Die Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt: Ein steiniger Weg mit einer ganz großen Hürde neben vielen anderen. Und wieder auch mehr oder weniger abseitige Gedankenspiele

In den vergangenen Wochen musste man zuweilen den Eindruck bekommen, die deutsche Wirtschaft steht bereits Schlange, um die Flüchtlinge, die zu uns kommen, in Lohn und Brot zu bringen. „Die meisten Flüchtlinge sind jung, gut ausgebildet und hoch motiviert. Genau solche Leute suchen wir“. Mit diesen Worten wird beispielsweise Dieter Zetsche zitiert in dem Artikel Daimler-Boss lässt in Flüchtlingszentren nach Arbeitskräften suchen. Obgleich die Headline etwas vorgriffig ist, denn er lässt das nicht tun, sondern er könnte es sich vorstellen, das zu tun: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir in den Aufnahmezentren die Flüchtlinge über Möglichkeiten und Voraussetzungen informieren, in Deutschland oder bei Daimler Arbeit zu finden“. Und bereits vorher war der Premiumkarossenhersteller mit ganz konkreten Forderungen an die Politik aufgefallen: »Kürzlich hatte bereits Daimler-Vorstandsmitglied Christine Hohmann-Dennhardt in einem Zeitungsinterview angeregt, die Regeln zur Arbeitsaufnahme allgemein zu lockern und Asylbewerbern nach einem Monat zu gestatten, eine Arbeit aufzunehmen.« Der Hintergrund sind reale Restriktionen: Asylsuchende und Geduldete dürfen in den ersten drei Monaten überhaupt nicht arbeiten und auch danach haben sie nur schlechte Chancen auf einen Job, wenn es „bevorrechtigte Arbeitnehmer“ gibt, was die Arbeitsagenturen über eine „Vorrangprüfung“ feststellen müssen, die für viel Arbeit sorgt. Dies sind Deutsche, aber auch EU-Ausländer oder anerkannte Flüchtlinge. Erst nach 15 Monaten fallen diese Hürden weg. Vorstöße wie der aus der Konzernzentrale von Daimler könnten den Eindruck erwecken, dass man viele Flüchtlinge gleichsam direkt nach ihrer Einreise beschäftigen könnte. Dem ist aber offensichtlich nicht annähernd so.

»Andrea Nahles dämpft die Euphorie: Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen koste Zeit und Geld, sagt die Arbeitsmarktministerin. Dabei reicht ihr Zeithorizont nicht über Monate, sondern über Jahre«, berichtet das Handelsblatt in dem Artikel Integration dauert viel länger als gedacht. Die Ministerin hat vor zu viel Euphorie bei der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen gewarnt. Erste Auswertungen des Projekts Early Intervention der Bundesagentur für Arbeit (BA) hätten gezeigt, dass nicht einmal jeder zehnte Flüchtling direkt in Arbeit oder Ausbildung vermittelt werden konnte.

Zu diesem Projekt vgl. auch den IAB-Forschungsbericht von Daumann, V. et al.: Early Intervention – Modellprojekt zur frühzeitigen Arbeitsmarktintegration von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern Ergebnisse der qualitativen Begleitforschung, Nürnberg 2015.

Deshalb sei auch klar, dass der Flüchtlingsandrang zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahl führen werde, so die Ministerin, um der kommenden Entwicklung schon mal vorzubeugen. Zugleich macht sie konkrete Veränderungsankündigungen, denn sie hoffe auf eine Verständigung mit den Bundesländern, »die Vorrangprüfung für eine Weile auszusetzen, ohne dabei die einheimischen Arbeitslosen aus dem Blick zu verlieren.«

Steffen Fründt, Philipp Vetter und Virginia Kirst beschäftigen sich in ihrem Artikel Die große Hürde für Flüchtlinge bei der Jobsuche mit dem Nadelöhr für viele Flüchtlinge – den notwendigen Sprachkenntnissen und warum es kaum möglich ist, ihnen schnell Deutsch beizubringen.

»“Der beste Weg der Integration ist die berufliche. Doch die scheitert sehr häufig schon allein an den Sprachkenntnissen“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Hamburger Agentur für Arbeit. Er dämpft die Erwartungen derer, die in der Flüchtlingswelle eine schnelle Lösung für den Fachkräftemangel im Land sehen. Mit Ausnahme von ein paar IT-Firmen sei gutes Deutsch die Grundvoraussetzung, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt überhaupt vermittelbar zu sein.«

Auch hier wird auf die Erfolgsquote von Early Interventions, einem Programm, mit dem die Agentur für Arbeit in mehreren deutschen Städten Menschen mit Migrationshintergrund durch Coaching und Sprachschulung in Beruf und Arbeit zu vermitteln versucht, hingewiesen:

»Seit eineinhalb Jahren läuft das Programm in Hamburg, über 2000 Kandidaten meldeten sich bislang zu der freiwilligen Maßnahme an. Davon erfolgreich in eine Arbeitsstelle vermittelt wurde bis heute keiner.«

Das schlägt sich auch schon in der offiziellen Arbeitsmarktstatistik nieder:

»Während die Zahl der deutschen Arbeitssuchenden deutlich um knapp sechs Prozent auf 3,8 Millionen Arbeitssuchende schrumpfte, wuchs sie im gleichen Zeitraum unter den Arbeitssuchenden mit ausländischer Staatsangehörigkeit um neun Prozent. Ihre Anzahl beträgt nun rund eine Million Menschen. Damit sind überproportional viele Ausländer auf der Suche nach Arbeit. Ihr Anteil an der Bevölkerung liegt bei rund neun Prozent, sie stellen aber 21 Prozent der Arbeitssuchenden.«

Die vielen Flüchtlinge, die vor kurzem Deutschland erreicht haben, sind da noch gar nicht eingerechnet.

Die größte und vor allem zeitaufwendigste Barriere ist und bleibt die Sprache. » Schon ein Basiskurs Deutsch dauert 300 Stunden. Dabei werden allerdings nur Grundlagen vermittelt. Je nach Status und Herkunftsland kann es dann sehr lange dauern, bis ein Aufbaukurs mit 600 Stunden oder „Deutsch für das Berufsleben“ folgt, Wochen oder Monate, in denen das Erlernte oft gleich wieder vergessen wird. Untergebracht in isolierten Einrichtungen und umgeben von Landsleuten fehlt schlichtweg die Praxis.« Und an unsere eigenen Erfahrungen anknüpfend bringt das folgende Zitat das Grundproblem, mit dem wir konfrontiert sind, auf den Punkt:

»Wenn schon unbelastete und aufnahmefähige Jugendliche Jahre brauchen, um eine einfache Fremdsprache wie Englisch zu erlernen, wird schnell deutlich, dass die nun von Politikern propagierte schnelle Integration in den Arbeitsmarkt in vielen Fällen tatsächlich ein eher zäher und langwieriger Prozess werden wird.«

Hinzu kommt: Um 800.000 Flüchtlingen Deutsch beizubringen, fehlen schlichtweg die Lehrkräfte. Deutschlehrer sind schon jetzt auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr zu finden. Und die, die bislang in diesem Feld gearbeitet haben, sind mit nur noch als skandalös zu bezeichnenden Arbeitsbedingungen konfrontiert (vgl. dazu den Blog-Beitrag 1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf vom 2. September 2015). „Das Fehlen qualifizierter Deutschlehrer droht zum Flaschenhals der Integration zu werden“, befürchtet Hamburgs Arbeitsagenturchef Fock. Wohl wahr.

