Vom „Wildwuchs“ und Qualitäts-„Wüsten“ ambulanter Leistungen in Krankenhäusern über eine „Vereinheitlichung“ der fachärztlich-ambulanten Versorgung hin zu den eigentlichen Interessen der Krankenkassen

Die „Schnittstelle“ zwischen der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung war und ist heftig umstritten. In der Idealwelt geht das so: Die niedergelassenen Vertragsärzte sind für die ambulante, sowohl haus- wie auch fachärztliche Versorgung zuständig. Und dazu gehören eigentlich auch Hausbesuche und vor allem die Sicherstellung der ambulanten Versorgung an Wochenende oder an Feiertagen. Dafür gibt es dann einen – regional immer noch sehr unterschiedlich organisierten – ärztlichen Bereitschaftsdienst, den die niedergelassenen Ärzte bestücken müssen. Entweder selbst oder dadurch, dass die Dienste an Ärzte vergeben werden, die das auf Honorarbasis machen. Aber neben diesen Bereitschaftsdiensten der niedergelassenen Ärzte gibt es dann auch noch die Notaufnahmen der Krankenhäuser, die rund um die Uhr geöffnet sind.

Nun könnte man auf die Idee kommen, dass die beiden Hilfesysteme eigentlich nichts miteinander zu tun haben und für die Idealwelt würde das auch gelten, denn die Notaufnahmen der Kliniken wären hier zuständig für Unfallopfer oder schwerere Erkrankungen, während alle leichten und mittelschweren Fälle zu den Niedergelassenen gehen. Aber bekanntlich leben wir nicht in einer Idealwelt. So begann ein Blog-Beitrag vom 18. Februar 2015 unter der Überschrift Überlastet und unterfinanziert – die Notaufnahmen in vielen Krankenhäusern. Zugleich ein Lehrstück über versäulte Hilfesysteme. Und über einen ambivalenten Wertewandel. Damals ging es um die zunehmende und von einigen kritisierte Inanspruchnahme der Notaufnahmen der Kliniken.

Nun wurde der neue Krankenhausreport 2016 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) veröffentlicht und die dazu gehörende Pressemitteilung wurde vom AOK-Bundesverband so überschrieben: Ambulante Leistungen im Krankenhaus: Experten kritisieren „Wildwuchs“. Ganz offensichtlich geht es hierbei um weit mehr als nur um die Notaufnahmen der Kliniken.

»In deutschen Krankenhäusern wird immer häufiger ambulant behandelt, also ohne dass die Patienten über Nacht bleiben. So sind in den letzten drei Jahrzehnten rund 20 verschiedene ambulante Versorgungsformen entstanden, die im Krankenhaus durchgeführt werden: von Hochschul- und Notfallambulanzen über Ambulantes Operieren im Krankenhaus bis hin zur Ambulanten Spezialfachärztlichen Versorgung (ASV)«, teilt man uns mit. Um das sogleich abzurunden: »Experten (bemängeln) nun den „Wildwuchs“ in diesem Versorgungsbereich und fordern einen einheitlichen Ordnungsrahmen. Notwendig sei „mehr Miteinander statt dieses andauernden Jeder-gegen-Jeden mit Sonderinteressen und Systemegoismen“.« Das hört sich doch aus (potenzieller) Patientensicht sehr gut und konstruktiv an. Oder?

Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem wird angesichts der Fülle von Versorgungsmöglichkeiten mit diesen Worten zitiert: „Hinter dieser Vielfalt steckt kein rationales Ordnungsprinzip. De facto werden hier identische Leistungen in verschiedene Rechtsformen verpackt und dann auch noch unterschiedlich vergütet.“ Ähnliche Unterschiede gebe es auch bei der Bedarfsplanung, bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen oder den Zugangsregeln zu Innovationen. „Und in puncto Qualitätssicherung sind ambulante Krankenhausleistungen ohnehin Wüsten“.

Aber er bleibt nicht bei der Klage ob der gegebenen Zustände, sondern seiner Meinung nach müsse die Politik an der Schnittstelle zwischen ambulanten und stationären Leistungen endlich einheitliche Spielregeln für alle und einen neuen Ordnungsrahmen vorgeben. Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen könne der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) übernehmen.

