Auch in Österreich: Ein ärmeres ist ein kürzeres Leben

Man kennt das Argument aus der rentenpolitischen Debatte in Deutschland: Da „wir“ doch alle immer älter werden, müsse man auch das Renteneintrittsalter anpassen, sprich erhöhen. Und das wäre ja auch keine Verschlechterung, denn „wir“ gewinnen ja auch zusätzliche Lebensjahre im Alter. Nun ist das bekanntlich so eine Sache mit dem „wir“ und vor allem den Durchschnitten, denn auch der – in der Vergangenheit tatsächlich beobachtbare – Anstieg der Lebenserwartung ist ein Durchschnittswert über alle. Und ohne Kenntnis der Streuung kann so ein Durchschnitt mehr vernebeln als zur Aufklärung beitragen.

Und das es hier erhebliche Unterschiede gibt, wurde in früheren Beiträgen gezeigt, so beispielsweise am 5. März 2016 unter der Überschrift Alles ist ungleich verteilt. Auch die statistische Erwartung eines immer länger werdenden Lebens und mit Blick auf die rentenpolitischen Ableitungen aus „der“ steigenden Lebenserwartung in dem Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert am 22. April 2016.

Einer der Befunde für die manifeste Ungleichheit zwischen oben und unten: Armutsgefährdete Männer haben eine um 10 Jahre kürzere Lebenserwartung als die aus der Oberschicht.

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Die (bislang) steigende Lebenserwartung als fragwürdiges Schreckgespenst für das Gesundheitswesen. Und die enorme Bedeutung der Ungleichheit

Hinsichtlich der demografischen Entwicklung sind drei Einflussfaktoren von besonderer Relevanz: die Geburtenrate, der Wanderungssaldo und die Entwicklung der Lebenserwartung. Und immer wieder wird gerade mit Blick auf die Gesundheits- und Pflegeausgabenentwicklung davon gesprochen, dass die steigende Lebenserwartung hier ein Problem an sich darstellen würde. Das klingt überzeugend, man kann das aber auch anders sehen, wie beispielsweise Bernd Hontschik in seinem Artikel Das Märchen von den teuren Alten: »Die Gesellschaft wird älter und dem Gesundheitswesen droht die Kostenexplosion. Klingt einleuchtend, ist aber falsch.«

»Der medizinische Fortschritt mache die Medizin immer teurer, deswegen könne er nicht mehr allen zugutekommen. Man werde rationieren, prio­risieren und zuteilen müssen. Und dann ist da außerdem auch noch die immer weiter steigende Lebenserwartung, die immer größer werdende Zahl alter Menschen. Älter ist kränker ist teurer, so lautet die Schreckensformel. Aber stimmt das eigentlich alles?« So seine Fragestellung.

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Alles ist ungleich verteilt. Auch die statistische Erwartung eines immer länger werdenden Lebens

Von oben betrachtet und rein statistisch ist das eine dieser großen Erfolgsgeschichten der zurückliegenden Jahrzehnte: die Lebenserwartung der Menschen steigt und steigt. Mittlerweile stoßen wir in Dimensionen vor, die man früher im Sinne einer Ausnahmebeschreibung als „biblisches Alter“ bezeichnet hätte. Und das wird immer mehr auch für viele Menschen erreichbar, nicht nur für einige wenige. Also ein Grund zur Freude, auch wenn man sich bewusst sein muss, dass es hier „nur“ um die statistische Frage der quantitativen Lebenserwartung geht, wie lange man also durchhält, nicht um die Frage der Qualität, also beispielsweise, in welchem Zustand und unter welchen Lebensbedingungen verbringt man diese gewonnenen Jahre. Das sind Fragen, die bei der Diskussion über die (möglichen) Auswirkungen dieser Veränderung eines der drei fundamentalen Bestimmungsfaktoren der demografischen Entwicklung sozialpolitisch hoch relevant sind, man denke hier an die Kompressions- versus Medikalisierungsthese mit Blick auf die letzten Jahre vor dem Tod. Und natürlich – noch grundlegender -, ob die gewonnenen Jahre irgendwie „sinnvoll“ verwendet werden können, kann der Zahlenfetischist nicht bewerten. Das spielt auch erst einmal keine Rolle.

