Die einen bekommen mehr, die anderen weniger: Besserstellung der tarifgebundenen Pflegedienste in der häuslichen Krankenpflege

Zuweilen sind es die kurzen Meldungen, hinter denen gewichtige Aspekte stehen, die man wahrnehmen sollte, gerade auch deshalb, weil sie neue und notwendige Wege aufzeigen. Ein Beispiel dafür wäre die Situation in der Pflege und die Vergütung der Pflegekräfte. Darüber wird seit langem geklagt. Und immer wieder hat man in der Vergangenheit seitens der Träger der ambulanten Pflegedienste und der Pflegeheime das Argument hören müssen, man würde ja gerne das Personal besser, beispielsweise nach Tarif bezahlen – aber man stehe in einem harten Wettbewerb mit anderen Anbietern und wenn sich die daran nicht halten, dann zieht man eine ganz schlechte Karte. Kurzum, man würde ja gerne, aber die Rahmenbedingungen der Finanzierung erlauben das leider nicht.
Nun hatte dass Bundessozialgericht mit Blick auf die Pflegesätze in der stationären Altenpflege schon vor Jahren entschieden, dass die Einhaltung einer Tarifbindung nicht dazu führen darf, einen solchen Anbieter wegen „Unwirtschaftlichkeit“ gleichsam zu bestrafen.

Zum Hintergrund sei an dieser Stelle nur auf die Ausführungen zum „externen Vergleich“ und dem richtungweisenden Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Januar 2009 hingewiesen, die man in dieser Veröffentlichung nachlesen kann:

Stefan Sell (2009): Das Kreuz mit der Pflege. Konfessionelle Träger von Pflegeheimen als Getriebene und Treiber in Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Pflegesektors. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 06-2009, Remagen, 2009

Von besonderer Rolle ist dabei der „externe Vergleich“ und die Orientierung der zugestandenen Pflegesätze an den in Rahmen dieses Vergleichs gewonnenen durchschnittlichen Beträgen bzw. Steigerungsraten. Als Hintergrund für die Anwendung dieses speziellen und mit Blick auf Träger, die eine z.B. tarifinduzierte höhere Personalkostenstruktur haben, nicht unproblematischen Verfahrens, muss die (alte) Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2000 gesehen werden.

In zwei Urteilen hatte das BSG richtungweisend dargelegt, wie die Vergütung der vollstationären Pflegeheime zu ermitteln ist. Die Höhe der leistungsgerechten Vergütung ist nach den Vorschriften des Gesetzgebers auf der Grundlage einer marktorientierten Pflegeversorgung in erster Linie durch Marktpreise zu bestimmen. In der Entscheidung vom 14. Dezember 2000 (BSGE 87, 199 = SozR 3 3300 § 85 Nr 1) hatte der erkennende Senat ausgeführt, dass sich die leistungsgerechte Vergütung von Pflegeleistungen der Pflegeheime in erster Linie am jeweiligen Marktpreis orientiere; um diesen zu ermitteln, seien Angebot und Vergütung der Leistungen anderer Pflegeheime ähnlicher Art und Größe zum Vergleich heranzuziehen (externer Vergleich).

In der Bilanz hat die praktische Anwendung des externen Vergleichs eine (nach unten) nivellierende Wirkung auf die Preise ausgeübt. Der externe Vergleich wirkte tendenziell wie ein Treiber zugunsten der billigen Anbieter und als permanentes Kostenunterdeckungs-Damoklesschwert für die „teuren“ Anbieter.

In dieser Gemengelage war die im Januar 2009 vom BSG vorgenommene Neuausrichtung der bisherigen Vorgaben zur Berechnung der leistungsgerechten Vergütung von Pflegeeinrichtungen in den Schiedsstellenverfahren besonders hervorzuheben – und für alle Vertreter einer Aufrechterhaltung der Tarifbindung und einer ordentlichen Bezahlung war dieser Kurswechsel der Bundessozialrichter von zentraler Bedeutung.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hatte entschieden, dass die Pflegevergütungen für Pflegeheime auf einer neuen Basis zu berechnen sind, um einerseits den Pflegeheimen eine leistungsgerechte, ein wirtschaftliches Handeln ermöglichende Vergütung zu gewähren (§ 84 Abs. 1 und 2 SGB XI), ohne dabei zu dem vom Gesetzgeber abgeschafften „Selbstkostendeckungsprinzip“ hinsichtlich der Gestehungskosten zurückzukehren. Nach den Vorgaben des BSG sind die Pflegesätze in einem zweistufigen Verfahren zu berechnen:

In einer 1. Stufe erfolgt eine Plausibilitätsprüfung der vom Heimträger für den bevorstehenden Pflegesatzzeitraum prognostisch geltend gemachten einzelnen Kostenansätze. Dabei hat der Heimträger die Abweichung der Kostenansätze zu den Vorjahreskosten (interner Vergleich) plausibel zu erklären (z. B. „normale“ Lohnsteigerungen, verbesserter Pflegepersonalschlüssel). Die Pflegekassen haben die Plausibilität zu überprüfen.

Sind die Kostenansätze plausibel, erfolgt in einer 2. Stufe ein externer Vergleich der geforderten Pflegesätze mit den Pflegesätzen vergleichbarer Pflegeheime aus der Region, um die Wirtschaftlichkeit zu überprüfen. Dabei ist nicht nach tarifgebundenen und nicht-tarifgebundenen Pflegeheimen zu unterscheiden. Liegt der geforderte Pflegesatz im unteren Drittel der zum Vergleich herangezogenen Pflegesätze, ist regelmäßig ohne weitere Prüfung von der Wirtschaftlichkeit auszugehen. Liegt er darüber, sind die vom Heimträger dafür geltend gemachten Gründe auf ihre wirtschaftliche Angemessenheit zu prüfen. Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.

Der letzte Satz ist hier natürlich von entscheidender Bedeutung: „Die Einhaltung der Tarifbindung und die Zahlung ortsüblicher Gehälter ist dabei immer als wirtschaftlich angemessen zu werten.“ Das ist der Schlüsselsatz für alle Vertreter einer Tariforientierung bei der Ausgestaltung der Pflegesätze.