In diesem Kontext hat sich auch der Bundesverband der Träger beruflicher Bildung (BBB) zu Wort gemeldet unter der Überschrift Flüchtlinge haben absoluten Vorrang: »Die Bildungsträger unterstützen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Neue Lehrerstellen für Integrationskurse und bessere Planungssicherheit haben aber ihren Preis.« Der Vorstandsvorsitzende des BBB, Thiemo Fojkar, wird mit diesen Worten zitiert:

»„Es müssen tausende von Lehrerstellen neu besetzt werden, allein um die Integrationsklassen aufrecht zu erhalten und ausbauen zu können. Eine enorme Verantwortung, die da auf uns alle zukommt.“
Wenn die Bedingungen für Träger und deren Personal nicht verbessert werden – derzeit bekommt ein Lehrer in einem Integrationskurs zwischen 800 bis 1200 Euro Honorar – dann ist zu befürchten, dass Lehrkräfte, die dringend gebraucht werden, zunehmend in attraktivere Arbeitsfelder abwandern und zusätzliche Stellen nicht besetzt werden können.«

Das sind die Realitäten und eine Andeutung der Hindernisse, die man in der Lebenswirklichkeit vorfindet. Das hindert natürlich Theoretiker nicht daran, munter weiter mehr oder weniger gehaltvollen Gedankenspielereien in die Öffentlichkeit zu werfen. Hierzu ein Beispiel: »Derzeit dauert es zu lang, bis Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis bekommen. Die Gemeinden müssen deshalb hohe Kosten tragen. Doch schon eine einfache Maßnahme könnte zu einer Win-Win-Situation führen.« Da horcht man auf, vor allem, wenn der Artikel auch noch überschrieben wird mit Diese Idee löst ein großes Problem der Flüchtlinge. Und die kommt von Thomas Straubhaar ist Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg und Fellow der Transatlantic Academy in Washington.

»Dürften Flüchtlinge arbeiten, könnten sie selber einen Teil ihrer alltäglichen Aufenthaltskosten tragen. Bestenfalls leisten sie dann sogar über ihre Einkommenssteuern einen Beitrag in die öffentlichen Kassen. Erneut eine weitere Win-Win-Situation«, so Straubhaar. Der allerdings das Dilemma zu erkennen meint, dass dadurch Anreize gesetzt werden, dass noch mehr Flüchtlinge zu uns kommen werden. Was also ist seine Idee?

»Arbeit ja, aber volles Einkommen nein. Asylsuchende sollten rasch und unbürokratisch die Arbeitserlaubnis erhalten. Sie sollten auch genauso bezahlt werden müssen, wie es orts- und branchenüblich ist. Also keine Diskriminierung aufgrund ihres Flüchtlingsstatus. Das Gehalt sollte jedoch nicht vollständig an die Beschäftigten ausbezahlt werden. Ein nicht unwesentlicher Teil sollte an die jeweiligen Gemeinden fließen, als eigener Kostenbeitrag der Flüchtlinge an die allgemeinen kommunalen Aufwendungen für die Betreuung der Asylsuchenden.«

Der gute Mann plädiert also für eine Sondersteuer für arbeitende Flüchtlinge. Das »Recht auf Arbeit bei beschränktem Einkommen (sei) ein gangbarer Kompromiss. Er würde den Asylsuchenden die Langeweile des Wartens ersparen und eine sinnvolle Tätigkeit ermöglichen. Er bietet die Chance, dass Flüchtlinge einen Teil der durch das Asylverfahren entstehenden Kosten selber tragen könnten.« Unabhängig von der Fragwürdigkeit des ganzen Ansatzes insgesamt – der Vorschlag geht offensichtlich davon aus, dass die Aufnahmebereitschaft des Arbeitsmarktes sehr groß sein muss. Aber was, wenn nicht? Jedenfalls nicht zu halbwegs akzeptablen Bedingungen?

Im Vergleich dazu weitaus näher an der Lebensrealität ist da schon eher diese Debatte: Arbeitslose als Flüchtlingshelfer? Lob und Kritik an Kraft: Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hat vorgeschlagen, Langzeitarbeitslose künftig als Flüchtlingshelfer einzusetzen. Der Bund sollte Programme für öffentlich geförderte Beschäftigte massiv ausbauen, so Kraft. Nun ist eine kontroverse Debatte losgegangen:

»Der Hauptgeschäftsführer des NRW-Städte- und Gemeindebundes, Bernd Jürgen Schneider, sprach von einer „Schnapsidee, weil Langzeitarbeitslose als Flüchtlingshelfer mehr Probleme schaffen als lösen“. Rückendeckung erfuhr Kraft dagegen von der Landesagentur für Arbeit. „Wir finden die Idee gut“, sagte Sprecher Werner Marquis dieser Zeitung. „Es gibt sehr wohl Arbeitslose mit hoher Qualifikation, die aufgrund des Alters oder wegen gesundheitlicher Probleme als Kümmerer fungieren können.“ So könnten Langzeitarbeitslose ehrenamtliche Helfer in der Flüchtlingsbetreuung unterstützen. Die Arbeitsagentur nennt Beispiele: Behördengänge, Einkauf, Bedienen von Geräten, Formulare, Hilfe bei der Kinderbetreuung oder die Unterstützung von Lehrern im Deutschunterricht – „ganz alltägliche Dinge eben“, sagt Marquis. Die Arbeitsagentur schätzt, dass zu Beginn landesweit „Luft“ für bis zu 300 Stellen im Haushalt ist. Dazu müssten Wohlfahrtsverbände aber als Träger einspringen. „75 Prozent der Kosten des Arbeitsentgelts der Langzeitarbeitslosen können übernommen werden“, rechnete Marquis vor.«

Kritisch dazu Matthias Knuth vom IAQ der Universität Duisburg-Essen. Er bemängelt: »Es fehle an Strukturen und Personal, um diese Leute einzuarbeiten und zu schulen. „Wie soll zum Beispiel ein Langzeitarbeitsloser einem alleinreisenden jungen Flüchtling helfen, wenn er dabei nicht angeleitet werden kann?“ Es bringe wenig, „die Probleme der Flüchtlingsbetreuung und die der Langzeitarbeitslosigkeit in einen Topf zu werfen und zu meinen, damit habe man eine Lösung“, sagte Knuth. Das werde nicht funktionieren.«

1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf

Derzeit erleben wir im Kontext der vielen Flüchtlinge, die unser Land erreichen (und die noch zu uns kommen werden) eine Polarisierung zwischen denen, die mit offener Ablehnung und Hass auf die Zuwanderung reagieren bis hin zu verabscheuungswürdigen Attacken auf die Unterkünfte und die Menschen selbst, sowie auf der anderen Seite eine großartige Welle der Hilfsbereitschaft und des ehrenamtlichen Engagements vieler Bürger, die tatkräftig anpacken und damit die offensichtliche Überforderung vieler staatlicher Strukturen auffangen und teilweise kompensieren. Damit einher geht allerdings auch eine diskussionswürdige Polarisierung zwischen denen, die ihren Ressentiments vor allem in den sozialen Netzwerken freien Lauf lassen (und den nicht wenigen, die das für sich behalten und nicht offen zu Tage tragen, dennoch ähnliche Gedanken haben), und auf der anderen Seite eine sicher von Herzen kommende, teilweise aber auch schon sehr einseitige Überhöhung der Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen hier bei uns landen, bis hin zu einer fundamentalen Ablehnung jeder Position, die nicht für die uneingeschränkte Aufnahme und generell Öffnung gegenüber allen, die kommen wollen, plädiert.