Vor diesem Hintergrund liefert uns das Statistische Bundesamt unter der nun wirklich sehr trockenen, zahlengetriebenen Überschrift Lebenserwartung für Jungen 78 Jahre, für Mädchen 83 Jahre eine weitere Bestätigung der schönen Entwicklung. Allein in den zurückliegenden zehn Jahren haben wir je nach Bestimmungszeitpunkt zwischen mehr als einem bis mehr als zwei zusätzliche Jahre gewonnen. Freut euch darüber, könnte man bilanzieren und enden. Oder noch etwas genauer hinschauen.

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Die demografische Entwicklung ist eine große Herausforderung. Aber sie taugt nicht wirklich als Schreckgespenst zur Rechtfertigung der sozialpolitischen Planierraupe. Wenn man ein wenig rechnet

Vor wenigen Tagen wurde die neueste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht (Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2060). Ein mutiges Unterfangen, im Jahr 2015 bis zum Jahr 2060 den Blick zu weiten und für diesen Zeitpunkt Zahlen zu präsentieren – wobei die Statistiker immer wieder selbst darauf hinweisen, dass es sich um keine Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen auf der Grundlage ganz bestimmter Annahmen, vor allem zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos, also der Bilanzierung der Zu- und Abwanderung. Wenn die getroffenen Annahmen nicht eintreten oder sich die wirklichen Werte anders entwickeln, dann bekommen wir ganz andere Ergebnisse. Darauf und auf die kritischen Anfragen an eine Vorausschau, die einen so langen Zeitraum abzubilden versucht, gerade aus Sicht der Überprüfung dessen, was zurückliegende Vorausberechnungen in den Raum gestellt haben und was aus ihnen geworden ist, habe ich in dem Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015 hingewiesen. Dass wir tendenziell weniger und vor allem im Durchschnitt eine deutlich ältere Gesellschaft werden, diese beiden großen Schneisen lassen sich durchaus ableiten aus den drei grundlegenden Bestimmungsfaktoren der Bevölkerungsentwicklung und da braucht man auch nichts herumzudeuteln.

Sehr wohl aber muss man die von vielen Medien sofort und gerne aufgegriffenen Schreckensszenarien als Ableitungen aus den tatsächlich bzw. unterstellten Folgen der demografischen Entwicklung in die Mangel nehmen – denn hier wird erneut „die“ Demografie als eine quasi naturgesetzliche Begründung herangezogen für den Einsatz der sozialpolitischen Planierraupe, da man sich das bisherige einfach „nicht mehr leisten“ könne bzw. weil man die „Jungen“ ansonsten in die Knechtschaft der Alten treibt. Dass es genau zu solchen Reaktionen kommt, habe ich bereits am 28.04.2015 in dem Beitrag Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“ aufgegriffen und kritisiert. Aber für viele ist die Kraft des scheinbar Faktischen sehr stark – und da reichen dann oft nur einige wenige Zahlen, mit denen man verdeutlicht, dass die Entwicklung im Desaster enden müsse. Allerdings nur, wenn man dann aufhört zu rechnen. Sollte man aber nicht.

Und genau das leistet Johannes Steffen in seinem instruktiven Beitrag Schreckgespenst Demografie. Rente mit 74 und Kündigung des Generationenvertrages?, den man sich genauer anschauen sollte. Dies aus mehreren Gründen, zum einen, weil er nicht bei den gängigen Schreckenswerten die Relation zwischen Alten und (mehr oder weniger) Jungen betreffend stehenbleibt, sondern weiter rechnet. Zum anderen, weil er in seinen Berechnungen als einer der wenigen überhaupt neben der wie selbstverständlich auch für die Zukunft fortgeschriebenen Grenze für „die Alten“ bei 65 auch mit der neuen Altersgrenze von 67 rechnet, man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre keineswegs abgeschafft ist, sondern Schritt für Schritt scharf gestellt und voll für den Geburtsjahrgang 1964 – nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland – gelten wird.