Nun gibt es eine ganz neue Bewegung im Bereich der ambulanten Pflegedienste, bei der es explizit auch um die Frage der Tarifbindung (und der daraus resultierenden Kosten) geht. Es geht hier – das sei deutlich hervorgehoben – um den Bereich der häuslichen Krankenpflege, also um den SGB V-Bereich, nicht um die ambulanten Altenpflegedienste nach dem SGB XI, also der Pflegeversicherung. Kassen belohnen faire Pflegedienste, so die eindeutige Überschrift einer der Meldungen dazu. Oder dieser Artikel hier: Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten in Hamburg mehr Geld. Was ist passiert?
In Hamburg bieten rund 360 Pflegedienste häusliche Krankenpflege als vorübergehende Unterstützung nach Krankheit oder einem Unfall an. Die Arbeitsgemein­schaft der freien Wohlfahrtspflege Hamburg (AGFW), in der überwiegend tarifgebundene Dienste organisiert sind, hat mit dem Verband der Ersatzkassen (vdek) Hamburg einen neuen Vertrag zur häuslichen Krankenpflege vereinbart, nach der Pflegedienste von den Ersatzkassen dann mehr Geld bekommen, wenn sie ihren Beschäftigten Tariflohn zahlen. 
Konkret hat man ein interessantes 3-Stufen-Modell vereinbart, das so aussieht:

1. Pflegedienste mit Tarifbindung erhalten ab dem 1. Juli 2017 eine um 2,5 Prozent erhöhte Vergütung.
Für Anbieter, die keinen Tariflohn bezahlen, verein­barten die Vertragspartner ein abgestuftes Verfahren.
2. Dienste ohne Tarifbindung erhalten ein Vergütungsplus von 2,2 Prozent, wenn sie belegen, dass sie die Löhne ihrer Beschäftigten durchschnittlich im gleichen Umfang erhöhen.
3. Unternehmen, die weder Tariflohn bezahlen noch die Weitergabe des Vergütungsplus an ihre Mitarbeiter nachweisen, erhalten eine Steigerung von lediglich 1,2 Prozent.

„Der Vertrag soll ein Signal an die Pflegedienste sein, noch stärker als bisher auf eine vernünftige Bezahlung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu achten.“ Mit diesen Worten zitiert der Verband der Ersatzkassen Claudia Straub, Referatsleiterin Pflege, in der Pressemitteilung Pflegekräfte sollen besser bezahlt werden. Ersatzkassen steigern Vergütung in der häuslichen Krankenpflege
Hier wird über eine abgestufte finanzielle Anreizregelung tatsächlich ein Signal in Richtung auf mehr Tarifbindung gesetzt. Man kann nur hoffen, dass diese Regelung viele Nachahmer findet und das Segment der häuslichen Krankenpflege überschreiten kann.

David und Goliath in der Welt der Krankenversicherungsleistungen. Teilweise erhebliche Unterschiede bei Leistungsbewilligungen und -ablehnungen

Es ist ein Wesensmerkmal der meisten sozialpolitischen Bereiche, dass es eine große Asymmetrie gibt zwischen denen, die auf Leistungen angewiesen sind und diese in Anspruch nehmen wollen bzw. müssen, und den großen Sozialleistungsträgern, die eben nicht nur als Dienstleistungsscharnier fungieren, sondern nach ganz eigenen und seit vielen Jahren zunehmend auch betriebswirtschaftlichen Steuerungsvorgaben arbeiten (müssen). Und neben der berechtigten Abwehr von Leistungsmissbrauch (und damit Schädigung der Solidargemeinschaft) kann es gerade dann, wenn die Träger im Wettbewerb stehen und Kosten „drücken“ müssen, dazu kommen, dass man versucht ist, auch berechtigte Leistungserwartungen der Mitglieder oder „Kunden“, wie die heute so oft genant werden, zu verweigern oder zumindest den Zugang zu erschweren. Nun wird sich das angedeutete Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten niemals vollständig auflösen lassen, aber gerade bei sozialpolitischen Leistungen, die ja oftmals von existenzieller Bedeutung sind, ist es wichtig, dass man genau hinschaut, wenn David (der einzelne Versicherte, Patient, Klient) auf Goliath (die großen Krankenkassen, die Jobcenter, die Jugendämter usw.) trifft, denn die Kräfteverhältnisse sind hier immer ungleich verteilt und die vielen Kleinen benötigen Schutz vor immer möglicher administrativer Willkür.

Im Bereich der Krankenkassen geht es nicht nur um das laut Umfragen „höchste Gut“ der Menschen, also Gesundheit bzw. dessen Infragestellung durch Unfall oder Erkrankung, sondern auch um eine wahrhaft unüberschaubare Vielzahl von Leistungen. Im Krankenhaus operiert zu werden oder vom niedergelassenen Vertragsarzt Medikamente verordnet zu bekommen – das fällt den meisten Menschen sicher sofort ein, wenn es um das Leistungsspektrum der Krankenkassen geht. Aber da gibt es noch zahlreiche andere Leistungen – von den Heil- und Hilfsmitteln, den Vorsorge- und Rehamaßnahmen, häusliche Krankenpflege und vieles mehr. Und gerade in diesen Bereichen wird immer wieder auch in den Medien von Ablehnungen, Verweigerungen, Hinhalte-Taktiken der Krankenkassen gegenüber einzelnen Versicherten berichtet. Nur stellt sich dann immer auch die Frage, ob es sich hierbei um bedauernswerte Einzelfälle handelt oder ob das öfter vorkommt und vielleicht sogar einem Muster folgt.

Auch den Patientenbeauftragten der Bundesregierung bewegt dieses Thema – schon allein deshalb, weil bei ihm natürlich viele Fälle landen, wo ein David aus der Masse der Versicherten Beschwerde führt gegen einen Goliath der Krankenversicherungswelt. Also wollte man von dort aus mehr wissen.