Auch Ferdinand Gerlach, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, kritisiert die Strukturprobleme zwischen den Sektoren: „Das deutsche Gesundheitswesen ist wie ein geteiltes Land. Zwischen Kliniken und Praxen verläuft eine kaum überwindbare Mauer, die für Patienten gefährlich und für alle viel zu teuer ist.“
Auch hier kann man aus der Perspektive des (potenziellen) Patienten nur zustimmend nicken, wenn man zu lesen bekommt:

»Echte Zusammenarbeit, etwa zwischen niedergelassenen und stationär tätigen Kardiologen, sei weder vorgesehen noch möglich. Mit der Folge, dass es zu Informationsbrüchen, Missverständnissen, Behandlungsfehlern, Mehrfachdiagnostik, vermeidbaren hohen Arztkontakten und Mengenausweitungen komme. Gerlach weiter: „Kaum einer übernimmt für Patienten mit mehreren Krankheiten, die gleichzeitig von verschiedenen Ärzten und Kliniken behandelt werden, die Gesamtverantwortung und schützt sie vor zu viel oder falscher Medizin.“«

Aber auch Gerlach lässt uns nicht allein mit der Diagnose der Probleme. In der Pressemitteilung des AOK-Bundesverbandes zum neuen Krankenhausreport kann man lesen: »Gerlach fordert eine regional vernetzte, sektorübergreifende Versorgung, in der die Honorare für stationäre Kurzzeitfälle und vergleichbare ambulante Behandlungen angeglichen werden.«

Da wird der eine oder andere Insider schon unruhig und das ist auch nicht unbegründet. Immer dann, wenn es um Finanzierung und Vergütung geht, muss man aufpassen – in die eine wie auch in die andere Richtung, also mit Blick auf die Patienten wie auch auf die Leistungserbringer.
So ist sicherlich völlig unbestritten und zutiefst unbefriedigend, was Ferdinand Gerlach ausführt, hier zitiert nach dem Artikel Wasem: „Wildwuchs“ gesetzlicher Regelungen muss geordnet werden:

„Es gibt auch keine Anreize zu kooperieren, dafür aber starke Anreize zu konkurrieren. Es gibt Informationsbrüche, unabgestimmte Therapien, Mehrfachdiagnostik. Wir haben hohe Eingriffszahlen, wir haben eine unangemessene Mengenausweitung und eine Konzentration der Leistungserbringer in den Ballungs­zentren.“

Ganz besonders interessant wird es natürlich an der Stelle, wo die Krankenkassen, in diesem Fall die AOK,  Farbe bekennen, was sie für Schlussfolgerungen aus dem Sachverhalt ziehen.
Anno Fricke hat das in seinem Artikel Ambulantisierung: „Wildwuchs“ und „Wüsten“ treffend so zusammengefasst:

»Der Sicherstellungsauftrag der KVen solle aufgebrochen werden zugunsten selektivvertraglicher Sicherstellungsmodelle unter Federführung der Kassen.«

Um dahin zu kommen, wird ein Zwei-Stufen-Modell skizziert. Um eine neue Struktur zu schaffen, wird für eine grundlegende Neuausrichtung für die fachärztlich-ambulante Versorgung plädiert, mit Bezug auf Ausführungen des Vorstands des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch :

»Damit dies gelinge, müssten zunächst die fachärztlich-ambulanten Leistungen einheitlich dokumentiert werden. „Diese Transparenz ist notwendig, um beispielsweise Doppel­strukturen oder Qualitätseinbußen sichtbar zu machen und um Vergleichbarkeit zwischen den Leistungserbringern herzustellen“, so Litsch. Zudem müssten alle Fachärzte bei der Bedarfsplanung berücksichtigt werden.