Dabei ist das alles viel komplizierter – vor allem die konkret und handfest zu stemmenden Aufgaben, die bewältigt werden müssen, sind nicht annähernd zu unterschätzen und auch die sicher in den vor uns liegenden Jahren zunehmenden Verteilungskonflikte in unserer Gesellschaft müssen im Auge behalten werden, damit einem das alles nicht um die Ohren fliegt. Vor diesem Hintergrund muss natürlich alles getan werden, dass man die Menschen, die hier auf absehbare Zeit bei uns bleiben werden (manche auch für immer), so schnell und gut wie irgend möglich zu integrieren versucht. Und man kann es drehen und wenden wie man will – dafür sind die Sprachkenntnisse von fundamentaler Bedeutung, zugleich aber auch eine Vermittlung der gesellschaftlichen Strukturen, Werte und Realitäten, mit denen die Menschen, die oftmals aus völlig anderen Kulturen kommen, hier in unserem Land konfrontiert werden. Und dabei gilt im Idealfall, auch die Erwartungen zu formulieren und zu vermitteln, was hier bei uns zum gesellschaftlichen Grundkonsens gehört, den man respektieren sollte.

Für diese – jeder mit etwas Phantasie kann es sich sogleich vorstellen – mehr als ambitionierte Aufgabenstellung gibt es für einen Teil der Zuwanderer die so genannten „Integrationskurse“, die von ganz unterschiedlichen Trägern angeboten werden (vgl. zu den unterschiedlichen Integrationskursen die statistische Informationen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge).  Die werden beispielsweise von den Volkshochschulen oder wohlfahrtsverbandlichen Trägern angeboten. Und die müssen natürlich auch von konkreten Menschen gemacht werden, womit wir beim Kern des hier relevanten Problems angekommen sind. Denn jeder unbefangene Beobachter würde einsehen, dass (eigentlich) gerade diese pädagogischen Fachkräfte angesichts der enormen Herausforderungen gut bezahlt werden und ordentliche Arbeitsbedingungen bekommen müssten für ihre auch gesellschaftspolitisch so wichtige Arbeit. Nun wissen wir aber auch aus anderen Bereichen unseres sowieso nur historisch und nicht sachlogisch zu verstehenden vielgestaltigen Bildungswesens, dass die Vergütung und die realen Arbeitsbedingungen oftmals in keinerlei Korrelation stehen zu den faktischen Schweregeraden der pädagogischen Arbeit und/oder der Wirksamkeit der pädagogischen Intervention oder der gesellschaftspolitischen Bedeutung (die in der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung sicher um ein Vielfaches höher ist als in den Selbstfindungskursen für das obere Management). Besonders krass ist diese Diskrepanz aber bei den Lehrkräften, die an der Front in den Integrationskursen arbeiten (müssen).

Auf deren Situation hat dankenswerterweise David Krenz in seinem Artikel Nur raus aus dem Traumberuf aufmerksam gemacht. Dort finden wir auch einige Hintergrundinformationen zu den Integrationskursen:

»Die Integrationskurse bestehen aus 600 Stunden Sprachunterricht und 60 Stunden Orientierungskurs zu Geschichte, Kultur, Alltag, Recht und dem politischen System in Deutschland.
Jobcenter oder Ausländerbehörde können Zuwanderer zur Teilnahme verpflichten, wer deutscher Staatsbürger werden möchte, muss im Abschlusstest die Niveaustufe B1 erreichen. Für Sozialhilfe- und ALG-II-Empfänger sind die Kurse kostenfrei, die übrigen zahlen einen Eigenanteil (1,20 Euro pro Kursstunde).
Das System der Integrationskurse wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortet und finanziert. Es zahlt den Kursträgern 2,94 Euro pro Teilnehmer und Kursstunde (bzw. 1,74 Euro für Teilnehmer, die einen Eigenanteil leisten). Rund 1.800 private und öffentliche Träger sind für Integrationskurse zugelassen. Die Träger müssen ihren freiberuflichen Lehrkräften 20 Euro pro Stunde zahlen. Zahlen sie weniger, können sie nach einem Jahr die Zulassung durch das Bamf verlieren.«

Und wie sieht es mit den Lehrkräften aus? »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat bislang rund 24.000 Lehrer für den Unterricht in Integrationskursen zugelassen. Sie müssen dafür neben einem akademischen Abschluss ein Zusatzstudium „Deutsch als Fremdsprache“ oder eine gleichwertige pädagogische Qualifikation vorweisen. Wie viele Lehrkräfte derzeit in Integrationskursen arbeiten, ist nicht bekannt, allein beim größten Kursanbieter, den Volkshochschulen, sind es derzeit etwa 3.000. Nur ein geringer Teil der Lehrkräfte ist festangestellt.«

Das bedeutet, die meisten Lehrkräfte arbeiten als (Schein-)Selbständige auf Honorarbasis. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert für die Dozenten ein Mindesthonorar von 30 Euro pro Stunde als ein „erster Schritt“ neben der Forderung von Festanstellungen für bewährte und langjährig berufserfahrene Lehrkräfte – aktuell liegt es in den meisten Regionen aber um zehn Euro unter diesem Satz, also bei 20 Euro pro Stunde. Davon müssen die Honorarkräfte Renten- und Krankenversicherung komplett selbst finanzieren, Geld für die unbezahlten Urlaubs- und Krankentage zurücklegen. Kündigungsschutz gibt es nicht, nur befristete Verträge. Was das praktisch bedeutet für die Nettoeinnahmen verdeutlicht die Abbildung mit der Beispielsrechnung das Stundenhonorar eines Sprachlehrers im Integrationskurs betreffend. Die findet man auf der Webseite www.mindesthonorar.de der „Initiative Bildung prekär“, für die Georg Niedermüller verantwortlich zeichnet, der auch in dem Artikel von David Krenz zitiert wird:

»Georg Niedermüller wähnte sich im Traumberuf, als er 2009 Integrationslehrer wurde. Schnell wachte er auf. „Ich habe das ganze Jahr mit Hartz IV aufgestockt.“ Mit seiner „Initiative Bildung prekär“ prangert er die Beschäftigungsverhältnisse an: „Wir Dozenten arbeiten für nur einen Auftraggeber, in festen Räumen, nach vorgeschriebenem Lehrplan, zu nicht verhandelbaren Honoraren – klarer Fall von Scheinselbstständigkeit.“
Er sieht nur einen Ausweg aus dem Dumping-Dilemma: die Festanstellung. „Wir sind keine Unternehmertypen, wir sind Lehrer und wollen auch so behandelt werden.“ Höhere Honorare seien keine Lösung, „die würden nur unseren Selbstständigenstatus zementieren“.«