»Das Thema Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch gesetzliche Krankenkassen steht immer wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion. Aus den Beschwerden von Versicherten bei der Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten geht hervor, dass viele Betroffene eine Leistungsablehnung oftmals nicht nachvollziehen können, auch wenn sich die Entscheidungen der Krankenkassen im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften des SGB V begründen lassen. Des Weiteren wird vielfach – insbesondere von Seiten der Patientenorganisationen – kritisiert, dass Krankenkassen die beantragten Leistungen von Patientinnen und Patienten verspätet, pauschal und ohne Einzelfallprüfung ablehnen würden«, so heißt es in der Ausgangsbeschreibung für eine Studie, die man dann in Auftrag gegeben hat.
Da bezüglich der Anzahl der Leistungsbewilligungen und -ablehnungen – mit der Ausnahme der sog. KG 5- Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für den Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen – keine amtlichen Statistiken zu Verfügung stehen, sollte anhand einer empirischen Analyse ein neutraler und sachlicher Überblick über die Leistungsbewilligungen und -ablehnungen der gesetzlichen Krankenkassen erstellt werden.

Dabei geht es um diese wichtigen Fragen:

1) Wie häufig werden Leistungsanträge von den Krankenkassen bewilligt bzw. abgelehnt? Welche Leistungsbereiche sind häufig von Ablehnungen betroffen?
2) Wie und in welchem Umfang werden die Versicherten über die Gründe für eine Bewilligung bzw. Ablehnung eines Leistungsantrags informiert? Wie verständlich sind diese Informationen für die Versicherten?
3) Wie häufig kommt es zu Fristüberschreitungen nach § 13 Abs. 3a SGB V? Wie sind die Versicherten über die Regelungen des § 13 Abs. 3a SGB V informiert?
4) Wie häufig kommt es zu Widersprüchen oder Klagen? Wie erfolgreich sind Widersprüche und Klagen?

Herausgekommen ist diese Ausarbeitung:

Monika Sander, Martin Albrecht, Verena Stengel, Meilin Möllenkamp, Stefan Loos und Gerhard Igl (2017): Leistungsbewilligungen und -ablehnungen durch Krankenkassen. Studie für den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten sowie Bevollmächtigten für Pflege, Berlin: IGES Institut, Juni 2017.

Es gibt auch eine Kurzfassung der Studie.

Susanne Werner hat ihren Artikel zu den Ergebnissen der Studie so überschrieben: Rätselhafte Vielfalt bei den Leistungen: Ob eine Leistung bewilligt wird oder nicht, hängt laut einer aktuellen Studie ganz erheblich von der Kasse ab. Über alle Leistungsbereiche hinweg lehnen die Kassen im Durchschnitt 5,2 Prozent der beantragten Leistungen ab. Einzelne Leistungsbereiche aber fallen durch besonders viele Absagen auf. Beispielsweise zeigen sich die Kassen auch bei den stationären Präventionsleistungen wie etwa Vorsorgekuren oder Mutter-Vater-Kind-Angeboten zugeknöpft. Etwa jedem dritten Antrag auf eine entsprechende präventive Maßnahme wurde 2015 eine Absage erteilt.

Als die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden, fand der Patientenbeauftragte – mittlerweile als Gesundheits- und Arbeitsminister in die neue nordrhein-westfälische Landesregierung gewechselt – deutliche Worte: Neue Studie zur Bewilligung von Leistungsanträgen. Staatssekretär Laumann kritisiert gravierende Unterschiede zwischen Leistungsbereichen und Krankenkassen:

»Die Studie zeigt insbesondere, dass es bei der Bewilligung und Ablehnung von Leistungsanträgen teils erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen und den unterschiedlichen gesetzlichen Krankenkassen gibt. Nach Ansicht von Staatssekretär Laumann sind diese Unterschiede größtenteils nicht nachvollziehbar und gehören unverzüglich abgestellt.«

 Das muss man mit Zahlen belegen können, also lesen wir weiter:

»So wird beispielsweise bei den Leistungen im Bereich der Vorsorge und Rehabilitation im Durchschnitt fast jeder fünfte Antrag (18,4 Prozent) von den Krankenkassen abgelehnt. Die Spannbreite der Ablehnungsquoten der einzelnen Krankenkassenarten liegt dabei zwischen 8,4 und 19,4 Prozent. Gegen rund jede vierte Leistungsablehnung in dem Versorgungsbereich wird Widerspruch eingelegt (24,7 Prozent). Und weit mehr als jeder zweite eingelegte Widerspruch (56,4 Prozent) ist erfolgreich oder zumindest teilweise erfolgreich, indem der Antrag schließlich doch wie beantragt oder mit anderer Leistung bewilligt wird. Bei der medizinischen Vorsorge für Mütter und Väter trifft das sogar auf sage und schreibe fast drei von vier Widersprüchen zu (72,0 Prozent).«
Man sollte an dieser Stelle mit Blick auf den Klageweg zur Sozialgerichtsbarkeit auf die Größenordnung hinweisen: 46.000 Streitfälle aus dem Bereich der Krankenversicherung wurden von deutschen Sozialgerichten verhandelt. Dabei hatte jede vierte Klage Erfolg.