Johannes Steffen hat sich nun die neuen Zahlen der 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes angeschaut und mal konsequent weitergerechnet, er ist also nicht bei dem ersten Rechenschritt stehen geblieben, den man in vielen Artikeln noch finden kann Mit Blick auf das Zieljahr 2060 führt er am Anfang aus:

»Der Bevölkerungsrückgang geht einher mit einer Verschiebung des Altersaufbaus: Die Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren sinkt von 14,7 Millionen auf nur noch 10,9 Millionen, die der Älteren ab 65 Jahren [ab 67 Jahren] aufwärts steigt von 16,8 [15,1] Millionen auf 22,3 [20,6] Millionen. Und schließlich sinkt die Anzahl der Personen im mittleren Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren von 49,3 [51,0] Millionen auf 34,3 [36,1] Millionen.«

An dieser Stelle kommt dann der sogenannte „Altenquotient“ zum Vorschein, auf den sich so viele immer gerne beziehen: Der „Altenquotient“ ist das zahlenmäßige Verhältnis der Älteren ab 65 [67] Jahren zu den Menschen im Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren.  Er steigt von von 34 [30] im Jahr 2013 auf 65 [57] im Jahr 2060. In anderen Worten:

»Während heute auf 100 Personen im mittleren Alter 34 [30] Personen im Alter von 65 [67] Jahren und mehr entfallen, verschlechtert sich diese Relation bis 2060 auf 100 zu 65 [57]. Das entspricht einer Steigerung des »Altenquotienten« um 90 [92] Prozent.«

Wie sollen das die arbeitenden Jahrgänge stemmen? Eine Verschlechterung des „Altenquotienten“ um 90 Prozent in den vor uns liegenden Jahren – da ist es doch mehr als offensichtlich, dass die mittlere Generation das nicht mehr schultern kann. Folglich konnte man sofort die Stimmen wieder hören, die eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalter fordern, beispielsweise auf die besagten 74 Jahre (vgl. dazu nur als ein Beispiel den Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser).

Aber man darf an dieser Stelle nicht stehen bleiben – und die Argumentation von Johannes Steffen geht so:
Von der mittleren Altersgruppe müssen nicht nur die Älteren, sondern auch die Jüngeren ökonomisch geschultert werden (nicht umsonst gab es ja mal den Begriff des „Drei-Generationen-Vertrags“). Also müssen wir einen Blick werfen auf den „Jugendquotienten„, der definiert ist als das Verhältnis der unter 20jährigen Menschen zu denen in der Altersgruppe 20 bis 65 [67]. Und hier muss man feststellen, sollte die Bevölkerungsvorausberechnung stimmen, dass sich auch der »Jugendquotient« leicht von 30 [29] Prozent auf 32 [30] Prozent erhöht.

An dieser Stelle bildet Steffen den ersten „Gesamtquotient (A)„, also die Summe der Altersgruppe unter 20 Jahren und der ab 65 [67] Jahren im Verhältnis zur mittleren Altersgruppe.
Dieser Gesamtquotient (A) steigt von heute 64 [59] auf 97 [87] im Jahr 2060 an. Und die guten Kopfrechner werden sofort erkennen: Der ursprüngliche Zuwachs von 90 Prozent beim Altenquotienten hat sich damit auf 51 [49] Prozent fast halbiert.

Aber Steffen hört an dieser Stelle nicht auf und argumentiert weiter: Die mittlere Altersgruppe muss nicht nur die Jüngeren und die Älteren »tragen«, sondern selbstverständlich auch sich selbst. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs bildet er den „Gesamtquotient (B)„, der das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Bevölkerung mittleren Alters abbildet. Und wie sehen hier die Werte aus? Der „Gesamtquotient (B)“ steigt von 164 [159] auf 197 [187] oder um nur noch 20 [18] Prozent. »Der rechnerische Anstieg schrumpft noch einmal um mehr als die Hälfte«, so Steffen.