In einem zweiten Schritt müssten dann die Bedingungen für alle Teilenehmer der fachärztlich-ambulanten Versorgung vereinheitlicht werden. „Die Krankenkassen könnten dann die fachärztlich-ambulante Versorgung mit Hilfe von Selektivverträgen neu ausrichten“, meinte Litsch.«

An anderer Stelle wird AOK-Vorstand Kitsch so zitiert:

Er »fordert … eine grundlegende Reform: Er will in Zukunft nicht nur einheitliche Honorare für die ambulante Therapie an der Klinik und in der Praxis. Künftig solle außerdem das ambulante Behandlungsangebot der beiden vom jeweiligen Bundesland genauso gesteuert werden, wie es heute bereits für den Krankenhausbereich alleine geschehe. Alternativ könne auch den Kassen das Recht gegeben werden, die notwendigen Kapazitäten durch Versorgungsverträge mit Praxen und Kliniken sicherzustellen. „Beide Wege sind besser als das, was wir derzeit haben“, sagte Litsch.«

Man muss sich klar machen, was das bedeuten würde: Die Krankenkassen übernehmen die Steuerung des fachärztlich-ambulanten Versorgungsbereichs, egal, ob in der Praxis des niedergelassenen Arztes oder im Krankenhaus. Und gleichzeitig vereinheitlichen sie sie Bedarfsplanung für die Ärzte, in dem der Krankenhausbereich bei der Bedarfsplanung der Fachärzte berücksichtigt werden sollen.

Das entscheidende Stichwort in diesem Kontext ist das von den Selektivverträgen. Dazu die Definition des AOK-Bundesverbandes selbst:

»Im Gegensatz zum Kollektivvertrag wird beim Selektivvertrag ein Versorgungsvertrag zwischen einer einzelnen Krankenkasse und einzelnen Leistungserbringern oder Gruppen von Leistungserbringern geschlossen, zum Beispiel mit Arztnetzen, Medizinischen Versorgungszentren oder Anbietern der Integrierten Versorgung. In der politischen Diskussion werden Selektivverträge auch als Direktverträge bezeichnet, um zu betonen, dass in diesen Fällen die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht am Vertrag beteiligt sind …. Voraussetzung für den Zugang der Leistungserbringer zur Versorgung von gesetzlich Versicherten mit Vergütungsanspruch ist nicht die GKV-weite Zulassung auf der Grundlage der sektoralen Bedarfsplanung, sondern der Vertragsabschluss mit einer bestimmten Krankenkasse.«

Was das für die Patienten bedeuten würde? Sie können nicht mehr zu einem niedergelassenen Arzt oder in eine  Krankenhausambulanz gehen, sondern entscheidend wäre die Antwort auf die Frage, ob die jeweilige Einrichtung einen Versorgungsvertrag mit der jeweilig relevanten Krankenkasse geschlossen hat, die zu der Maßnahme berechtigt.
Man kann sich an dieser Stelle in Umrissen vorstellen, was das für einen administrativen Aufwand bedeuten würde, allein auf Seiten der Krankenkassen. Denn die müssten tatsächlich mit allen Einrichtungen bzw. ihren Trägern verhandeln und ggfs. Verträge abschließen.

Die Krankenhäuser sind im derzeitigen System „geschützt“ durch die Tatsache, dass sie einen Vergütungsanspruch haben, wenn die denn in den Krankenhausplan des jeweiligen Bundeslandes aufgenommen worden ist.

Die niedergelassenen Ärzte hingegen werden gegenüber den Kassen (noch) abgeschirmt von den Kassenärztlichen Vereinigungen, die von den Krankenkassen eine pauschale Abgeltung für den Sicherstellungsauftrag erhalten – und genau das wollen die Kassen ändern.

Mit Selektivverträgen könnten die Krankenkassen die „Schutzschirme“ um die ärztlichen Versorgungsbereiche durchbrechen und endlich die Strukturen direkt zu steuern versuchen.

Teure Flüchtlinge und/oder nicht-kostendeckende Hartz IV-Empfänger? Untiefen der Krankenkassen-Finanzierung und die Frage nach der (Nicht-mehr-)Parität

Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) basiert vor allem auf den Beitragseinnahmen, abgesehen von einem Bundeszuschuss, also Steuermitteln, in Höhe von (derzeit wieder) 14 Mrd. Euro, im vergangenen Jahr waren es nur 11,5 Mrd. Euro aufgrund von Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt, mit dem pauschal versicherungsfremde Leistungen an die GKV (zum Beispiel beitragsfreie Familienversicherung von Kindern und Ehegatten oder Leistun­gen für Mutterschaft und Schwangerschaft) abgegolten werden sollen. Bis zum Jahr 2009 gab es krankenkassenindividuelle Beitragssätze, die damalige große Koalition hatte diese durch einen fundamentalen Systemwechsel mit der Einführung des Gesundheitsfonds und einem einheitlichen Bundesbeitragssatz beseitigt und zugleich die bis dato existierende paritätische Finanzierung der GKV durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber faktisch aufgehoben, da der Arbeitgeberbeitrag „eingefroren“ wurde durch die Verlagerung eines Teils der Kostenanstiege allein auf die Versichertenseite durch die Einführung einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen, die ausschließlich von den Versicherten zu finanzieren waren (vgl. dazu den Beitrag Des einen Freud, des anderen (perspektivisches) Leid. Zur Neuordnung der Finanzierung der Krankenkassen vom 2. Januar 2014).

Eine weitere Verfestigung des nunmehr asymmetrisch zuungunsten der Versicherten ausgestalteten Finanzierungssystems gab es zum 1. Januar 2015 durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG). Der paritätisch finanzierte Beitragssatz wurde auf 14,6% gesenkt, während der Arbeitgeberanteil bei 7,3% nun auch dauerhaft eingefroren wurde. Die einkommensunabhängigen pauschalen Zusatzbeiträge wurden abgeschafft, stattdessen muss der Zusatzbeitrag nun als prozentualer Anteil von den beitragspflichtigen Einnahmen erhoben werden – sehr angenehm für den Bund, denn der bis dahin vorgesehene steuerfinanzierter Sozialausgleich konnte gestrichen werden, da der „Finanzausgleich“ jetzt innerhalb der GKV und damit von den Versicherten geleistet werden muss (vg. dazu den Beitrag Die Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen es alleine stemmen. Die Lastenverschiebung in der Sozialversicherung hin zu den Arbeitnehmern bekommt ein Update vom 16. Oktober 2015).

Zwischenfazit: Die Finanzierung der GKV ist in den zurückliegenden Jahren in mehrfacher Hinsicht zuungunsten der Versicherten (und der Patienten) verschoben worden:

  • Zum einen durch den beschriebenen Prozess des „Einfrierens“ des Arbeitgeberbeitrags, der mittlerweile, also seit dem GKV-FQWG, auch dauerhaft abgekoppelt ist von der Bewältigung der zukünftigen Ausgabenanstiege, denn diese Aufgabe müssen die Zusatzbeiträge leisten, die aber von den Versicherten allein zu tragen sind. Damit hat man sich vom Grundsatz der paritätischen Finanzierung endgültig verabschiedet.
  • Hinzu kommt eine weitere einseitige Belastung, in diesem Fall der Patienten unter den Versicherten – die Zuzahlungen. Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass Zuzahlungen nichts anderes bedeuten als das (teilweise) Vorenthalten einer Kostenerstattung durch die Krankenkasse. Und hier geht es nicht um Peanuts: Zuzahlungen von 3,6 Milliarden Euro sind für die Krankenkassen eine gewichtige Entlastung. Sie entspricht 0,3 Beitragssatzpunkten (vgl. dazu Belastung für Kassenpatienten). 
  • Und auch die an sich gute und richtige Idee, sogenannte „versicherungsfremde Leistungen“ der GJV über einen Bundeszuschuss und mithin aus Steuermittel zu finanzieren, ist hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung mehr als fragwürdig, denn zum einen ist die angesetzte Summe nach Ansicht vieler Kritiker viel zu niedrig und dann wurde die auch noch in den vergangenen Jahren als Steinbruch für Haushaltseinsparungen des Bundes zweckentfremdet. Das Bundesgesundheitsministerium schreibt selbst: »Seit 2012 betrug der Bundeszuschuss 14 Milliarden Euro. Zur Konsolidierung des Bundeshaushalts wurde der Bundeszuschuss 2013 auf 11,5 Milliarden Euro, 2014 auf 10,5 Milliarden und  2015 auf 11,5 Milliarden Euro vorübergehend abgesenkt. Ab 2016 beträgt der Bundeszuschuss wieder 14 Milliarden Euro und ist ab 2017 auf jährlich 14,5 Milliarden Euro festgeschrieben (Haushaltsbegleitgesetz 2014).