Die Schlussfolgerungen von Laumann aus den nun vorliegenden Studienergebnissen werden von ihm so auf den Punkt gebracht:

„Wenn – wie bei den Leistungsanträgen zur Vorsorge und Rehabilitation – weit mehr als jeder zweite Widerspruch erfolgreich ist, kann bei der Bewilligungspraxis etwas nicht stimmen. Es ist auch nicht zu erklären, wieso die Ablehnungsquoten bei Anträgen auf Hilfsmittel für chronische Wunden zwischen den einzelnen Krankenkassen zwischen 3,8 und 54,7 Prozent regelrecht auseinanderklaffen. Die Krankenkassen dürfen erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass sie bestimmte Leistungen zunächst einmal systematisch ablehnen, obwohl die Menschen einen klaren gesetzlichen Anspruch darauf haben. Das untergräbt massiv das Vertrauen in die Krankenkassen.“

Kritik ist das eine – und sie ist offensichtlich angebracht. Aber welche gesundheitspolitischen Schlussfolgerungen kann und muss man daraus ziehen? Dazu der bisherige Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, durchaus konkret:

„Vor allem müssen die Krankenkassen in Zukunft verpflichtet werden, die Daten zu den Leistungsbewilligungen und –ablehnungen zu veröffentlichen. Außerdem müssen sie die Patienten besser über das Verfahren der Leistungsbeantragung und das Widerspruchsverfahren informieren sowie die Gründe für eine Ablehnung verständlicher als bisher darlegen. Damit würde die Wahlfreiheit der Bürger gestärkt, sich ganz bewusst für oder gegen eine Krankenkasse zu entscheiden“, sagt Laumann. Er wiederholt zudem seine Forderung, dass Patienten bei Leistungsanträgen nach Ablauf der Entscheidungsfrist nicht nur einen Kostenerstattungsanspruch, sondern einen Anspruch auf die Sache selbst haben und die Krankenkassen diesen bezahlen müssen.

Kaufleute mit Skalpell? Gesundheitskarte mit Lesegeräte-Monopol? Aus dem monetischen Schattenreich der Gesundheitswirtschaft

Das sei dem folgenden Beitrag vorangestellt – wir haben ein in vielerlei Hinsicht hervorragendes Gesundheitssystem in unserem Land. Neulich wurde man mit der Veröffentlichung einer dieser obskuren internationalen „Vergleichsstudien“ konfrontiert, nach der das deutsche Gesundheitssystem hinter dem griechischen liegen soll. Das ist – nicht nur, aber auch aufgrund der Verwüstungen, die Jahre der Krise im griechischen Gesundheitswesen hinterlassen haben – gelinde gesagt Bullshit. Vgl. zu der Studie den Artikel Deutschlands Gesundheitssystem landet auf Platz 20, unter anderem hinter Griechenland und Slowenien. Man vergleiche beispielsweise die Zugänglichkeit des Gesundheitswesens auch für arme Menschen, die Abdeckung von Krankheitskosten über ein ausgebautes Krankenversicherungssystem auch für diejenigen, die nur geringe Beiträge zahlen können. Und von monatelangen Wartelisten auf wichtige OPs wie in benachbarten Ländern muss man sich hier auch nicht fürchten. Bei aller Kritik also – man sollte sich dessen bewusst sein.

Apropos OPs – viele Bewohner Großbritannien würden angesichts der dort vorherrschenden Warteschlangenmedizin sowie der Verweigerung bestimmter Leistungen, nur weil man ein bestimmtes Lebensalter erreicht hat, die Zustände bei uns sicher als traumhaft bezeichnen. Aber bekanntlich hat jede Medaille zwei Seiten und damit kommen wir zur Schattenseite in Deutschland.

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Explodierende Beitragsschulden in der Krankenversicherung, Solo-Selbständige, die unterhalb des Mindesteinkommens jonglieren und warum Bismarck wirklich tot ist

Die Absicherung der großen Lebensrisiken ist der Kernbestandteil des Sozialstaats. Dass dazu auch eine Krankenversicherung gehört, versteht sich in Deutschland – anders als beispielsweise in den USA – eigentlich von selbst. Aber auch hier muss man der Versicherungsschutz finanziert werden, was über Beiträge passiert, die nach der Leistungsfähigkeit der Versicherten bemessen werden. Im Ergebnis führt die sozialversicherungsförmige Absicherung der Krankheitsrisiken dazu, dass auch Leute, die nur sehr geringe Beiträge gezahlt haben, im Grunde das gleiche Leistungsspektrum bekommen wie Versicherte, die aufgrund ihres beitragspflichtigen Einkommens den Maximalbeitrag leisten müssen. Und auch Selbständige haben grundsätzlich die Möglichkeit, sich in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abzusichern, über eine freiwillige Mitgliedschaft bei einer der Krankenkassen. Ansonsten sollen sich die Selbständigen gemäß der alten Bismarckschen Logik als nicht-schutzbedürftige Personen selbst kümmern, wie bei ihrer Alterssicherung auch. Das ist so lange kein Problem, wie die Selbständigen tatsächlich von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen nicht schutzbedürftig sind, weil sie über in entsprechendes Einkommen verfügen, das ihnen eine private Absicherung für das Alter sowie über die private Krankenversicherung eine gegen die Krankheitsrisiken ermöglicht.

Aber Bismarck ist bekanntlich biologisch schon seit längerem verstorben und die Welt, in der er die grundlegenden Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherungssysteme mit auf den Weg gebracht hat, die verändert sich und immer öfter stoßen sich die grundlegenden Annahmen, auf denen auch unsere Sozialversicherungssysteme aufbauen, an den Teilen der anderen Wirklichkeit, die sich herausgebildet hat. Man kann (und müsste) das diskutieren für die Frage der überwiegend lohnbezogenen Finanzierung gerade im Alterssicherungssystem und man kann (und müsste) das diskutieren für die – historisch vielleicht noch sinnvolle – Trennung zwischen schutzbedürftigen Arbeitern (später dann auch Angestellte) versus sich selbst überlassenen Selbständigen (wobei eine genauere historische Analyse zeigen kann, dass es immer schon ein absolut prekär aufgestelltes Kleinunternehmertum gegeben hat. Und die Einbeziehung eines Teils der Selbständigen in die Sozialversicherung in den vergangenen Jahrzehnten war ja auch immer schon eine Reaktion auf die sich verändernde Welt und das Anerkenntnis, dass die (aus sozialpolitischer Sicht) zunehmend zu einer rein formalen Statusgrenze geschrumpften Unterscheidung zwischen abhängiger Beschäftigung versus Selbständigkeit nicht mehr hinreichend ist.