Aber wir sind noch nicht am Ende. Völlig zu Recht notiert Steffen:
»Schließlich sind nicht alle Personen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig. Ökonomisch entscheidender ist daher der „Gesamtquotient (C)“ – das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Anzahl der Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe.«
Um den zu bestimmen, muss man eine Annahme machen, wie es mit der Erwerbstätigenquote im Jahr 2060 aussehen wird bzw. könnte. Er geht davon aus, dass die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe – also der Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung – bis 2060 um fünf Prozentpunkte ansteigen wird und begründet diese Annahme mit dem Hinweis, dass alleine von 2005 auf 2013 die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe laut Mikrozensus um fast sieben Prozentpunkte angestiegen ist.

Wenn man so vorgeht, dann reduziert sich der Zuwachs weiter auf 13 [9] Prozent bis zum Jahr 2060.

Fazit dieses Rechenwegs: Der vermeintlich untragbare »Belastungsanstieg« von anfänglich 90 [92] Prozent (»Altenquotient«) reduziert sich am Ende auf gerade noch 13 [9] Prozent (Gesamtquotient C).

Anders formuliert und vielleicht für viele fassbarer, was das bedeutet:

»Entfielen 2013 auf jeden Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe (einschließlich seiner selbst) 2,0 Köpfe der Gesamtbevölkerung, so wären es im Jahr 2060 2,3 [2,2] Köpfe.«

Und auch der letzte Gedankenschritt des Johannes Steffen soll hier zitiert werden. Er geht davon aus, dass ja in den vielen Jahren bis 2060 die Produktivität der Menschen nicht stehen oder gleichsam eingefroren bleibt. In den Jahren 1992 bis 2014 lag der durchschnittliche Zuwachs der Stundenproduktivität bei 1,4 Prozent, so dass er diesen fortschreibt:

Bei einem weiteren Anstieg der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde von im Durchschnitt 1,4 Prozent jährlich steigt die Leistung pro Erwerbstätigen bis 2060 um fast 100 Prozent. Davon können alle Generationen gleichermaßen profitieren – sofern die Verteilung »stimmt«.

Damit wären wir natürlich bei dem entscheidenden Punkt – wenn die Verteilung stimmen würde. Aber unabhängig von den vielen sich an dieser Stelle ergebenden Fragen kann man eines ganz gewiss sagen: Die Demografie kann nicht dazu instrumentalisiert werden, eine Zwangsläufigkeit von Renten- und anderen Kürzungen als quasi unvermeidbare Konsequenz aus der Bevölkerungsentwicklung zu behaupten.

Leider erwartbare Folgeschäden des schnellen Konsums der neuen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes: „Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen“

Sie haben es wieder getan, die Bundesstatistiker. Eine neue, diesmal die 13. Bevölkerungsvorausberechnung, hat das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Die letzte, also die 12., stammt aus dem Jahr 2009, normalerweise wäre nach dem Drei-Jahres-Rhythmus 2012 die nächste fällig gewesen, aber aufgrund des „Zensus 2011“ wurde das auf 2013 verschoben und die Ergebnisse liegen jetzt der Öffentlichkeit vor. Natürlich wurde sofort darüber berichtet, um so schneller, desto besser. »Die Zahl der Deutschen wird nach Einschätzung der Statistiker langsamer abnehmen als bisher berechnet. 2060 werde die Bevölkerungszahl etwa 67,6 bis 73,1 Millionen betragen, sagte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler, am Dienstag. 2009 war seine Behörde bei der Vorausberechnung noch von 65 bis 70 Millionen Menschen ausgegangen«, kann man beispielsweise dem Artikel Deutschland schrumpft dank Zuwanderern langsamer entnehmen. Bereits an dieser Stelle wird der interessierte Zeitgenosse im derzeit laufenden Jahr 2015 nachdenklich verweilen und sich fragen, wie man glaubt, die Bevölkerung im Jahr 2060 – also in schlappen 45 Jahren – so genau prognostizieren zu können, denn bis dahin kann und wird sicher eine Menge passieren, vom dem man sich noch in vielerlei Hinsicht gar nicht vorstellen kann, dass man es sich vorstellen muss.

