2015): Die Größe der Schattenwirtschaft – Methodik und Berechnungen für das Jahr 2015, Linz und Tübingen, 03.01.2015

Dort findet man auch Erläuterungen über die Methodik der Bestimmung des Umfangs der Schattenwirtschaft. Die Tabelle mit der Zeitreihe des Umfangs des geschätzten monetären Werts der Schattenwirtschaft in Deutschland von 1995 bis 2015 sowie des daraus resultierenden Anteils am Bruttoinlandsprodukts ist Schneider/Boockmann (2015: 22) entnommen. Man muss an dieser Stelle besonders zwei Aspekte hervorheben: 1.) Es handelt sich um Schätzgrößen, die bis auf konkrete Euro-Beträge heruntergerechnet werden, die auf zahlreichen Annahmen basieren. Und 2.) Die Schätzungen des Friedrich Schneider sind in der volkswirtschaftlichen Diskussion nicht unumstritten, es gibt erhebliche Zweifel vor allem an der ausgewiesenen Höhe der Schattenwirtschaft (vg. zur Kritik an der Methodik der verwendeten Schätzverfahren beispielsweise U. Thießens (2011): Schattenwirtschaft: Vorsicht vor hohen Makroschätzungen, in: Wirtschaftsdienst, H. 3/2011, S. 194-201).

Wenn man sich die zeitliche Entwicklung der hier ausgewiesenen Werte anschaut, dann muss man in einem ersten Schritt feststellen, dass die Schattenwirtschaft seit Anfang des Jahrtausends mit einem kurzen Ausreißer im Krisenjahr 2009 rückläufig war bzw. ist. Die zentrale, nunmehr auch kolportierte These lautet, dass dieser Rückgang eigentlich weiter gehen würde, wäre da nicht der die Schattenwirtschaft erhöhenden Effekt des gesetzlichen Mindestlohns – der aber, so wird uns dann erklärt, wieder „kompensiert“ wird durch die Schattenwirtschaft senkenden Effekte: »Dämpfend wirkt dagegen die Senkung der Rentenbeiträge von 18,9 % auf 18,7 %« (S. 25). Ganz offensichtlich – ohne das hier vertiefen zu können – gehen die Autoren von einem recht mechanistischen Modell der Schwarzarbeit aus. Steigen die Sozialabgaben etwas an (oder werden sie etwas gesenkt), dann nimmt die Schwarzarbeit zu (oder ab). Auf so einer recht simplifizierenden Logik (im Sinne eines „Ausweicheffekts“) basieren letztendlich auch die aktuellen Werte, die eine Zunahme der Schwarzarbeit durch den Mindestlohn behaupten. Die angedeutete Schlichtheit des Arguments findet man dann in diesem Zitat aus dem bereits erwähnten Artikel von Henning Krumrey:

»Der Wirkungsmechanismus beim Mindestlohn ist einfach. Durch die steigenden Kosten müssen die Unternehmen entweder die Preise erhöhen oder Arbeitskräfte abbauen. Steigende Preise machen es für die Kunden attraktiver, die gewünschte Leistung ohne offizielle Rechnung zu bekommen. Und entlassene Kräfte werden versuchen, ihre Fähigkeiten auf anderem Wege zu Geld zu machen. Leicht anschaulich wird dies am Beispiel der Friseurinnen. Wenn ein Salon die Preise erhöht und die Zahl der Mitarbeiter ausdünnt, wachsen die Haare der Kunden längst nicht langsamer. Aber es ist nun für die Friseurin wie die Verbraucher attraktiver, die Fachkraft zu Haarschnitt oder Dauerwelle in die eigene Wohnung kommen zu lassen.«

Ach, wenn die Welt doch so einfach wäre wie sie von manche Ökonomen so gerne gepinselt wird. Gerade an seinem scheinbar plausiblen Beispiel mit den Friseuren kann man aktuell zeigen, wie Berichte aus der Branche selbst nahelegen, dass es diesen Effekt nach der dort vorgenommenen Einführung eines Mindestlohnes, der bereits vor dem gesetzlichen Mindestlohn implementiert wurde, nicht gegeben hat. Zurückgegangen ist lediglich das Volumen der Trinkgelder, mit denen viele Kunden in der Vergangenheit eine Teilkompensation der niedrigen Bezahlung versucht haben.

Eine Kritik der gegenwärtig kolportierten Meldungen über einen Anstieg der Schwarzarbeit durch den Mindestlohn kann man in dem Beitrag Mindestlohn und Schwarzarbeit – eine Prognose über einen gar nicht so negativen Zusammenhang wie es zunächst scheint nachlesen. Der Autor dieses Blog-Beitrags stellt nach einem Blick in die Veröffentlichung von Schneider und Boockmann fest: Der Mindestlohn wird rechnerisch nur in einem eher geringen Maße ein Ausweichen in die Schattenwirtschaft nach sich ziehen, was ja nun eine ganz andere Aussage ist als die, die derzeit durchs Dorf getrieben wird. Wie wird das begründet? Hier eine Erläuterung aus dem Blog-Beitrag:

»Die Autoren der Studie haben den sog. Ausweicheffekt explizit für Tätigkeitsfelder mit sowieso schon hohem Aufkommen von Schwarzarbeit berechnet. In diesen Bereichen arbeiten immerhin 12,8 Prozent aller Beschäftigten, von denen mit 39 Prozent ein relativ hoher Anteil im Jahr 2012 unter 8,50 Euro verdient hat. Für diesen Bereich haben die Forscher einen rechnerischen Anpassungsbedarf in Höhe von sieben Milliarden Euro ermittelt, was nichts anderes bedeutet als dass die Löhne in diesen Tätigkeitsfeldern infolge des Mindestlohns um sieben Mrd. Euro erhöht werden, damit dieser vollumfänglich eingehalten wird. Für alle anderen Tätigkeitsfelder liegt der Anpassungsbedarf bei weiteren rechnerisch knapp zehn Milliarden Euro.
Sieht man mal von der Frage ab, ob solche Modellrechnungen überhaupt prognostische Relevanz haben: Wenn man die in den Schätzungen berechnete Mindestlohnwirkung von 1,5 Mrd. Euro dem errechneten Anpassungsbedarf von knapp 17 Milliarden Euro gegenüber stellt, so wird klar, dass bei einer Mindestlohnwirkung von unter neun Prozent nur wenige der von Mindestlöhnen betroffenen Jobs in die Schattenwirtschaft wechseln dürften.«

Der namentlich nicht ausgewiesene Blogger dieses Beitrags hat dann darauf hingewiesen, dass die „Schattenwirtschaftsforscher“ selbst eine sehr relativierende Bewertung in ihrer Studie vornehmen. Diese Stelle findet man bei Schneider/Boockmann (2015) auf der Seite 29 ihrer Veröffentlichung:

»Nur ein kleiner Teil der von den Mindestlöhnen betroffenen Jobs wechselt also in die Schattenwirtschaft. Nach der Modellschätzung wird also nur ein relativ kleiner Teil der notwendigen Anpassungen durch ein Ausweichen in die Schattenwirtschaft umgangen.«

Das nun hört sich ganz anders an als die Schlagzeilen zu Mindestlohn und Schattenwirtschaft, die allerdings bei vielen hängen bleiben werden.