Diese grundsätzlichen und strukturellen Andeutungen sollen einleiten in eine Auseinandersetzung mit einem scheinbar aktuellen Problem im Bereich der Krankenversicherung, hinter dem aber strukturell viel von dem steht, was einleitend angesprochen wurde:

Die Beitragsschulden von freiwillig Krankenversicherten in der GKV explodieren. Ende vergangenen Jahres standen die GKV-Mitglieder mit sechs Milliarden Euro in der Kreide (vgl. beispielsweise Beitragsschulden bei den Kassen sprengen Sechs-Milliarden-Grenze). Die Zunahme der Beitragsschulden ist enorm: Sie entspricht binnen Jahresfrist einer Zunahme von 1,5 Milliarden Euro. Anfang 2016 schuldeten die freiwillig Versicherten den gesetzlichen Kassen noch 4,48 Milliarden Euro. »Damit sich das Beitragsschuldengesetz der Koalition, das im August 2013 in Kraft getreten ist, als weitgehend wirkungslos erwiesen. Bis dahin hatten die Säumniszuschläge der Kassen nach der Vorgabe des Gesetzgebers 60 Prozent pro Jahr betragen. Seitdem ist der Zuschlag auf ein Monat pro Jahr reduziert worden.«

Dazu wurde hier bereits im Kontext mit Berichten über Menschen ohne Krankversicherungsschutz berichtet, konkret am 18. Januar 2017 in dem Beitrag Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz: Hier bei uns sind ausnahmslos alle Menschen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder unter bestimmten Voraussetzungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert – wobei „ausnahmslos“ im Sinne der Rechtslage gilt. Denn immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte, dass es Menschen gab ohne irgendeinen Krankenversicherungsschutz. Die Berichte haben dazu geführt, dass man durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem 1.4.2007 alle im Inland wohnenden Personen in die Versicherungspflicht einbezogen hat (§ 5 SGB V Versicherungspflicht). Die Krankenkassen sprechen hier von einer im § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V normierten „Auffangversicherungspflicht“ der GKV. Seit 2009 gibt es auch für die PKV eine Versicherungspflicht. Aber in den Jahren nach dieser gesetzgeberischen Klarstellung wurde immer wieder über Menschen berichtet, die keinen Versicherungsschutz hatten. Irgendetwas scheint also nicht so funktioniert zu haben, wie man sich das gedacht hat mit der Versicherungspflicht. Es gab Menschen, die deshalb ihren Versicherungsschutz verloren hatten, weil sie Beitragsschulden aufgehäuft hatten, die – verstärkt durch die Säumniszuschläge – beständig größer (und für viele Betroffene immer unbezahlbarer) wurden. Deshalb wollte man einen Schnitt machen, sozusagen bei Null starten und die Altfälle „bereinigen“ – mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013. Ausstehende Beiträge konnten erlassen werden, der Säumniszuschlag wurde gesenkt und ein Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt.

Und jetzt diese Entwicklungen bei den Beitragsschulden. Warum die Schulden der gesetzlichen Krankenversicherung explodieren – diese Frage von Timot Szent-Ivanyi drängt sich natürlich auf. Wer sind die Hauptschuldner? Das ist klar auszumachen: Die Selbstständigen. Sie allein schulden den gesetzlichen Kassen fast fünf Milliarden Euro.

Timot Szent-Ivanyi schreibt in seinem Artikel: »Die Beitragsberechnung bei Selbstständigen in der gesetzlichen Krankenversicherung unterscheidet sich von der bei angestellten Arbeitnehmern. Weil man früher davon ausgegangen ist, dass Selbstständige in der Regel gut verdienende Unternehmer mit Angestellten sind, wurde ein Mindestbeitrag festgelegt. Er soll verhindern, dass sich der Selbstständige arm rechnet. Derzeit wird bei der Beitragsberechnung so getan, als verdiene der Betroffene brutto mindestens 2231 Euro. Da die Selbstständigen auch den Arbeitgeberanteil selbst zahlen müssen, sind für den Versicherungsschutz (inklusive Krankengeldanspruch und Pflegeversicherung) im Schnitt mindestens knapp über 400 Euro im Monat fällig. Nur in besonderen Härtefallen lässt sich der Beitrag auf rund 270 Euro drücken. Weniger geht nicht.« In der Abbildung findet man die aktuell korrekten Beträge, wenn die Selbständigen auf ein Krankengeldanspruch verzichten.

Dann kommt er zu dem entscheidenden  Punkt: »Die Szene der Unternehmer hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Inzwischen sind etwa 71 Prozent der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Selbstständigen sogenannte Solo-Selbstständige; sie haben also keine Angestellten. Sie können von dem Gehalt, das beim Mindestbeitrag unterstellt wird, nur träumen. 82 Prozent dieser Solo-Angestellten haben lediglich ein Jahreseinkommen von brutto bis zu 15.010 Euro. Das Jahresdurchschnittseinkommen dieser Personengruppe liegt bei brutto 9444 Euro, also lediglich 787 Euro im Monat. Daran gemessen ist ihr Beitragsanteil für die Krankenversicherung deutlich zu hoch. Er kann fast 50 Prozent betragen, während Arbeitnehmer derzeit im Schnitt 8,4 Prozent zahlen.«

Was kann man tun? »Naheliegend ist eine Absenkung des Mindestbeitrags. Auch Gleitzonen für geringe Einkommen wären möglich. Das alles klingt allerdings leichter, als es in der Praxis ist. Denn die Möglichkeiten, sich im Zweifel arm zu rechnen, um Beiträge zu sparen, bestehen heute noch. Es muss also darauf geachtet werden, dass nicht am Ende andere Versicherte die Lasten tragen müssen, also insbesondere die Arbeitnehmer.«

Wir sehen und lesen, dass es jetzt weniger einfach wird, als man vielleicht im ersten Moment denkt. Auch der »Bundesrat sorgt sich, weil immer mehr Kleinunternehmer ihre Krankenversicherung nicht mehr zahlen können. Ihre Beitragsschulden in der GKV explodieren«, kann man diesem Artikel entnehmen: Selbstständige in der GKV-Schuldenfalle. Im Bundesrat gab es einen Antrag von Thüringen, Berlin und Brandenburg. »Noch bis zur Bundestagswahl soll die Regierung einen Bericht zur Lage dieser Gruppe vorlegen, heißt es darin. Zudem fordern die Länder konkrete Vorschläge, wie diese Gruppe bei den GKV-Beiträgen entlastet werden kann.« Und weiter erfahren wir:

»Der GKV-Mindestbeitrag für diese Gruppe belief sich im vergangenen Jahr auf 342 Euro pro Monat. Nur durch einen Härtefallantrag lässt sich der Obolus nochmals um rund ein Drittel auf 228 Euro drücken. Ursache dafür ist die Mindestbemessungsgrenze, die bei der Beitragsermittlung von Selbstständigen unterstellt wird (aktuell 2231,25 Euro). Eine Senkung dieser Grenze hätte „erhebliche Mindereinnahmen“ in der GKV zur Folge, ihre Abschaffung stünde „im Widerspruch zum Solidarprinzip der GKV“, erklärte die Regierung im September 2016 auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag. Diese besonderen Bemessungsgrenzen für Selbständige dienten der „Beitragsgerechtigkeit“ – auf diese Weise werde der Vorteil ausgeglichen, dass die Beitragshöhe anhand des Nettoprinzips ermittelt wird – anders als bei abhängig Beschäftigten.«

Und andere Stimmen, beispielsweise von den Krankenkassen? »Aus Sicht des GKV-Spitzenverbands muss die Koalition ran, um die Schuldenlast von Versicherten abzubauen«, kann man diesem Artikel entnehmen: Gesetzgeber ist am Zug. „Wenn der ‚Versicherungsschutz für alle‘ aus gesamtgesellschaftlichen Gründen nach wie vor politisch gewollt ist, brauchen die Krankenkassen eine Lösung für diejenigen, die ihre Beiträge tatsächlich nicht zahlen können“, wird Ann Marini, stellvertretende Sprecherin des GKV-Spitzenverbands, in dem Artikel zitiert. Hier müsse die öffentliche Hand mit Steuergeld einspringen, diese Last dürfe nicht auf die anderen Beitragszahler abgewälzt werden. Größtmögliche Hilfe hat das Beitragsschuldengesetz der kleinen Gruppe der bisher Nichtversicherten gewährt, die sich bis Ende 2013 bei einer Krankenkasse gemeldet haben – ihnen wurden Beiträge erlassen, darüber wurde schon in diesem Beitrag berichtet: Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz. Nicht angegangen worden ist vom Gesetzgeber aber die wachsende Gruppe der Solo-Selbstständigen, die so wenig verdienen, dass sie die GKV-Beiträge nicht stemmen können.

Die Grünen im Bundestag votieren dafür, die Mindestbeiträge für kleine Selbstständige zumindest auf das Niveau der sonstigen freiwillig Versicherten in der GKV zu senken (siehe Abbildung). Aber man kann an dieser Stelle natürlich die grundsätzliche Frage aufrufen – bis wohin runter soll es denn gehen? Und ist es Aufgabe der Solidargemeinschaft, auch Geschäftsmodelle von Selbständigen zu subventionieren, bei denen die weniger als 900 Euro im Monat verdienen? Eine Frage, daran sei hier nur erinnert, die sich auch im Bereich der Grundsicherung nach SGB II stellt, bei den selbständigen Aufstockern im Hartz IV-System also. Leistet man, anders gefragt, nicht einen Beitrag zur Stabilisierung von Kümmerexistenzen, wenn man denen die Absicherung auch noch erleichtert? Vgl. zu den multiplen Schwierigkeiten, die sich mit Blick auf diese Personengruppe ergeben, auch den Beitrag von Markus Krüsemann: Was tun gegen die Prekarität des Kleinunternehmertums?

Man sollte an dieser Stelle zumindest darauf hinweisen, dass es diese Probleme nicht nur in der GKV gibt, sondern auch in der privaten Krankenversicherung: »Auch in der PKV sieht es für einen Teil der Solo-Selbstständigen finanziell düster aus. Die am schlechtesten verdienende Gruppe muss sogar bis zu 58 Prozent ihres Einkommens aufwenden, um die PKV-Police bedienen zu können, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ermittelt. Während die Zahl der PKV-Versicherten im Basistarif mit rund 29.000 gering blieb, gehörten rund 116.000 Versicherte dem neu geschaffenen „Notlagentarif“ an.« Das muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass 58 Prozent der Selbstständigen im Jahr 2012 in der GKV versichert waren, 42 Prozent in der PKV. Hier gilt die Regel: Je höher die Einkommensklasse, desto höher ist der Anteil der PKV-Versicherten. Doch auch in der Privatassekuranz nimmt der Zahl der „Niedriglöhner“ zu.

Wieder zurück in die GKV: „Die Beitragslast ist zu hoch“, moniert Rainer Woratschka in seinem Artikel hinsichtlich der Ist-Situation ja auch nicht zu Unrecht: »Sie arbeiten als Paketauslieferer Unternehmensberater und Kosmetikerin, sind Kioskbesitzer, Hausmeister, Boutiquenbetreiber. Die Altersvorsorge sparen sie sich, wenn es nicht reicht. Aber an einer Krankenversicherung kommen auch sogenannte Solo-Selbständige nicht vorbei. Ein Problem, denn für viele ist dieser Posten selbst in gesetzlichen Kassen finanziell kaum noch zu stemmen. Die Beiträge fressen auch in gesetzlichen Kassen inzwischen oft die Hälfte der gesamten Einnahmen.« So die bekannte Diagnose. Und weiter: »Das Problem der Solo-Selbständigen mit den Kassenbeiträgen rührt vor allem aus zwei Umständen. Zum einen fehlt ihnen die Arbeitgeberbeteiligung, sie müssen den Krankenversicherungsbeitrag komplett aus eigener Tasche zahlen. Zum andern schert sich die Sozialversicherung nicht groß um ihr Einkommen. Zur Beitragsberechnung wird ihnen einfach ein monatliches Mindesteinkommen unterstellt, von dem viele Kleinunternehmer nur träumen können.«

