Fordern kann man ja. Einen zweistelligen gesetzlichen Mindestlohn. Wenn da nur nicht dieses Mindestlohngesetz wäre

Seit dem 1. Januar 2015 gibt es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn auf Basis des Mindestlohngesetzes (MiLoG). Zwei Jahre lang galt die Höhe von 8,50 Euro, mit einigen wenigen Ausnahmen. Zum 1. Januar 2017 ist der gesetzliche Mindestlohn auf 8,84 Euro erhöht worden. Dieser hat ebenfalls eine zweijährige Laufzeit. Die nächste Anpassung der Höhe steht erst zum 1. Januar 2019 an. Darüber hinaus gibt es allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne auf Basis des Tarifvertragsgesetzes (TVG), des Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) sowie des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gab es bekanntlich eine intensive Debatte über die angeblichen „Jobkiller“-Qualitäten der vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde – weil die „zu hoch“ seien für viele Unternehmen, vor allem in Ostdeutschland und deshalb bis zu eine Million Jobs verloren gehen werden. Ein Betrag übrigens, den man als eine politische Setzung verstehen muss, der hatte sich im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens verselbständigt und wurde dann als Startpunkt gesetzt. Und es gab auch damals schon eine Diskussionslinie, die darauf hingewiesen hat, dass die 8,50 Euro „zu niedrig“ seien und man beispielsweise für eine gesetzliche Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus nach 45 Jahren ununterbrochener beitragspflichtiger Erwerbsarbeit einen Stundenlohn von deutlich mehr als 11 Euro brauchen würde.

mehr

Sie nimmt zu, sie nimmt nicht zu. Die Ungleichheit. Und einige machen Vorschläge, was man tun könnte, wenn man wollte

Wenn es eine Begrifflichkeit gibt, die den Blutdruck vieler Diskussionsteilnehmer nach oben treibt, dann die Ungleichheit. Für die einen ist die zunehmende Ungleichheit ein zentrales gesellschaftliches Problem, gerade in Deutschland – die anderen verweisen darauf, dass es das gar nich geben würde. Für die letztere Position vgl. beispielsweise  Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit ihrem Beitrag Die Mittelschicht ist stabiler als ihr Ruf. Das lässt das andere Lager nicht ruhen und als Antwort veröffentlichte Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Replik mit dem fast schon trotzig daherkommenden Titel Und die Ungleichheit hat doch zugenommen. Man ahnt schon, dass der eben nich eindeutige Begriff der Ungleichheit mit vielen Fallstricken verbunden ist, wenn man ihre Entwicklung in Zahlen auszudrücken versucht. Dann muss man genau hinschauen. Reden wir über die Ungleichheit beim Haushaltseinkommen, das sich aus mehren Quellen speist? Oder schauen wir uns die Entwicklung der Löhne an, mit denen die Arbeitnehmer nach Hause kommen? Oder geht es gar nicht nur um die (laufenden) Einkommen, sondern um die Verteilung des vorhandenen Vermögens?

Verengt man beispielsweise den Blick auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt und speziell der dort erzielten Löhne, dann muss man sehr wohl eine auseinanderlaufende Entwicklung zur Kenntnis nehmen, obgleich man immer wieder die Behauptung zu hören bekommt, die Lohnungleichheit in Deutschland hätte in den vergangenen Jahren nicht zugenommen, ganz im Gegenteil, gerade die unteren Lohngruppen hätten doch profitiert beispielsweise von dem gesetzlichen Mindestlohn.