Ein anderes Beispiel aus dem Artikel, damit man einen Eindruck von den Größenordnungen bekommt, für die hier gearbeitet werden muss – wohlgemerkt, wir reden hier von studierten Lehrkräften mit Zusatzausbildung: »Im Kurs von Sabine Heurs sitzen ein politisch verfolgter Tierarzt aus Iran, ein nigerianischer Bischof, der mehrere Stammessprachen spricht, und eine chronisch übermüdete junge Rumänin, die nachts im Fitnessstudio putzt. Menschen, die von einem besseren Leben träumen. Das haben sie mit ihrer Dozentin gemeinsam. In Vollzeit verdient Heurs 1200 Euro netto im Monat – und zählt damit zu den Top-Verdienerinnen in ihrem Beruf. „Ein Witz“, sagt sie.«

Und was sagt das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu der Forderung nach einer fairen Bezahlung? Das Amt verweist auf die Vertragsfreiheit zwischen Trägern und Lehrkräften. „Eine Erhöhung des Kostenerstattungssatzes ist derzeit nicht geplant“, heißt es auf Nachfrage, berichtet Krenz.

Aber wann – wenn nicht jetzt? Denn der enorme Anstieg der Flüchtlingszahlen und die Öffnung auch für Asylbewerber wird zu einer weiteren massiven Zunahme der Nachfrage nach Integrationskursen führen und gleichzeitig »laufen den Sprachschulen die Lehrkräfte davon; viele wandern in besser honorierte und gesicherte Beschäftigungen ab, wie der deutsche Volkshochschulverband beobachtet hat.« Das sind doch theoretisch hervorragende Voraussetzungen, um eine deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.

An dieser Stelle wird der aufmerksame Leser an eine Zahl denken, die schon zitiert wurde: Rund 1.800 private und öffentliche Träger sind für Integrationskurse zugelassen. Das bedeutet, wir sind mit einer unglaublichen Kleinteiligkeit der Trägerlandschaft als Regelform konfrontiert und eine kleine Volkshochschule wird eine Festanstellung zu vermeiden versuchen wie der Teufel das Weihwasser angesichts der Arbeitgeberrisiken, die man damit übernehmen muss. Gleichsam spiegelbildlich zur kleinteiligen Situation auf der Trägerseite ist die Isolierung der vielen Lehrkräfte als auf sich selbst gestellte „Arbeitskraftunternehmer“, die sich alleine durchschlagen müssen.

David Krenz weist auf diese strukturelle Schwachstelle auf Seiten der Dozenten in seinem Artikel explizit hin:

»Eben jene Arbeitsbedingungen, gegen die sie aufbegehren sollten, hindern viele am Protest: Wer zu Demos fährt, verzichtet auf Honorar, bezahlt wird nur jede geleistete Kursstunde. Und wer für ein paar Euro extra noch einen Abendkurs übernimmt, dem fehlen Zeit und Kraft zum Aufbegehren.

Andere wagen sich nicht aus der Deckung, weil finanzielle Not sie zu Betrügern macht: Es gilt als offenes Geheimnis, dass eine Mehrheit trotz Versicherungspflicht keine oder zu geringe Beiträge in die Rentenkasse einzahlt. „Wir haben Angst aufzufliegen“, sagt eine Dozentin aus Westfalen, die anonym bleiben möchte.«

Letztendlich haben wir es hier mit pädagogischen Tagelöhnern zu tun.

Hinzu kommt ein Dilemma, das wir auch aus anderen Bereichen vor allem der Dienstleistungen kennen (man denke hier an die Gastronomie oder den Einzelhandel): Die Gewerkschaften haben kein Fuß fassen können in diesem Feld. Nach Angaben der GEW sind weniger als zehn Prozent der Betroffenen gewerkschaftlich organisiert.

Vor diesem Hintergrund wäre es an der öffentlichen Hand, hier regulierend einzugreifen und für Ordnung zu sorgen (was ja ansonsten gerne in Sonntagsreden beschworen wird). Aber die Politik geht völlig auf Tauchstation und hofft, dass der Kelch irgendwie an ihr vorübergehen wird.
Illustrieren kann man das – wie aber auch das angesprochene Problem einer mangelnden Kollektivierung der Interessen – am Beispiel der „Initiative Bildung prekär“, die neben Georg Niedermüller aus drei weiteren Mitstreitern besteht.  Bei der Politik stießen sie auf taube Ohren, klagt Niedermüller: „Die SPD hat auf unsere letzten zwölf Mails gar nicht mehr reagiert.“

Flüchtlingspolitik: Von der „guten“ Seite neben den ganzen Hiobsbotschaften. Und warum es nicht ausreicht, sich darauf zu verlassen

Wir sind beim Thema Flüchtlinge konfrontiert mit einer auf der einen Seite beängstigenden Situation, die dadurch charakterisiert ist, dass die Übergriffe auf Flüchtlinge bzw. auf (geplante) Unterkünfte  ansteigen und wir in eine gefährliche Zone der „Ansteckung“ und damit einer verselbständigenden Ausbreitung kommen. Auf der anderen Seite gibt es eine unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft und des Engagements für die Menschen vor Ort, dessen Breite und Bedeutung man gar nicht überschätzen kann. Und es wird eine wichtige Aufgabe werden, diese positive Seite zu bestärken, zu schützen und zu promovieren auch und gerade durch die Medien. Dazu gleich mehr.
Aber zuerst der bedrückende Blick auf das, was wir derzeit zur Kenntnis nehmen müssen von der Schattenseite, um daran anschließend auf die andere Seite zu wechseln.

In den vergangenen Monaten waren bundesweit wiederholt Flüchtlingsheime beschmiert, beschädigt oder angezündet worden – unter anderem in Meißen, Tröglitz, Hoyerswerda und Solingen. Zuletzt wurden mehrfach Schüsse auf eine Unterkunft im sächsischen Böhlen abgegeben. Fast täglich gehen solche Hiobsbotschaften ein, beispielsweise aus dem bayerischen Reichertshofen: »In den früheren Gasthof sollten bald Asylbewerber einziehen: Bei einem Brandanschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim in Bayern brannte ein Gebäude völlig aus.« Oder wie wäre es mit einer solchen Meldung: HSV verhindert Zeltstadt für Flüchtlinge: »Der Fußballbundesligist HSV hat der Stadt Hamburg untersagt, eine Flüchtlingsunterkunft auf einem Parkplatz zu errichten, den der Verein selbst von der Hansestadt gepachtet hat.« Oder besonders perfide: Jugendliche bewerfen Helfer des Roten Kreuzes mit Steinen, die damit betraut waren, Zelte für Flüchtlinge aufzubauen, wird aus dem ostdeutschen Halberstadt berichtet. Und auch aus Teilen der Politik kommen mehr als bedenkliche Signale in diesem Kontext: CSU will härtere Linie gegen Flüchtlinge. Seehofer fordert „rigorose Maßnahmen“, dazu auch die Kommentierung von Heribert Prantl: Bayern, das deutsche Ungarn.
Das alles ist übrigens keineswegs ein deutsches Phänomen. So wird aus Italien berichtet: »In mehreren Städten in Italien haben Anwohner und rechtsextreme Gruppen gewalttätig gegen die Unterbringung von Flüchtlingen demonstriert.« Und besonders hart treiben es die Ungarn, die nicht nur einen vier Meter hohen Grenzzaun nach Serbien errichten lassen, um die Flüchtlinge gar nicht erst auf ungarischen Boden kommen zu lassen, sondern die konsequent den Weg in Richtung Lagerbildung beschritten haben: Ungarn verbannt Flüchtlinge aus den Städten. »Die Bevölkerung soll nicht mehr durch Flüchtlinge „gestört“ werden, so sieht es die ungarische Regierung. Deshalb werden die Migranten in Zeltlagern untergebracht – in Randgebieten wie an der Grenze zu Serbien.« Man könnte ohne Ende fortfahren.