Womit wir aber schon beim ersten hervorzuhebenden Fehler sind – denn um eine „Prognose“ handelt es sich gerade nicht, sondern – das betonen die Bundesstatistiker, ordentlich, wie sie nun mal sind, auch besonders – wir haben es mit „Bevölkerungsvorausberechnungen“ (der Plural ist hier wichtig) zu tun, die auf einem ganzen Set an notwendigerweise zu treffenden Annahmen basieren, so dass die vorausberechneten Werte dann eintreten, wenn … Eben, wenn die zugrundeliegenden Annahmen zur Geburtenrate, der Entwicklung der Lebenserwartung sowie des Wanderungssaldos eintreten würden. Was sie natürlich nicht müssen. Dann müsste man sich korrigieren, wie beispielsweise jetzt gegenüber der Vorhersage aus dem Jahr 2009, die hinsichtlich der Bevölkerungszahl nach oben angehoben werden muss. Weil man die Zuwanderung unterschätzt hat. Die damit verbundenen Probleme sowie eine daraus ableitbare grundsätzlich kritische – was nicht bedeutet alles ablehnende – Haltung ergibt sich allein aus der Betrachtung der Erfahrungswerte aus der Vergangenheit (vgl. dazu den Beitrag Zwischen Unausweichlichkeit und Glasperlenspiel: Vorhersagen der demografischen Entwicklung im Spannungsfeld von Notwendigkeit und scheinbarer Gewissheit vom 26.04.2015). In diesem Beitrag finden sich bereits zahlreiche kritische Anfragen an die Vorhersagen – ohne diese, das sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben – grundsätzlich für nutzlos zu erklären, denn sie können schon wichtige Erkenntnisschneisen schlagen, man muss nur aufpassen, dass man nicht von der Modellierung mehr oder weniger plausibler demografischer Entwicklungspfade auf die abschüssige Bahn einer „Demografisierung“ sozialer Probleme gerät.

Aber genau das kann und muss man leider derzeit wieder erleben. Ein Beispiel dafür wäre der Artikel Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen von Tobias Kaiser. Er rezipiert einige der zentralen Aussagen aus der neuen Bevölkerungsvorausberechnung und kommt am Ende seines Artikels zu dem Ergebnis:

»Um die Erwerbstätigkeit deshalb auf dem heutigen Niveau zu halten, genügt mehr Zuwanderung nicht. Die Statistiker gehen davon aus, dass das Renteneintrittsalter bis 2060 auf 74 Jahre steigen müsste, damit die Erwerbstätigkeit konstant bleibt. Und auch damit wäre das Problem nur halb gelöst: Wegen der steigenden Zahl älterer Menschen wäre das Verhältnis von Erwerbstätigen und Senioren immer noch schlechter als heute.«

Kaiser kommt zu dieser Schlussfolgerung u.a. auf der Grundlage dieser Ausführungen:

»Bis 2060 soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren stark schrumpfen: Je nach der Stärke der Zuwanderung würde die Zahl um 23 Prozent bis 30 Prozent sinken. Für die Sozialsysteme ist dieser Wandel eine erhebliche Belastung: Kommen heute auf 100 Menschen im Erwerbsalter noch 34 Seniorinnen und Senioren, würden es 2060 bereits 60 und damit beinahe doppelt so viele sein.«

Dem aufmerksamen Leser wird sich an dieser Stelle die Frage stellen, warum wird hier – bezogen auf die Menschen im „erwerbsfähigen Alter“ – eigentlich immer der Schnitt bei 64 Jahren gesetzt? Haben wir nicht die gesetzlich fixierte Heraufsetzung des Renteneintrittsalters sukzessive auf 67 Jahre, die dann für den Geburtsjahrgang 1964, gerade nicht zufälligerweise der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland, vollständig Anwendung finden wird, es sei denn, diese Regelung würde wieder abgeschafft, was kaum zu erwarten ist? Bereits das ist eine grobe Verzerrung der Daten.