Dietmar Haun und Klaus Jacobs kommen in ihrer 2016 veröffentlichten Studie Die Krankenversicherung von Selbstständigen: Reformbedarf unübersehbar zu diesem Fazit:

»Die Option GKV oder PKV pauschal am Kriterium der Selbstständigkeit festzumachen, hat mit der Arbeitsmarkt- und Einkommensrealität schon längst nichts mehr zu tun. Dass dabei Entscheidungen über den Krankenversicherungsschutz mit potenziell lebenslanger Bindungswirkung getroffen werden, passt nicht mehr zu den immer häufigeren Patchwork-Erwerbsbiografien. Aber noch etwas ist bei der empirischen Analyse deutlich geworden: Die Beitragsregelungen sowohl in der GKV als auch in der PKV sind für viele Selbstständige nicht mehr angemessen. In der PKV wird die Intention der erst 2009 eingeführten Krankenversicherungspflicht durch den Notlagentarif bereits heute ausgehöhlt. Das Geschäftsmodell der PKV ist vom Grundsatz her nicht in der Lage, auf sich ändernde individuelle Erwerbs- und Lebenslagen der Versicherten zu reagieren. Doch auch in der GKV werden die weithin auf Typisierungen basierenden Beitragsregelungen der konkreten Situation vieler Selbstständiger nicht mehr gerecht, wie nicht zuletzt die hohe Zahl von Nichtzahlern unterstreicht. Allerdings prallen hier zwei Schutzinteressen aufeinander: einerseits die Schutzbedürftigkeit kleiner Selbstständiger in prekären Einkommenslagen, aber andererseits auch die Notwendigkeit, die Solidargemeinschaft der GKV vor Überforderung zu schützen. An der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes müssen sich deshalb alle Bürger beteiligen, nicht zuletzt auch die nach wie vor vielen Selbstständigen mit hohen und sehr hohen Einkommen.«

Das würde wieder auf eine stärkere oder gar alleinige Steuerfinanzierung verweisen, für die es gute Argumente gibt, aber eben auch Einwände.

Einen anderen Ansatz bringt Florian Staeck in die Debatte ein. In seinem Kommentar Abschied von Bismarck schreibt er: »Was tut die Regierung? Nichts. Sie ignoriert ein sozialpolitisches Problem, das zugleich eine ordnungspolitische Großbaustelle ist: Die Zahl der Selbstständigen ist – politisch gewollt – im Kielwasser der „Agenda 2010“ gestiegen. Darunter sind Gutverdiener genauso wie Menschen mit Einkommen nahe dem Mindestlohn – nur, dass sie auf eigene Rechnung arbeiten.  Doch in der Gesetzlichen Krankenversicherung lebt die alte Bismarck-Welt weiter. Vor 20 Jahren wurde bereits die überkommene Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten abgeschafft. Inzwischen stellt sich aber die Frage, ob formale Kriterien der Erwerbsbiografie überhaupt über den Krankenversicherungsschutz bestimmen sollten. Die bisher existierenden Vorschläge, die schlicht auf eine Senkung der Mindestbemessungsgrenzen hinauslaufen, werden der Komplexität nicht gerecht. Eine ordnungspolitisch tragfähige Regelung muss die GKV als Solidargemeinschaft neu austarieren. Völliges Neuland muss dafür nicht betreten werden. Mit der Künstlersozialversicherung liegt ein Bauplan vor, der Orientierung geben kann.«

Fazit: Noch sind wir auf der Suche nach einem wirklich überzeugenden Rezept für die Lösung der beschriebenen Probleme.

Eigentlich darf es die doch gar nicht mehr geben. Menschen ohne Krankenversicherungsschutz

Während in den USA derzeit die nach langen Widerständen unter dem Namen „Obamacare“ eingeführte Möglichkeit einer Krankenversicherungspflicht für Millionen armer Bürger wieder vor der Zerschlagung steht, ohne dass klar ist, ob überhaupt und wenn ja welche Alternative für die betroffenen Menschen von der neuen Trump-Administration ins Leben gerufen wird (immerhin geht es um 20 Mio. Menschen in den USA, die unter den Affordable Care Act (ACA) fallen), kann sich Deutschland im Bereich der Absicherung der Krankheitsrisiken eines umfassenden und auch Menschen mit niedrigen oder gar kein Einkommen einbeziehenden Schutzssystems rühmen. Hier bei uns sind ausnahmslos alle Menschen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder unter bestimmten Voraussetzungen in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert – wobei „ausnahmslos“ im Sinne der Rechtslage gilt. Denn immer wieder gab es in der Vergangenheit Berichte, dass es Menschen gab ohne irgendeinen Krankenversicherungsschutz. Die Berichte haben dazu geführt, dass man durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem 1.4.2007 alle im Inland wohnenden Personen in die Versicherungspflicht einbezogen hat (§ 5 SGB V Versicherungspflicht). Die Krankenkassen sprechen hier von einer im § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V normierten „Auffangversicherungspflicht“ der GKV. Seit 2009 gibt es auch für die PKV eine Versicherungspflicht.

Aber in den Jahren nach dieser gesetzgeberischen Klarstellung wurde immer wieder über Menschen berichtet, die keinen Versicherungsschutz hatten. Irgendetwas scheint also nicht so funktioniert zu haben, wie man sich das gedacht hat mit der Versicherungspflicht. Und dass es sich dabei teilweise um ein systematisches Problem handelt, das sich selbst verstärkt, hat dann auch der Gesetzgeber erkannt: Es gab Menschen, die deshalb ihren Versicherungsschutz verloren hatten, weil sie Beitragsschulden aufgehäuft hatten, die – verstärkt durch die Säumniszuschläge – beständig größer (und für viele Betroffene immer unbezahlbarer) wurden. Deshalb wollte man einen Schnitt machen, sozusagen bei Null starten und die Altfälle „bereinigen“ – mit dem Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013. Ausstehende Beiträge konnten erlassen werden, der Säumniszuschlag wurde gesenkt und ein Notlagentarif für privat Versicherte eingeführt.