Aer es gibt auch andere, gegenläufige Entwicklungen. Wie bereits erwähnt eine große Welle der Hilfsbereitschaft und des zivilgesellschaftlichen Engagements vor Ort durch unzählige Flüchtlingsinitiativen und auch Widerstand beispielsweise gegen Proteste direkt vor den Flüchtlingsunterkünften. Und auch Teile der  Politik setzen sich ein für eine schnellere und bessere Integration der Flüchtlinge – bzw. der Flüchtlinge, die erwartbar hier bleiben können oder zumindest geduldet werden. Und überall trifft man auf die richtige und wichtige Erkenntnis: Auf die Sprache kommt es an. Man wird nur dann eine halbwegs realistische Chance auf Integration und hierbei vor allem auf Integration in Beschäftigung haben (die wiederum die Vorurteile abzubauen helfen kann, dass diese Menschen nur „auf Kosten“ der anderen leben), wenn die betroffenen Menschen über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen.

Hier ist – so wird der eine oder andere einwerfen an dieser Stelle – eben „der“ Staat zuständig, wobei es den in Deutschland so nicht gibt, sondern in föderalen Ausformungen. Wer also ist genau dafür zuständig. Bund- Länder-Gemeinden? Bundesagentur für Arbeit? Bundesamt für Migration und Flüchtlinge? Und schon ist man drin in den Zuständigkeitsfragen, hinter denen in aller Regel Finanzierungsfragen stehen. Wie schwer sich die etablierten Strukturen und Systeme damit tun, kann man an diesem Beispiel erkennen: Schulen kämpfen für Aufnahme von Willkommensklassen, wird aus Berlin berichtet. Mehrere Schulen hatten ihren Bezirken und der Bildungsverwaltung angeboten, Flüchtlingsklassen zu betreuen und erwarteten, dass ihr Engagement begeistert aufgenommen würde. Stattdessen gab es Absagen. Es gebe angeblich „keinen Bedarf“. Das Argument des „fehlenden Bedarfs“ gibt es auch in Berlin-Mitte – ausgerechnet in dem Bezirk, in dem gerade erst hunderte Schulplätze für Erstklässler fehlten.

Auf der anderen Seite gibt es gerade in Bayern, die sich auf einer anderen, der semantischen Ebene gerade eher mit Brandstifterei beschäftigen, zu berichten, dass dort zahlreiche eigene Klassen für Asylbewerber und andere Flüchtlinge eingerichtet worden sind.

Und aus Bayern kommt ein weiteres positives Beispiel. Ein Bestseller hilft Flüchtlingen Deutsch zu lernen, berichtet beispielsweise die Berliner Zeitung über das so genannte „Tannhauser Modell“: »Landauf, landab bekommen Flüchtlinge Deutsch-Unterricht von Ehrenamtlichen, einen Anspruch auf Kurse haben sie zunächst nicht. Drei Lehrer aus Bayern haben dafür ein spezielles Arbeitsbuch entwickelt – und können sich vor der Nachfrage kaum retten.«

Die Geschichte dahinter ist wie so oft in der Welt des Ehrenamtes:

»Zwei ehemalige Schulleiter aus Schwaben geben Flüchtlingen … Sprachunterricht. Sie fanden aber keine speziellen Unterrichtsmaterialien und haben kurzerhand ein eigenes Arbeitsheft entwickelt und drucken lassen – das nun reißenden Absatz findet. Schon nach etwas mehr als einem Monat wurde vom „Deutschkurs für Asylbewerber – Thannhauser Modell“ die dritte Auflage gedruckt. „Ganz Deutschland will dieses Heft“, sagt noch ganz überrascht Karl Landherr, der pensionierte Rektor der Grundschule in der 6000-Einwohner-Stadt Thannhausen.«

Es geht hier um ehrenamtliche Sprachkurse – und die sind verdammt wichtig, denn einen Anspruch auf Integrationskurse gebe es nur für anerkannte Flüchtlinge, was sich derzeit schrittweise erst zu verändern beginnt.

Und was ist zur Überbrückung in Tannhausen passiert?

»In Thannhausen wurden vor einem Jahr die beiden früheren Schulleiter gefragt, ob sie sich um die in einem ehemaligen Gasthaus untergebrachten Flüchtlinge aus Afrika kümmern können. Landherr und Hörtrich schauten sich die von Verlagen angebotenen Lehrbücher an und waren unzufrieden: zu hohes Niveau, zu umfangreich, zu teuer, zu wenig Platz für Notizen, keine ergänzenden Erklärungen in Englisch. Zusammen mit der Lehrerin Isabell Streicher entwickelten sie ihr eigenes „Workbook“.«

»Nun wird in der schwäbischen Kleinstadt die frühere Gaststube regelmäßig in ein Klassenzimmer umgewandelt, durchschnittlich etwa 10 … Flüchtlinge nehmen an dem dreimal die Woche angebotenen Deutschkurs teil … Auch aktuelle Themen werden in Thannhausen schnell aufgegriffen. Nachdem in Deutschland bei den heißen Temperaturen der vergangenen Wochen mehrere Flüchtlinge ertrunken sind, gibt es eine Stunde am See, um den Afrikanern die Gefahren beim Schwimmen klar zu machen.«

Weitere Informationen zu „Deutschkurs für Asylbewerber – Thannhauser Modell“ gibt es auf der Webseite www.deutschkurs-asylbewerber.de. Auch der Deutschlandfunk hat diesen Ansatz aufgegriffen und darüber berichtet: Thannhauser Modell – Erfolgreiches Konzept für Deutschunterricht von Flüchtlingen (16.07.2015).

Es gibt so viele andere Orte und Formate, wo und mit denen eine vergleichbar gute Arbeit geleistet wird. Dazu hier die Empfehlung für eine Sendung des Bayerischen Rundfunks:

Ein Ticket für die Zukunft: Junge Asylbewerber an der Berufsschule in Bad Tölz (07.07.2015)
Sie stammen aus Afghanistan, Syrien oder Nigeria – jugendliche Flüchtlinge besuchen die Asylbewerberklasse der Berufsschule Bad Tölz. Dort werden die jungen Männer und Frauen auf eine Berufsausbildung vorbereitet.