Marcel Fratzscher kommt zu einem anderen Befund: Seit 1995 ist die Lohnungleichheit stark angestiegen: »Die unteren 40 Prozent erzielen heute sogar geringere Reallöhne, also Löhne nach Bereinigung der Inflation, als noch 1995. Die oberen 40 Prozent dagegen erlebten einen zum Teil sehr starken Anstieg ihrer Reallöhne. Es ist richtig, dass seit 2010 auch die Löhne am unteren Ende steigen, zum Teil durch die Einführung des Mindestlohns und zum Teil durch die verbesserte Lage am Arbeitsmarkt. Aber im selben Zeitraum sind die Reallöhne für das obere Drittel stärker gestiegen als die in der Mitte und am unteren Rand der Einkommensverteilung.«

Am Ende seines Beitrags verweist Fratzscher auf einen wichtigen Punkt in der aktuellen Ungleichheitsdebatte (und die jetzt wieder auf der höheren Ebene der Einkommen der haushalte angesiedelt): Nicht wenige Ökonomen verweisen darauf, die Einkommensungleichheit sei seit 2005 in Deutschland nicht systematisch weiter gestiegen. Dazu seine Bewertung: »Selbst wenn man das Krisenjahr 2005 als Vergleichsjahr akzeptiert: Soll dies wirklich als Erfolg gefeiert werden? Ist es nicht eher ein Scheitern, wenn trotz Wirtschaftsbooms, Halbierung der Arbeitslosenquote und guten Wirtschaftswachstums die Einkommensungleichheit auf ihren historischen Höhepunkt von 2005 verharrt?«

Auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört zu denen, die eine zunehmende Ungleichheit als Problem diagnostizieren. Und die IMK-Ökonomen bleiben nicht bei der Diagnose – über die man sich streiten kann – stehen, sondern sie haben auch Vorschläge vorgelegt, wie man die Ungleichheit bekämpfen könne – worüber man sich noch mehr streiten kann, vor allem, wenn jemand konkrete politische Maßnahmen zur Diskussion stellt. Dazu diese Veröffentlichung:

Gustav A. Horn et al. (2017): Was tun gegen Ungleichheit? Wirtschaftspolitische Vorschläge für eine reduzierte Ungleichheit. IMK Report 129, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), September 2017

Ein zusammenfassender Bericht über die Vorschläge des IMK wurde unter die Überschrift Ein Drei-Säulen-Konzept gegen Ungleichheit und Armut gestellt. Eine Übersicht über die wichtigsten Vorschläge findet man auch in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Eine der drei Säulen steht unter der Überschrift „Die Starken mehr beteiligen“. Und die IMK-Ökonomen wagen sich auf ein Terrain, das in Deutschland besonders vermint ist – die Steuerpolitik. Ihre zentralen Forderungen: »Um Gutverdiener stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, seien Änderungen des Steuersystems unumgänglich, so die Experten. Sie schlagen unter anderem vor, Unternehmensgewinne durch das Schließen von Schlupflöchern effektiver zu besteuern, private Steuerflucht konsequent zu verfolgen, den Spitzensteuersatz anzuheben, die überzogene Privilegierung von Unternehmenserben bei der Erbschaftsteuer abzuschaffen und die Vermögensteuer zu reaktivieren. Um auszuschließen, dass höhere Steuern Unternehmen in Schwierigkeiten bringen, halten es die Wissenschaftler für sinnvoll, dass der Staat in solchen Fällen mit den geschuldeten Summen als stiller Teilhaber einsteigen kann. Die entsprechenden Anteile würde ein Staatsfonds verwalten.«

Und dann gibt es da noch einen weiteren höchst sensiblen steuerpolitischen Reformvorschlag, der zugleich relevant ist für eine der drängendsten sozialpolitischen Fragen – die Wohnungsfrage und der Anstieg der Mieten in vielen Gegenden unseres Landes, vor allem in den Städten:
»Ein wichtiger Schritt wäre darüber hinaus die Umwandlung der Grundsteuer in eine Bodenwertsteuer, so das IMK. Eine Reform der Grundsteuer, die mit 13 Milliarden Euro für einen erklecklichen Teil der kommunalen Einnahmen verantwortlich ist, sei wegen eines anhängigen Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ohnehin fällig. Der Übergang zu einer reinen Bodenwertsteuer hätte den Vorteil, dass die Belastung je Wohneinheit umso geringer ausfällt, je intensiver ein Grundstück genutzt wird. Das heißt: Die Bewohner von Ein- oder Zweifamilienhäusern, die oft auch die Eigentümer und vergleichsweise wohlhabend sind, werden stärker belastet. Die Bewohner von mehrgeschossigen Gebäuden – typischerweise Mieter – werden entlastet. Der größere Anreiz für die effiziente Nutzung von Grundbesitz dürfte zudem dazu beitragen, die Wohnungsknappheit in Ballungsgebieten zu lindern.«