Die Betroffenen mussten sich bis zum 31. Dezember 2013 bei einer Kasse melden. Die Bundesregierung ging damals von rund 130.000 nicht-krankenversicherten Menschen in Deutschland aus, bei denen oftmals hohe Schulden gegenüber Krankenversicherungsunternehmen aufgelaufen sind. Die Zahl der mit dem damaligen Gesetz angesprochenen Menschen mit erheblichen Beitragsschulden lag aber mit (geschätzt) fast 650.000 deutlich höher – es wurde von »deutlich mehr als eine halbe Million freiwillig gesetzlich Versicherter mit Beitragsschulden und rund 144.000 Nichtzahler« in der PKV gesprochen (vgl. dazu Anno Fricke: Schnitt bei Kassenschulden tritt in Kraft vom 01.08.2013).

Ein gutes Jahr später wurde Bilanz gezogen: »Die Krankenkassen haben mehr als 50.000 Versicherten Schulden in einer Gesamthöhe von mehr als 1,1 Milliarden Euro erlassen«, konnte man diesem Artikel entnehmen: Schuldenerlass für mehr als 50.000 Versicherte. Interessant auch die damals genannten Relationen: »Die reinen Beitragsschulden belaufen sich demnach auf knapp 232 Millionen Euro. Gut 909 Millionen Euro sind aufgelaufene Säumniszuschläge.«
Diejenigen, die sich bis 31. Januar 2013 bei den Kassen gemeldet hatten, die seit 2007 aufgelaufenen Beiträge und Säumniszuschläge nicht (in voller Höhe) nachbezahlen.

Jetzt müsste also alles in Ordnung sein.

Dann wird man aber mit solchen Meldungen konfrontiert, die es eigentlich nicht geben dürfte:

»Trotz Versicherungspflicht haben in Deutschland weiterhin rund 80.000 Menschen keine Krankenversicherung. Das entspricht rund 0,1 Prozent der Bevölkerung, wie das Statistische Bundesamt berichtet«, so der Artikel Wie viele Deutsche sind nicht krankenversichert? vom 4. Oktober 2016.
Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2015. Angaben zum Krankenversicherungsschutz in der Bevölkerung werden nur alle vier Jahre erhoben.
Es gebe eine positive Veränderung, denn: »2011 waren noch 128.000 Menschen ohne Versicherungsschutz, 2007 waren 196.000 Menschen nicht krankenversichert.«

Aber: »Ein genauer Vergleich ist aber nicht möglich, da sich zwischenzeitlich die Gesetzeslage geändert hat und auch die Erhebungsmethode verändert wurde.« Um wem handelt sich hierbei?

»Überdurchschnittlich häufig nicht krankenversichert seien Ausländer und Selbstständige … Rund ein Drittel der Nicht-Krankenversicherten sind selbstständig. Bei Ausländern liegt der Anteil mit 0,5 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.«

Dieses Thema wurde nun wieder aufgegriffen in dem Beitrag Krank ohne Versicherung des Politikmagazins „Kontrovers“. Mit Blick auf die vom Statistischen Bundesamt für 2015 gemeldete und bereits zitierte Zahl von rund 80.000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz wird darauf hingewiesen, dass Experten schätzen, dass die „wahre“ Zahl der Nicht-Versicherten „mindestens viermal so hoch“ sei, damit würden wir uns in einer Größenordnung von 320.000 Betroffenen bewegen, also der Einwohnerschaft einer Großstadt.

Bei einer Erkrankung stehen sie ohne Hilfe da. Denn weil sie mit ihren Beitragszahlungen in Rückstand geraten sind, ruht ihre Versicherung. Und dass es davon sei viele gibt bzw. geben soll, ist nicht überraschend: Die, bei denen vorher schon das Geld nicht reichte, konnten auch nachher nicht zahlen und häuften so Beitragsschulden an.

Und wir werden hier mit dem konfrontiert, was 2013 zu der gesetzlichen Regelung der Altfälle geführt hat – allerdings eben nur für die Altfälle bis zu dem Stichtag Ende 2013:

»Um wieder normal krankenversichert zu sein, müssten sie rückwirkend ihre Beitragsschulden begleichen, dazu kommen Säumniszuschläge. Für viele ist das der Weg in die Schuldenfalle. Und einige Krankenkassen sind knallhart: So lange die Schulden nicht komplett zurückgezahlt sind, gibt es nur im Notfall Hilfe.«

Und was machen diese Menschen in ihrer Notlage? Wenn sie Glück haben, finden sie ein Notbehelfsangebot außerhalb des Regel-Versorgungssystems:

»Letzter Ausweg für die Betroffenen sind oft die Notsprechstunden. Praxen wie die „Malteser-Migranten-Medizin“ oder das Kloster Sankt Bonifaz in München behandeln Menschen, die keine Versichertenkarte haben. Überwiegend sind das Zuwanderer, die illegal in Deutschland leben. Im Wartezimmer sitzen jedoch auch Obdachlose und Geringverdiener, die keine Beiträge zahlen können, aber auch keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Die Praxen sind überlaufen.
Auch die Organisation Ärzte der Welt betreibt in München eine Praxis, die Unversicherte behandelt. Ursprünglich wurde die Praxis gegründet, um Menschen ohne Papiere zu behandeln. Mittlerweile sind allerdings Deutsche ohne Krankenversicherung die zweitgrößte Patientengruppe.«

Immer wieder taucht in Medienberichten über das Thema auch die „Praxis ohne Grenzen“ für die Region Bad Segeberg, gegründet von Uwe Denker und seit 2010 in Betrieb, auf.

Das abschließende Fazit des Politikmagazins: »Die Politik drängt immer mehr Bürger in Notfallpraxen – finanziert aus Spenden – mit Ärzten, die kostenlos arbeiten. Ein Armutszeugnis für den deutschen Sozialstaat.«