Und ein weiterer Punkt kommt jetzt hinzu: Die einseitige Finanzierung der vor uns liegenden Aufgabensteigerungen in der GKV nur über die Versicherten soll nun auch noch zusätzlich befeuert werden durch die Integration der Flüchtlinge in das GKV-System. So eine These ist gerade in diesen Tagen besonders begründungspflichtig. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Krankenkassen droht Milliardendefizit, so die Überschrift eines Artikels von Timot Szent-Ivanyi. Die Hauptthese des Beitrags kann so zusammengefasst werden:

»Der Bund überweist viel zu geringe Krankenkassenbeiträge für Flüchtlinge und andere Hartz-IV-Empfänger. Das so entstehende Loch müssen die gesetzlich Versicherten über höhere Zusatzbeiträge ausgleichen.«

Es wird behauptet, dass bereits in diesem Jahr eine Lücke von mehreren Hundert Millionen Euro entstehen wird, weil der Bund für Flüchtlinge und andere Hartz-IV-Empfänger viel zu geringe Krankenkassenbeiträge überweist. 2017 wird das Loch schon auf über eine Milliarde Euro anwachsen. Aber wie kann es dazu kommen? Die Argumentationskette geht so:

»Flüchtlinge werden in Bezug auf die Sozialsysteme nach einer Wartezeit von 15 Monaten normalen Arbeitnehmern gleich gestellt. Wenn sie keinen Job haben – was zunächst für die meisten Flüchtlinge gelten wird, haben sie Anspruch auf Arbeitslosengeld II (Hartz-IV). Sie erhalten zudem die vollen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die Beiträge an die jeweilige Kasse zahlt der Bund. Die Höhe der vom Bund übernommenen Beiträge ist aber nicht ansatzweise kostendeckend. Derzeit zahlt der Bund für jeden Hartz-IV-Empfänger rund 90 Euro im Monat. Zwar fehlen noch verlässliche Zahlen, wie hoch die von Flüchtlingen verursachten Gesundheitskosten tatsächlich sind. Es gibt allerdings erste Erfahrungswerte aus Hamburg, die von Kosten in Höhe von 180 bis 200 Euro im Monat ausgehen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird dieser Wert für realistisch gehalten. Dabei wird davon ausgegangen, dass viele Flüchtlinge traumatisiert sind und eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen.«

Folgt man dieser Argumentation, dann ergibt sich eine monatliche Lücke zwischen Beitrag und tatsächlichen Kosten um die 100 Euro oder etwa 1.200 Euro im Jahr. Wenn man das hochrechnet, dann kommt man zu der bereits erwähnten eine Milliarde Euro im kommenden Jahr: »Pro Hunderttausend Flüchtlinge entsteht so in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von 120 Millionen Euro im Jahr. Geht man davon aus, dass spätestens im Verlauf des Jahres 2017 eine Million Flüchtlinge die Wartezeit von 15 Monaten überschritten haben, dann wächst das Loch auf über eine Milliarde Euro.«

Man muss an dieser Stelle kurz innehalten und sich verdeutlichen, wo das eigentliche Problem zu liegen scheint: Irgendwie hat das was mit den Beiträgen zu tun, die für Menschen, die sich im Hartz IV-System befinden, von den Jobcentern an die Krankenkassen überweisen werden.
Hierzu führt Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel aus:

»Die vom Bund überwiesenen 90 Euro sind selbst für „normale“ Hartz-IV-Empfänger nicht kostendeckend. Bis Ende 2015 zahlte der Bund für jeden Hartz-IV-Empfänger 146 Euro im Monat. Mit diesem Betrag waren allerdings auch die Familienmitglieder abgedeckt. Da das Verfahren vor allem wegen der Familienversicherung zu kompliziert war, wurde es zu Beginn des Jahres umgestellt. Seitdem zahlt der Bund für jedes einzelne Familienmitglied den abgesenkten Betrag von 90 Euro. Die Hoffnung, dass die Umstellung für die Krankenversicherung kostenneutral ist, hat sich allerdings nicht erfüllt. Nach Informationen der FR verlieren die Kassen so gegenüber der alten Regelung 120 Millionen Euro im Jahr, Tendenz steigend.«