Die Reportage vermittelt ein differenziertes und durchaus mit zahlreichen Grautönen ausgestattetes Bild. Und wenn man die Geschichten rekapituliert, dann wird aus einer grundsätzlichen Perspektive klar, was hier in diesem Bereich Not tut: ausreichend Zeit und einen „Kümmerer“, der begleiten kann, Bindungen aufzubauen in der Lage ist, die notwendig sind, um eine halbwegs realistische Einschätzung der Menschen abgeben zu können.
Das aber zeigt zugleich auch bei aller ausgesprochenen Sympathie für Ansätze aus dem ehrenamtlichen Bereich: Wir alle wissen, dass die ehrenamtlichen Strukturen zwar häufig sehr innovativ sind, zugleich muss aber immer wieder zur Kenntnis genommen werden, dass es sich um sehr instabile Strukturen zu handeln scheint, eben aufgrund der Freiwilligkeit und natürlich aufgrund der enormen Personenabhängigkeit. Hier käme jetzt wieder „der“ Staat ins Spiel.

Zur Änderung des Asylrechts. Geduldete werden mehr geduldet, zugleich wird die andere Seite der „Willkommenskultur“ geschärft: Mehr einsperren, Internierung, Flucht als Verbrechen

Die Bundestagsabgeordneten haben im Mai 1993 ein Zeichen gesetzt. Sie haben das Grundgesetzt geändert – und zwar ganz vorne, wo eigentlich eherne Grundrechte verankert sind. Es waren bewegte Zeiten, denn hunderttausende Menschen waren vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland geflohen, gleichzeitig kamen viele Asylbewerber aus anderen Teilen der Welt und nicht zu vergessen die Zuwanderung seitens der so genannten „Spätaussiedler“ aus der zerfallenden Sowjetunion. Und die mussten alle irgendwie untergebracht und versorgt werden. Parallel durchlief das Land eine mehr als verstörende und ganze Biografien entwertende Wiedervereinigung mit einem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland, der gleichsam auseinandergerissen war. In dieser brodeligen Gemengelage kamen ausländerfeindlich motivierte Brandanschläge auf Asylbewerberheime und andere Unterkünfte, in denen Ausländer lebten, hinzu. Die Namen Mölln und Rostock-Lichtenhagen sowie Solingen seien hier nur stellvertretend für die damalige Zeit genannt. Die Politiker hatten Angst, dass ihnen der innenpolitische Laden um die Ohren fliegen könnte. Doch statt sich vor die Menschen zu stellen, die nach Deutschland gekommen sind, hat man ein anderes Zeichen gesetzt. Die damalige Regierung aus Union und FDP verabschiedete mit Unterstützung der SPD ein Gesetz, welches das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft hat. Eine große Koalition der Abschottung. Im Dezember 1992 hatten sich Union, FDP und die eigentlich oppositionelle SPD auf eine Neuregelung des Asylrechts verständigt (vgl. dazu auch die Hintergrundinformationen in diesem Beitrag: Einschränkung des Asylrechts 1993). Das Ziel: Die Verfahren sollten beschleunigt und ein „Asylmissbrauch“ verhindert werden. Dazu sollte der ursprünglich schrankenlose Satz in Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) gestrichen und durch einen Artikel 16a ersetzt werden. Als gleichsam perfide technokratische „Spitzenleistung“ erwies sich die Operationalisierung der angestrebten Abschottung, also wie man die Zugbrücke hat hochziehen wollen: So wurde die so genannte „Drittstaatenregelung“ eingeführt, die besagt: Wer über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland Deutschlands einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl und kann sofort abgewiesen werden. Die meisten Flüchtlinge scheitern auf diese Weise bereits an den Grenzen Deutschlands. Und um das wasserdicht zu bekommen: Auch Flüchtlinge aus „sicheren Herkunftsstaaten“, also Ländern, in denen keine Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht, haben keinen Anspruch auf Asyl. Dieser kurze Exkurs in die Zeit von vor über zwanzig Jahren ist notwendig, um das, was man nunmehr gemacht hat, besser einordnen zu können.

Das Bundesinnenministerium hat einen Gesetzesentwurf zur „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ vorgelegt, der im Bundestag zur Verabschiedung stand und von der Mehrheit heute auch angenommen wurde. »Hinter dem technischen Ausdruck verbirgt sich ein perfides Vorhaben: Die Bundesregierung will die Inhaftierung von Schutzsuchenden dramatisch ausweiten«, so Maximilian Popp in seinem Kommentar Flucht als Verbrechen. Die Perfidie des Ansatzes wird in den folgenden Zeilen erkennbar:

»Künftig sollen Flüchtlinge, die mithilfe von Schleppern nach Deutschland gelangen, die Grenzkontrollen umgehen, ihren Pass verloren haben oder falsche Angaben gegenüber Behörden machen, weggesperrt werden können. Also mehr oder weniger alle. Das Gesetz ist der größte Einschnitt in die Flüchtlingsrechte seit dem Asylkompromiss 1993.«

Popp zitiert den Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der behauptet, die Härte gegenüber Neuankömmlingen sei nötig, um „die Zustimmung zur Zuwanderung und der Aufnahme von Schutzbedürftigen in Deutschland zu sichern“. Auch wenn er diese Zuordnung für einem Minister „unwürdig“ hält, sie folgt natürlich im bestehenden System durchaus einer bestimmten Logik, die man nicht sofort von der Hand weisen kann.

Carolin Weidemann hat in ihrem Artikel Bundesregierung will mehr Flüchtlinge einsperren dargelegt, was die gesetzlichen Neuregelungen auf der dunklen Seite des Asylrechts beinhalten. Dazu muss man wissen, dass die Zahl der Abschiebehäftlinge gesunken ist, vor allem seit der Bundesgerichtshof im Sommer 2014 die Inhaftierung von europäischen Binnenflüchtlingen, sogenannte Dublin-Fälle, weitgehend verboten hat. Genau das aber will die Bundesregierung nun wieder ändern:

»Gemäß des Dublin-Abkommens dürfen sich Schutzsuchende lediglich in jenem europäischen Land um Asyl bewerben, das sie zuerst betreten. Wer trotzdem nach Deutschland weiterflieht, soll, nach dem Willen der Bundesregierung, unmittelbar nach der Einreise interniert werden können.

Als Haftgründe gelten laut Gesetzesvorhaben:
falsche oder unvollständige Angaben gegenüber den Behörden,
ein fehlender Pass,
Geldzahlungen an Schlepper
oder die Umgehung von Grenzkontrollen bei der Einreise.
Kurz: alle unvermeidlichen Begleiterscheinungen der Flucht.«

Auch der mittlerweile überarbeitete Entwurf zielt vor allem darauf: eine Ausweitung der Abschiebehaft und die Herstellung der dafür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen. Die Einwände gegen dieses Ansinnen reichen vom Bundesrat, der „gravierende negative Auswirkungen“ auf die Betroffenen herausstellt bis hin zu der Feststellung, dass in den vergangenen Jahren trotzt sinkender Zahlen an in Abschiebehaft befindlichen Menschen keineswegs weniger Abschiebungen vollzogen wurden, was ja als These sofort in den Raum gestellt wird, wenn man die Leute nicht wegsperrt.