Ebenfalls fehlt nicht der Hinweis auf die unmittelbar nach der Finanzkrise im Schockzustand der Politik versprochene, mittlerweile auf die lange Bank geschobene Finanztransaktionssteuer. Das IMK plädiert für einen neuen Anlauf zur Einführung dieser Besteuerung: »Da die betroffenen Akteure an den Finanzmärkten in der Regel gut betucht sind, könnte eine solche Steuer nach Einschätzung der IMK-Forscher einen nennenswerten Beitrag zum Abbau der Ungleichheit leisten. Einen konkreten Vorschlag der EU-Kommission, der Steuersätze von 0,1 Prozent auf Wertpapiertransaktionen und 0,01 Prozent auf den Handel mit Derivaten vorsieht, gibt es bereits. Das Sitzlandprinzip soll dabei verhindern, dass sich Handelspartner der Besteuerung durch Verlagerung der Geschäfte entziehen.«

Und die vielbeschworene „Mitte“? Dazu findet man Vorschläge in der Kategorie „Die Mitte stärken“. Das IMK fordert hier mehr Kindergeld statt Ehegattensplitting und die Entlastung finanzschwacher Kommunen als Beitrag zu einer besseren öffentlichen Infrastruktur. Und für gewerkschaftsnahe Ökonomen nicht überraschend ist die Forderung an die Politik, das Tarifsystem zu stärken. Denn von Tarifverträgen profitiere insbesondere der mittlere und untere Bereich der Lohnverteilung, so die Wirtschaftswissenschaftler. Nur ist die Tarifbindung bekanntlich seit Jahren auf dem Sinkflug (vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017).

Was aber soll und kann die Politik hier machen? »Als einfachen, aber wirkungsvollen Schritt empfehlen sie, Allgemeinverbindlicherklärungen zu erleichtern. Bislang ist vorgesehen, dass beide Tarifpartner einen gemeinsamen Antrag einreichen, dem ein paritätisch besetzter Tarifausschuss zustimmen muss. Zudem muss die Allgemeinverbindlichkeit „im öffentlichen Interesse geboten“ sein. Die Folge: Von 73.000 derzeitig gültigen Tarifverträgen sind nur 443 allgemeinverbindlich. Die Autoren der Studie sprechen sich dafür aus, dass Anträge vom Tarifausschuss nicht mehr mit Mehrheit bestätigt werden müssen, sondern nur noch mit Mehrheit abgelehnt werden können. So hätten die Arbeitgeber kein Vetorecht mehr. Zudem sollte der Begriff des „öffentlichen Interesses“ präzisiert werden.« Vgl. zu diesem wichtigen Punkt auch den Beitrag Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt vom 9. Mai 2017.

Die Diskussion über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ kennen viele. Die IMK-Ökonomen präsentieren einen Vorschlag, der eine semantische Nähe dazu hat, aber einem ganz anderen Ansatz folgt: Sie schlagen ein „bedingungsloses Kapitaleinkommen“ vor. Was muss man sich darunter vorstellen?