Und was „Demografisierung“ sozialer Probleme konkret bedeutet, kann man gerade an diesem Punkt erläutern: Die heutige Verhältnisse innerhalb des gegebenen Systems der Alterssicherung werden einfach fortgeschrieben in eine weit weg liegende Zukunft. Aber das ist keineswegs zwingend, denn natürlich gibt es die politische Option, unser Alterssicherungssystem umzubauen bzw. vom Kopf auf die Füße zu stellen, in dem wir es ablösen von seiner Begrenzung auf den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und die dann auch noch gedeckelt durch eine Beitragsbemessungsgrenze. Würde man also eine andere Finanzierungsgrundlage einziehen und würde es im Idealfall gelingen, die steigende Wertschöpfung besser an der Finanzierung zu beteiligen, dann bräuchte man sich weitaus weniger Sorgen machen über die Finanzierung des Alterssicherungssystems.

Vor diesem Hintergrund verblassen dann die vielen weiteren, ärgerlichen Fehlinterpretationen dessen, was die Bundesstatistiker heute veröffentlicht haben. Nicht nur Kaiser behauptet in seinem Artikel, dass es um eine „Prognose … für die Entwicklung der Bevölkerung bis 2060“ geht, die jetzt vorgelegt worden ist. Auch die Online-Ausgabe der BILD-Zeitung hat das in den Raum gestellt in ihrem Artikel mit der wie immer reißerischen Überschrift Der Schrumpf-Schock. Deutschland vergreist. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass es sich eben nicht um Prognosen handelt, sondern um Vorausberechnungen unter der Bedingung, dass ganz bestimmte Annahmen eintreten, die wichtigsten kann man der Tabelle des Statistischen Bundesamtes entnehmen.

Und beide, Kaiser wie auch die BILD-Zeitung, sprechen von der „letzten Volkszählung im Jahr 2011“, die neben anderen Dingen zutage gefördert hat, dass »Deutschland rund 1,5 Millionen Einwohner weniger hatte als zuvor angenommen«, so Kaiser in seinem Artikel. Aber auch diese Differenz sei mittlerweile ausgeglichen durch die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre. Auch die BILD-Zeitung erwähnt, dass »2011 die Bevölkerung neu gezählt worden (sei) (Zensus 2011).«

Damit wird – wie an vielen anderen Stellen auch – behauptet, dass es 2011 eine „echte“ Volkszählung gegeben hätte. Genau das ist aber nicht der Fall, denn es handelte sich um einen typisch deutschen Kompromiss. Da man sich zum einen nicht getraut hat, eine wirkliche Volkszählung durchzuführen und zugleich die damit verbundenen Kosten gescheut hat, griff man zu Stichprobenerhebungen und Registerabgleiche vorhandener Daten. Das war und ist aber eben keine Vollerhebung, die man in regelmäßigen Abständen durchaus braucht, um den Nullpunkt der Weiter- und Hochrechnungen bestimmen zu können. Was war anders 2011 als beispielsweise 1984?
Dazu Andreas Berg in seinem Aufsatz Das Hochrechnungsverfahren zur Ermittlung der Einwohner- zahl im Zensus 2011 aus dem Jahr 2014:

»Mit dem zum Erhebungsstichtag 9. Mai 2011 durchgeführten Zensus 2011 hat die amtliche Statistik in Deutschland die Abkehr von einer Vollerhebung aller Personen und Haushalte vollzogen und methodisches Neuland betreten. Beim sogenannten registergestützten Zensus bilden die Melderegister die wesentliche Grundlage zur Ermittlung der Bevölkerungsergebnisse.
Eine zusätzliche Stichprobenerhebung – die sogenannte Haushaltsstichprobe – diente in Gemeinden ab 10.000 Einwohnern der Sicherung der Datenqualität der Einwohnerzahl und der nach demografischen Merkmalen untergliederten Bevölkerungszahlen. Die Stichprobe wurde genutzt, um Unter- und Übererfassungen der Melderegister zu quantifizieren und die Melderegister statistisch um diese Über- und Untererfassungen zu korrigieren.«

Fazit: Es sind wichtige Daten, die das Statistische Bundesamt heute veröffentlicht hat. Selbst das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat seinen Artikel über die neuen Zahlen mit der Überschrift versehen: Nichts Genaues weiß man nicht. Auf der Basis sollte man nun wirklich nicht derart weltfremde Schlussfolgerungen ziehen wie die Unabwendbarkeit einer Rente mit 74.