Martin Kaul weist in seinem Artikel Schneller und mehr ausweisen auf eine weitere erhebliche Verschärfung hin:

»So sollen Ausländerbehörden künftig etwa mit einem neu geschaffenen „Ausreisegewahrsam“ Flüchtlinge zu deren einfacherer Abschiebung bis zu vier Tage lang festnehmen können. In der Vergangenheit durften Ausländer, die nicht von den Behörden „geduldet“ sind, im Rahmen der Abschiebehaft auch schon festgesetzt werden. Allerdings mussten dafür weitere Gründe vorliegen. Hierbei wurde zumeist das Argument der Fluchtgefahr herangezogen.
Mehr Wiedereinreiseverbote
Mit dem neu geschaffenen Ausreisegewahrsam entfallen solche weiteren Gründe. Hier reicht es im Wesentlichen, dass die Ingewahrsamnahme die Abschiebung vereinfachen kann.«

Und in einem kann man sich ja auf Juristen verlassen – sie können einem Schwarz als Weiß verkaufen, so auch hier: Die vereinfachte Ingewahrsamnahme sei sogar „gut“ für die Betroffenen und eigentlich nur in deren Interesse, denn so könnten Nachtabholungen von Familien vermieden werden, die in der Öffentlichkeit und bei den in diesem Feld engagierten Menschen auf besondere Proteste gestoßen sind. Weitere Verschärfungen sind in den Gesetzesänderungen enthalten, z.B.: Ermittlungen aufgrund aufenthaltsrechtlicher Straftaten braucht die Staatsanwaltschaft nicht mehr zuzustimmen. Wiedereinreiseverbote sollen ebenfalls leichter ausgesprochen werden können. Das richtet sich etwa gegen „Personen aus Staaten des Westbalkans“, wie es beim Innenministerium heißt. Gemeint sind vor allem Sinti und Roma.

Das reiht sich ein in weitere Bausteine einer partiell abschreckenden Ausgestaltung des Umgangs mit bestimmten Flüchtlingen. Stellvertretend hierfür die Ausführungen nicht irgendeinen unmaßgeblichen Menschen, sondern des Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt, der in einem Interview der FAZ ausführt, das monatliche Taschengeld in Höhe von 140 Euro sollte für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsländern gestrichen werden. Damit werde der Anreiz für Migranten vor allem aus dem westlichen Balkan gesenkt.

„Wir müssen Menschen, die vermutlich kein Asyl bekommen, sagen, dass sie vom ersten Tag in Deutschland an kein Taschengeld erhalten. Dann würde der Zustrom schnell abnehmen.“

Die 140 Euro, die es in Deutschland während des Asylverfahrens als Taschengeld gebe, seien in etwa der durchschnittliche Monatsverdienst in Südserbien.

Die gesetzlichen Änderungen, die heute verabschiedet wurden, folgen einer ganz bestimmten und nicht unbekannten Logik: Schlechte Flüchtlinge, gute Flüchtlingen. Insofern gilt auch hier: Wo Schatten ist, muss auch Licht sein und insofern werben die Politiker der großen Koalition für die Änderungen mit dem Hinweis, es gebe doch auch zahlreiche Erleichterungen für Flüchtlinge, die bei uns sind, wenn auch nur als Geduldete. Dazu Martin Kaul in seinem Artikel:

»Vereinfachungen im Bleiberecht zielen vor allem auf jüngere und besonders gut integrierte Ausländer ab, die bislang nur geduldet wurden. Sie sollen künftig ein Bleiberecht erhalten können, wenn sie etwa unter 27 Jahre alt sind und mindestens 4 Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Bislang mussten sie 6 Jahre Schulbesuch nachweisen.
Auch Familien, die für sich selbst aufkommen können, die ihre Treue zum Grundgesetz bekennen und mit einem Kind seit mindestens 6 Jahren in Deutschland wohnen, können ein Bleiberecht erhalten. Früher mussten es 8 Jahre sein.«

Es gibt also eine schrittweise Reduzierung der zu nehmenden Hürden, wenn man denn hier ist und geduldet wird. Die absehbare Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus wird jetzt formal etwas schneller abgebildet. Man kann es auch so zusammenfassen, wie der Artikel Der Bundestag differenziert das Asylrecht weiter aus:

»Erleichterungen soll es für die rund 125 000 Geduldeten in Deutschland geben – also für jene Menschen, deren Asylantrag keinen Erfolg hatte, die aus verschiedenen Gründen aber nicht abgeschoben werden. Sie bekommen nun die Chance auf ein sicheres Bleiberecht. Voraussetzung ist: Der Betroffene lebt schon seit Jahren im Land, spricht ausreichend Deutsch und kann seinen Lebensunterhalt selber sichern.«

Und wie zögerlich man hier insgesamt ist, verdeutlicht nicht nur das Beispiel mit der „Etwas-Absenkung“ der Schwellenwerte, sondern vor allem auch der Nicht-Umgang mit den jungen Flüchtlingen, die man hat gewinnen und vermitteln können in eine Berufsausbildung. Man sollte meinen, offensichtlich eine win-win-Stutation für beide Seiten, dem Individuum wie auch dem Staat. Und in ungezählten Sonntagsreden wird doch derzeit landauf landab beschworen, wie wichtig es sei, gerade die jungen Menschen so schnell wie möglich in Arbeit bzw. vor allem in Ausbildung zu bringen. Aber wie heißt es so schön im erfahrungsgesättigten Volksmund: Links blinken und rechts fahren.

Der Wahrheitsgehalt dieser Weisheit wird auch hier dokumentiert: Chance vertan: Berlin kneift bei Bleiberecht für Azubis mit Duldung, so die Überschrift eines Artikels, der den Finger notwendigerweise auf die offene Wunde legt:

»Die Idee klang gut: Junge Flüchtlinge sollten bis zum Ende ihrer Ausbildung nicht abgeschoben werden. Das Ergebnis ist ernüchternd: Diese Jugendliche sollen nur eine Duldung bekommen und keinen Aufenthaltstitel. Erste Kritik kommt aus Rheinland-Pflalz, die initiatoren dieser Idee.«

Die Aufenthaltserlaubnis für die gesamte Dauer der Lehrzeit kommt nicht, statt dessen hat der Innenausschuss des Bundestages lediglich für eine Duldungsregelungen votiert – »die bereits nach heute geltendem Recht realisierbar ist.« Dabei ist die Begründung für die eigentlich angestrebte Verbesserung offensichtlich:

»Wenn man junge Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren wolle, müsse man ihnen und ihren Ausbildungsbetrieben garantieren, dass die Jugendlichen mindestens bis zum Ende ihrer Ausbildung in Deutschland bleiben dürfen.
Mit einer Duldung ist das nur bedingt gegeben. Denn die Duldung beschinigt lediglich, dass die Abschiebung vorerst nicht vollzogen werden kann, der Inhaber Deutschland aber eigentlich verlassen muss, sobald die Hinderungsgründe nicht mehr vorliegen. Junge Menschen mit Duldung haben es daher schwer, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden.«

„Es wäre eine Frage des gesunden Menschenverstandes gewesen, Angebot und Nachfrage hier sinnvoll zusammenzuführen“, so das Argument der rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministerin Eveline Lemke. Letztendlich hat das was damit zu tun, dass bei den Entscheidungsträgern immer noch explizit oder implizit der Abschottungsgedanke verankert ist.