»Kapitaleinkünfte seien bei der Oberschicht konzentriert, weil die Angehörigen der unteren und mittleren Einkommensklassen kaum Ressourcen zum Investieren übrig haben. Abhilfe schaffen könnte ein Staatsfonds, der in Wertpapiere investiert und die Rendite jährlich zu gleichen Teilen an alle Bürger ausschüttet. Der Aufbau eines solchen Fonds könnte aus Haushaltsüberschüssen geleistet werden sowie aus stillen Beteiligungen an Unternehmen, die sich aus Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Erbschafts- und der Vermögenssteuer ergeben, schreiben die Ökonomen.«

Nach dem Oben und der Mitte fehlt nun noch das Unten – die Vorschläge hierzu finden sich in der Rubrik „Die Armut reduzieren“. Auch hier eine klare und sicher diskussionsauslösende Ansage: »Geeignete Mittel gegen Armut wären der Analyse zufolge die Eindämmung prekärer Beschäftigung und eine Stärkung der gesetzlichen Rente.

Zusätzlich sollte der Mindestlohn schneller steigen.« Der Mindestlohn solle »stärker steigen als der Medianlohn. Das heißt: Die Kommission, die für die Anpassung zuständig ist, sollte sich nicht wie bisher allein an der Reallohnentwicklung orientieren, sondern einen Aufschlag einkalkulieren.«

Auch eine angemessene Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes ist hier Thema: »Der derzeitige Anpassungsmodus enthalte einen „Automatismus zu mehr Ungleichheit“. Denn als Maßstab diene die Entwicklung der Konsumausgaben beim ärmsten Fünftel der Haushalte. Das führe dazu, dass Hartz-IV-Empfänger in Zeiten gesamtwirtschaftlich steigender Reallöhne in der Einkommensverteilung immer weiter zurückfallen. Das könnte verhindert werden, indem die Anpassung an die Entwicklung des Mindestlohns gekoppelt wird. Der Abstand zum niedrigsten Lohn bliebe so unverändert, gleichzeitig würden die Arbeitslosen am steigenden Wohlstand beteiligt.«

Fazit: Das IMK hat hier konkrete und zugleich die Strukturen verändernde Vorschläge gemacht, über die man sich hoffentlich streiten wird. Aber keiner soll sagen, es gibt keine Alternativen zu dem angeblich „alternativlosen“ bisherigen Gang der Dinge.

Jetzt aber ein großer Schluck aus der Pulle? Der stärkste Anstieg „der“ Löhne seit Jahren wird gemeldet

Wenn man so die Berichterstattung verfolgt, kann man schon verzweifeln – was gilt denn nun? Diese Frage stellt sich bei vielen Sachverhalten, regelmäßig natürlich bei Arbeitsmarktfragen. Zu denen die Löhne gehören – für die einen zu hoch, für die anderen zu niedrig. Früher konnte man sicher sein, dass in der Wirtschaftspresse in der großen Mehrzahl der Fälle vor „schädlichen“ Lohnerhöhungsforderungen der Gewerkschaften gewarnt wurde – sie würden die Arbeitgeber „überfordern“, die „Wettbewerbsfähigkeit“ ruinieren oder bei staatlichen Dienstleistungen die klamme öffentliche Hand „übermäßig belasten“. Aber irgendwie scheinen sich die Zeiten geändert zu haben. Wir werden mit einem ganz anderen Tenor konfrontiert.

Aus dem Bundeswirtschaftsministerium wird berichtet: „Deutschland hat ein Lohnproblem“. Vor kurzem konnte man sogar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Artikel lesen, der mit einer für dieses Medium bemerkenswerten Überschrift versehen war: Warum steigen unsere Löhne nicht mehr? Dieser Frage ging Rainer Hank nach, der nun wirklich nicht bekannt ist als bekennender Gewerkschafter. Übrigens ist der Beitrag von ihm sehr lesenswert. Darin findet man am Anfang diesen Passus:

»EZB-Präsident Mario Draghi (weniger vollmundig sein deutscher Kollege Jens Weidmann) findet, was seine marktflutende Geldpolitik nicht schaffe, nämlich ein Inflationsziel von „nahe bei zwei Prozent“ zu erreichen, müsse ein kräftiger Einkommenszuwachs bewirken. Unterstützung erhalten die Zentralbanker vom Internationalen Währungsfonds, der den Deutschen aggressive Löhne zum Abbau des weltweit verhassten Leistungsbilanzüberschusses und zur Stärkung der Binnennachfrage empfiehlt. Der öffentliche Dienst habe Vorreiter zu sein, fordert Peter Bofinger, Mitglied im Sachverständigenrat, und schilt die Gewerkschaft Verdi für ihr mageres Tarifergebnis von gerade einmal zwei Prozent. Mindestens drei Prozent wären ökonomisch drin gewesen, findet Ökonom Bofinger: „Ich verstehe Verdi-Chef Bsirske nicht.“«

Man reibt sich verwundert die Augen – Notenbankchefs als Klassenkämpfer? „Die Belegschaften in den Industriestaaten hätten höhere Löhne verdient“, zitiert auch Markus Zydra in seinem Artikel „Arbeiter sollten mehr Geld fordern“ die Stimmen aus der Geldpolitik.

Und offensichtlich scheint die Botschaft angekommen zu sein. Das Statistische Bundesamt meldet sich mit dieser Pressemitteilung zu Wort und berichtet: »Die Tarifverdienste – gemessen am Index der tariflichen Monatsverdienste einschließlich Sonderzahlungen – waren im zweiten Quartal 2017 durchschnittlich 3,8 % höher als im Vorjahresquartal. Das ist der höchste Anstieg seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2011.« Und die angesprochene Zeitreihe – dazu die Illustration in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags – geisterte sofort durch die Medien. Als Beleg dafür, dass jetzt auch die Löhne kräftig zulegen und die Arbeitnehmer profitieren.

Man muss anmerken, dass die +3,8 Prozent Tariflohnanstieg natürlich ein Durchschnittswert sind. Das Statistische Bundesamt weist in der Darstellung der Entwicklungen in den einzelnen Wirtschaftssektoren auf auf die Spannbreite hin, mit der wir es zu tun haben. So könnten Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst einen überdurchschnittlichen Anstieg in Höhe von 4.5 Prozent verbuchen, während es im Gastgewerbe magere 0,9 Prozent und im Einzelhandel auch nur 1,1 Prozent sind, die dort als Plus notiert werden.

Man muss solche Nachrichten immer sehr genau lesen. In der Meldung der Statistiker ist nicht von „den“ Löhnen die Rede, sondern von den „Tariflöhnen“. Da gibt es auch noch andere Löhne, eben Nicht-Tariflöhne. Aber selbst, wenn wir uns auf die Tariflohnentwicklung fokussieren, kann man nicht schlussfolgern, die Arbeitnehmer haben jetzt 3,8 Prozent mehr Euros in der Tasche, die sie ausgeben – oder was auch immer sie damit machen – können. Ob man wirklich mehr in der Tasche hat, was man auch umsetzen kann in der Volkswirtschaft, bemisst sich eher an den Reallöhnen, also dem preisbereinigten Löhnen, denn wenn parallel zu den Löhnen auch die Preise steigen, dann bleibt real weniger übrig. Die Entwicklung der Reallöhne im Vergleich zu den Tarifverdiensten ist in der zweiten Abbildung dargestellt. Und bei den Reallöhnen sieht es am aktuellen Rand der Zeitreihe nun (wieder) ganz anders aus, als der Anstieg um 3,8 Prozent bei den Tariflöhnen suggerieren – wenn es um alle Löhne geht.