Der entscheidende Punkt lautet: »Die Kassen müssten also auch ohne die Zuwanderung ein wachsendes Defizit verkraften. Die Flüchtlinge verschärfen die Situation noch weiter.« Ganz genau müsste man formulieren: wenn die Flüchtlinge nach der angesprochenen 15-Monats-Frist im Hartz IV-System landen und dort wie jeder andere Hartz IV-Empfänger behandelt werden. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle: Durch die ja nicht wirklich sachlogisch begründete Absenkung der Beiträge für Menschen im Grundsicherungssystem (von vormals 146 auf nur noch 90 Euro) wird den Krankenkassen Geld entzogen, weil der Bundeshaushalt sich darüber entlasten kann – insofern ein „aktiver Beitrag“ der Hartz IV-Empfänger zur „schwarzen Null“ des Bundesfinanzministers. Nur dass das jetzt den GKV-Versicherten um die Ohren fliegt.

Dieser Artikel wird kontrovers diskutiert. So heißt es beispielsweise in der „Ärzte Zeitung“: Mehrkosten für die Kassen sind unklar. Denn die tatsächlichen Kosten für die Krankenkassen hängen davon ab, in welchem Umfang eine Integration in Erwerbsarbeit (nicht) gelingt. »Unklar sind bisher zudem die tatsächlich durch Flüchtlinge in der GKV entstehenden Gesundheitskosten. Hierzu liegen nur Erfahrungswerte etwa aus Hamburg vor. Danach sollen sich die Kosten auf 180 bis 200 Euro pro Monat belaufen. Zum Vergleich: Die durchschnittlichen Leistungskosten für alle GKV-Mitglieder lagen im Jahr 2014 bei rund 300 Euro pro Monat.« Dann wären die Flüchtlinge also „billiger“.
Was aber schlussendlich auch egal ist, denn auch in diesem Artikel wird das eigentliche Grundproblem erkannt und benannt – »der zu geringe Zuschuss, den der Bund für Bezieher von Arbeitslosengeld II (ALG II) an die Kassen zahlt.«

Und Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat in seinem Beitrag Stimmen die in der FR genannten Krankenkassenbeiträge für „Hartz-IV-Empfänger“? vom 17.02.2016 zu Recht darauf hingewiesen, dass der Betrag, der den Krankenkassen seitens des Bundes „vorenthalten“ wird, sogar noch größer ist als die Summe aus der Differenz zwischen den Kosten und dem Beitrag: Er hängt sich auf an den immer wieder genannten 90 Euro (ganz genau sind es 90,36 Euro pro Monat in 2016), die für jeden erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger und seit dem 1.1.2016 auch „für jedes Familienmitglied“ an die Kassen gezahlt werden. Das aber unterschlägt, dass dies nur für Familienmitglieder im Alter von 15 Jahren und älter (genauer: für „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“) gilt. Also nicht für die fast 1,7 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren. Wenn man die ins Visier nimmt und berechnet, was eigentlich an Beiträgen hätte fließen müssen, dann kommt Schröder zu dieser doch ganz beeindruckenden Summe: »Dies entspricht einem vom Bund „nicht gezahlten Krankenversicherungsbeitrag“ in Höhe von 1,8 Milliarden Euro pro Jahr!«

Insofern ist die folgende Klarstellung gerade in der aktuell sich immer mehr aufheizenden Debatte von besonderer Bedeutung (vgl. Krankenkassen soll Millionendefizit durch Flüchtlinge drohen – Bund dementiert):

»Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), nannte es „schlicht falsch“, dass Flüchtlinge Defizite der Krankenkassen verursachen. Für Asylbewerber würden den Kassen vollständig die Gesundheitsleistungen erstattet. Für Hartz-IV-Bezieher aber überweise der Staat den Kassen viel zu wenig, was alleine im vergangenen Jahr eine Unterdeckung von etwa 6,7 Milliarden Euro verursacht habe. Diese „politisch bedingten Einnahmeausfälle“ dürften jedoch nicht den Flüchtlingen in die Schuhe geschoben werden.«

Wenn man ein Fazit schreiben muss, wie wäre es hiermit:

»Hinsichtlich der Finanzierung muss man feststellen, dass sich der Staat zum einen wieder zurückzieht, was den steuerfinanzierten Bundeszuschuss angeht, obgleich doch diese Mittel immer begründet wurden mit dem Ausgleich für gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die seitens der GKV geleistet werden, also mit „versicherungsfremden“ Leistungen. Dies zeigt einmal erneut, wie (un)sicher Finanzierungszusagen seitens des Staates sind bzw. sein können. Zum anderen wird der gesamte zukünftige Kostenanstieg strukturell auf den Schultern der Versicherten abgelegt, die sich damit dann herumschlagen müssen, wodurch die Arbeitgeberseite in Milliarden-Höhe entlastet wird.«

Dieser Passus ist meinem Beitrag Und durch ist sie … Zum Umbau der Krankenkassenfinanzierung und den damit verbundenen Weichenstellungen entnommen. Veröffentlicht am 14.06.2014!

Was kann man nun aus diesem – scheinbaren – Durcheinander schlussfolgern?

Zum einen muss es darum gehen, die haushaltspolitisch kleingerechneten Beiträge für Menschen im Hartz IV-System für die GKV korrekt zu kalkulieren und den Kassen dann auch zugänglich zu machen. Denn auch wenn das zwangsläufig höhere Bundesmittel bedeuten würde – ein Verzicht darauf würde angesichts der hier auch beschriebenen Verschiebung der Lastenverteilung einseitig auf die Versichertenseite in der GKV dazu führen müssen, dass der dadurch induzierte Finanzbedarf der Krankenkassen von den Versicherten allein über die Zusatzbeiträge zu tragen ist.

Zum anderen zeigt sich an dieser Stelle die besondere Bedeutung einer grundsätzlichen Infragestellung des Systemwechsels weg von der paritätischen Finanzierung. Bereits Ende vergangenen Jahres hat sich bei einigen innerhalb der Großen Koalition, namentlich bei den Sozialdemokraten, eine Diskussion entfaltet, diesen Systemwechsel wieder rückgängig zu machen (vgl. dazu und durchaus kritisch mit Blick auf die Rolle der SPD bei der Installierung des gegenwärtigen Systems beispielsweise den Artikel SPD will Gesundheit nun doch wieder paritätisch finanzieren, dagegen für die andere Seite, die das ablehnt, den Kommentar Verlogene Beitragsdebatte von Andreas Mihm).

„Es ist ungerecht, dass die Kassensteigerungen allein von den Arbeitnehmern getragen werden“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley am ersten Weihnachtsfeiertag. Eilig mit einer Änderung hat es Barley aber offenbar nicht. „Wir werden sehen, ob wir das noch in der Großen Koalition thematisieren – aber spätestens in unserem Wahlprogramm werden wir dieses Vorhaben für die nächste Legislaturperiode aufgreifen“«, so ein Zitat aus dem Artikel Die Kassen bitten zur Kasse.

Unabhängig von der Frage der parteipolitischen Gemengelagen: Für eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der GKV gibt es gute sozialpolitische Argumente. Aber auch sie – so entfernt ihre Realisierbarkeit angesichts der Ablehnung bei Arbeitgebern und in der Union derzeit ist – würde nicht wirklich ausreichen, die GKV-Finanzierung wetterfester zu machen: Notwendig ist insgesamt eine völlige Neuordnung der GKV-Finanzierung hin zu einer umfassenden „Bürger“- oder wie man die auch immer nennen will – „versicherung“. Aber auf dieser Baustelle ruht der Betrieb. Was sich bitter rächen wird.

Das war ja zu erwarten. Krankenkassen wollen Fitnessdaten nutzen. Auf der Rutschbahn in eine Welt, die nur am Anfang nett daherkommen wird

Fundamentale Veränderungen kommen in aller Regel nicht in einem Rutsch, sondern schleichend fressen sie sich in das gesellschaftliche Gefüge, Schritt für Schritt, oftmals am Anfang garniert mit Heilsversprechen oder dem Hinweis auf Freiwilligkeit, so dass man sich ja entziehen könne, wenn man nicht mitmachen will. Und häufig mit einem positiv aufgeladenen Image, das sich verfestigen kann, bevor die Schattenseite der Medaille so richtig erkennbar wird. Und diejenigen, die frühzeitig warnen oder zweifeln, werden als Fortschrittsfeinde oder Berufspessimisten etikettiert.