Flüchtlinge: Die Entfaltung der Kräfte des „Marktes“ selbst im Elend und die Ausdifferenzierung einer Flucht- und Überlebenshierarchie nach Zahlungsfähigkeit

Sogar im Elend entfalten sich die Kräfte des „Marktes“ und schaffen nicht nur eine ausdifferenzierte Elendshierarchie, sondern die Menschenhändler, die mit Flüchtlingen ihr Geld verdienen, betreiben selbst „professionelles“ Marketing – alles entlang der Ordnungsachse der Zahlungsfähigkeit.
Hierzu der lesenswerte Artikel Auch Menschenhändler betreiben Marketing von Ulrike Scheffer.
Die Menschenhändler »ziehen dabei alle medialen Register. So gibt es Facebook Seiten, auf denen Schleuser Flüchtlingen aus Afrika oder dem Nahen Osten ganz offen ihre Dienste anbieten. Manche posten auch Fotos, die belegen sollen, dass sie ihre „Kunden“ sicher nach Europa transportieren. Die Seiten werden offenbar rege genutzt. Einige erhalten bis zu 50.000 Likes pro Tag. Das berichtet die Internationale Organisation für Migration (IOM) in ihrem neuesten Bericht „Migrationstrends über das Mittelmeer“ (Migration Trends Across the Mediterranean: Connecting the Dots). Darin werden die aktuellen Fluchtrouten und das Geschäft der Schleuser analysiert.«

Libyen ist Hauptstützpunkt der Schleuser-Mafia – schlichtweg deshalb, weil sie hier ungehindert operieren können, denn die öffentliche Ordnung ist praktisch zusammengebrochen. »Rund 80 Prozent aller Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen, starten von der libyschen Küste – viele in untauglichen und überfüllten Booten.«

Verbindungsmänner in Marokko oder Tunesien locken dort gestrandete Flüchtlinge aus Afrika nach Libyen. Und so bitter das jetzt hier klingen mag – es „rechnet“ sich auch für die Flüchtlinge, denn: »… ein Platz auf einem Boot von Marokko nach Spanien (kostet) 1300 Euro, die Überfahrt von Libyen nach Italien durchschnittlich nur 500 Euro.«

Alles eine Frage des Preises – so auch hier inmitten der Elendsökonomie. Nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit, überhaupt Zugang zur Flucht zu erkaufen, sondern die konsequente Ökonomisierung dieses „Geschäftsfeldes“ geht sogar soweit, dass man sich „Rundumservicepakete“ kaufen kann. Wenn man denn über das Geld verfügt:

»Schleuser haben … auch Zugang zu Flüchtlingen, die von den libyschen Behörden oder einer der Bürgerkriegsmilizen aufgegriffen wurden. Wer genug Geld hat, kann sich mit ihrer Hilfe aus der Haft freikaufen und doch noch nach Europa weiterreisen.«

Und der folgende Absatz aus dem Artikel verdeutlicht in aller zynischen Reinheit, was mit Elendshierarchie gemeint ist:

»Vor allem Syrern, die meist finanziell besser gestellt sind als Flüchtlinge aus Afrika, bieten die Schleuser Rundumservicepakete für eine Flucht bis an den gewünschten Zielort an. Mittelsleute in Italien organisieren dann beispielsweise die Weiterreise nach Deutschland. Gegen Aufpreis gibt es außerdem Schwimmwesten und Plätze an Deck. Afrikaner reisen dagegen eher unter Deck, wo sie bei einer Havarie nur geringe Überlebenschancen haben.«

Um welche Umsatzdimensionen es hier geht, verdeutlicht die folgende Überschlagsrechnung: Nach den vorliegenden Berichten zahlen Mittelschicht-Syrer bis zu 2000 Euro für einen Platz in einem Boot nach Europa. Für eine Überfahrt mit 450 Passagieren kassierten die Schleuser bis zu eine Million Euro.

Scheffer zitiert aus dem Bericht der IOM, dass sich eine Klassen-Gesellschaft unter den Flüchtlingen herausgebildet hat:

»Es gibt unter Flüchtlingen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Während Syrer teilweise per Flugzeug zunächst nach Ägypten fliehen und von dort aus über Land die relativ kurze Weiterreise nach Libyen antreten, sind Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten oft monatelang unterwegs und reisen unter widrigsten Bedingungen. Weil sie nur selten das Geld für die gesamte Reise aufbringen können, müssen sie Zwischenstopps einlegen und versuchen, Geld für die nächste Etappe zu verdienen. Hauptdrehscheiben sind dabei Agadez in Niger und Gao in Mali. Hier sitzen auch Schleuser, die den Weitertransport organisieren.«

Dass Frauen besonders leiden müssen, wird auch explizit ausgeführt. Von sexuellen Dienstleistungen für die, die ihnen helfen sollen bei der Flucht bis hin zur organisierten Zwangsprostitution ist alles dabei.

Mittlerweile hat sich sogar eine eigene Menschenhändlerindustrie unterhalb der Flüchtlingsindustrie entwickelt, die für Nachschub in den europäischen Bordellen sorgt: In dem IOM-Bericht wird vermerkt, »dass immer mehr Frauen, vor allem aus Nigeria und neuerdings auch aus Kamerun, schon in ihren Heimatländern verschleppt werden, um sie in Europa in die Prostitution zu zwingen. Die IOM spricht von einem Anstieg von 300 Prozent des Frauenhandels zwischen Afrika und Europa im vergangenen Jahr. Den Frauen werde entweder eine Arbeit als Haushaltshilfe versprochen, oder die Entführer drohten ihnen, dass ihrer Familie ein Unglück widerfahre, wenn sie sich widersetzten.«

Übrigens – das Elend ist immer auch noch miteinander verwoben: Derzeit vergeht ja bei uns in der Festung Europa kein Tag, an dem nicht über Griechenland berichtet und gestritten wird. Und dem Land droht bei allen massiven sozialen Verwerfungen, die jetzt schon in Griechenland nach Jahren der Krise beobachtet werden muss, demnächst weitere „Einsparungen“, was bedeutet, dass es den normalen Menschen noch schlechter gehen wird. Gleichzeitig aber entwickelt sich Griechenland zu einer Art „Konkurrent“ zu Italien, was die Verschiebung der Zielrouten der Flüchtlinge angeht. Darauf verweist IOM in einer neuen Pressemitteilung:

»The Greek islands near Turkey’s coast now rival Italy as the top destination for irregular migrants seeking entry into the EU by sea this year, signaling the shift from the central Mediterranean route to the Eastern route. Some 61,000 migrants have arrived by sea to Greece this year, nearly doubling 2014’s full-year total of 34,442. So far, around 65,000 migrants have arrived via the sea route to Italy, according to IOM estimates, which has proven to be a much deadlier passage with at least 1,820 fatalities this year …«.

Die Webseite der International Organization for Migration (IOM): www.iom.int.  Ein Besuch dieser Seite lohnt, man findet eine Fülle an Berichten über die Situation von Flüchtlingen auf der ganzen Welt.