Der Anstieg aller Löhne wird im Index der Nominallöhne abgebildet. Schaut man sich die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren von 2008 bis 2016 an, die in der dritten Abbildung dargestellt ist, dann erkennt man in den Jahren vor 2014 ganz erhebliche Abweichungen zwischen den Nominallohnanstiegen und dem, was real für die Arbeitnehmer raus gekommen ist. Offensichtlich hat die Inflation eine Menge von den nominalen Lohnsteigerungen aufgefressen. Das andere Muster in den Jahren 2014 bis 2016 lässt sich größtenteils auf die niedrige bis offiziell gar nicht vorhandene Preissteigerung gemessen an der allgemeinen Inflationsrate zurückführen. Aber das ist langsam ein Auslaufmodell. Unabhängig davon könnte man an dieser Stelle kritisch diskutieren, dass es statistisch „die“ Inflationsrate gibt, aber in der wirklichen Wirklichkeit werden die Menschen mit mehreren ganz unterschiedlichen Inflationsraten konfrontiert, je nach ihrer Einkommenslage und dem damit verbundenen Ausgabeverhalten. Es ist offensichtlich, dass ein besonders ausgeprägter Anstieg der Wohnungsmieten, der in der allgemeinen Preissteigerungsrate teilweise kleingeschreddert wird aufgrund der vielen anderen Güter und Dienstleistungen, die da gemessen und gewichtet werden, für die Bezieher kleiner und mittlerer Lohneinkommen, die zur Miete wohnen (müssen), eine andere Bedeutung haben muss als für Besserverdienende, die oftmals im eigenen Wohneigentum leben können.

Aber wieder zurück zur aktuellen Berichterstattung über die neuen Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt. So eine Überschrift ist korrekt: Tariflöhne steigen deutlich. Aber man sollte weiter lesen, denn es werden Zweifel gesät: »So stark haben die Tarifverdienste schon lange nicht mehr zugelegt: Von April bis Juni stiegen sie um 3,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – das dürfte allerdings ein Ausreißer sein.« Sollte man sich etwa nicht zu früh freuen?

»Da die Preise im Zeitraum von April bis Juni lediglich um 1,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr stiegen, erhöhten sich auch die realen Tarifverdienste, also die Kaufkraft der Beschäftigten. Das deutet darauf hin, dass sich der Trend der vergangenen Jahre zu steigenden Reallöhnen fortsetzt.«

Das hört sich doch gut an. Aber jetzt wird Wasser in den Wein gegossen, denn:

»Allerdings lassen die aktuellen Zahlen der Statistiker nur begrenzt Rückschlüsse auf die gesamte Lohnentwicklung in Deutschland zu. Denn die Statistik umfasst ausschließlich die Löhne der Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt.«

Das haben wir bereits angesprochen. Und man muss berücksichtigen: » Diese Tarifbindung ist jedoch in den vergangenen Jahrzehnten stetig zurückgegangen, zuletzt lag sie nur noch bei 50 Prozent.«

Über die Erosion des Tarifvertragssystems – die übrigens trotz der eindeutigen Datenlage von der Bundesregierung nicht gesehen werden will, folgt man ihrer Stellungnahme: Bestandsaufnahme des deutschen Tarifvertragssystems. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Bundestags-Drucksache 18/13398 vom 24.08.2017 – wurde in diesem Blog erst vor kurzem ausführlich berichtet – in dem Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017 sowie am 27. Juni 2017 unter der Überschrift „Orientierung“ am Tarif kann auch 25 Prozent weniger bedeuten. Immer mehr Arbeitnehmer arbeiten in einer tariflosen Welt und das macht sich für sie in einer teilweise markant niedrigeren Vergütung bemerkbar im Vergleich zu den Beschäftigten, die (noch) unter die Tarifbindung fallen.

Und wie immer bei Statistiken muss man im Hinterkopf behalten, dass es sich auch um besondere und zumeist einmalige statistische Effekte handeln kann. So muss man auch einen Teil der nun so herausgestellten + 3,8 Prozent bei den Tariflöhnen lesen: Für den Öffentlichen Dienst der Länder gilt bereits seit Januar eine vereinbarte Lohnerhöhung von zwei Prozent. Ausbezahlt wurde diese aber erst im zweiten Quartal, mitsamt hoher Nachzahlungen für die ersten drei Monate des Jahres.

Fazit: Man sollte sich nicht zu früh freuen.