Nehmen wir ein „hippes“ Beispiel aus der Apple & Co.-Welt dieser Tage: Der Fitnesstrend im Zusammenspiel mit einer technikverliebten Selbstüberwachung des eigenen Körpers, der Sucht, alles zu erfassen, abzuspeichern, in Zahlen auszudrücken. Ein ganz großes Wachstumsfeld der App-Ökonomie unserer Zeit. Und immer mehr Krankenversicherungen beginnen auf diesen Zug aufzuspringen – mit einer durchweg lebensbejahenden, mithin eigentlich nicht kritisierbaren Message: Wenn die Leute Sport treiben, dann ist das gesund, sie beugen Krankheiten und den damit verbundenen Kosten vor. Sie ersparen der Gesellschaft und den anderen Mitgliedern der Solidargemeinschaft unnötige Ausgaben. Und sie spiegeln die Sperrspitze der individualisierten Gesellschaft. Die sich um sich selbst kümmern, die anderen nicht zur Last fallen wollen. Wer kann was dagegen haben? Also kann es nur folgerichtig sein, diesen Trend zu verstärken, beispielsweise in dem man die Anschaffung von Fitness-Apps oder gar einer Apple Uhr monetär begleitet – bis hin zu dem Angebot, weniger Geld für die eigene Krankenversicherung zahlen zu müssen, weil man sich um seine eigene Gesundheit so vorbildlich kümmert. Die Ego-Krankenversicherung zeigt ihre ersten Umrisse, wohlig daherkommend in Gestalt günstiger Tarife.

Da stellt sich natürlich sofort die Anschlussfrage: Kann man denn den Versicherten auch trauen? Tun sie vielleicht nur so, als ob sie sich gesundheitsförderlich verhalten und betätigen? Messung, Kontrolle und dann Belohnung ist ein Dreischritt der zahlengetriebenen Welt, den wir auch aus anderen Zusammenhängen kennen. Und der wird sich Bahn brechen müssen in der Logik der herrschenden Systeme.

Bereits am 22. November 2014 wurde in diesem Blog der Beitrag Irgendwann allein zu Haus? Ein weiterer Baustein auf dem Weg in eine Entsolidarisierung des Versicherungssystems, zugleich ein durchaus konsequentes Modell in Zeiten einer radikalen Individualisierung veröffentlicht: »Wer gesund lebt, zahlt weniger für die Krankenversicherung: Erstmals bietet ein Konzern günstigere Verträge an, wenn Kunden nachweisen, dass sie Sport treiben und zur Vorsorge gehen. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail und das erste hier anzuführende Detail ist der „Nachweis“ des Lebensstils, der zu den Vergünstigungen berechtigt. Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe dafür künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil.« Das war damals Thema. Ein Beitrag über den Eisbrecher sozusagen.

Und schon damals wurde dieser Ansatz äußerst kritisch bewertet, gerade weil man gezwungen ist »angesichts des fortschreitenden radikalen Individualisierung zu konstatieren, dass es sich bei dem Ansatz von Generali um ein sehr passendes Projekt handelt. Immer stärker fällt die Fokussierung auf den Einzelnen, seine Eigenverantwortung, seine Selbsthilfe(potenziale) auf – damit aber auch die Kehrseite dieser Medaille, die vor allem daraus besteht, dass der einzelne Mensch „Schuld“ hat an dem, was im widerfährt, weil wenn er nicht geraucht hätte, wenn er regelmäßig Nordic Walking betrieben hätte, dann … Aber gerade im Gesundheitsbereich ist es eben nicht so einfach, man erkrankt auch trotz Fitnessübungen und man muss dann eingebettet sein in eine starke Gemeinschaft, die auch dann eine Menge umverteilen muss.«

Am 14. August 2015 wurde das dann aktualisiert mit dem Beitrag Schöne neue Apple-Welt auf der Sonnenseite der Gesundheitskasse? Ein Update zur schleichenden Entsolidarisierung des Versicherungssystems. Während es 2014 noch „nur“ um einen Vorstoß aus den Reihen der privaten Krankenversicherung ging, musste im vergangenen Jahr eine Diffusion in den Bereich der gesetzlichen Krankenkassen und damit in einen Kernbereich des Sozialversicherungssystems diagnostiziert werden. Da wurde beispielsweise von der AOK Nordost berichtet, die den Kauf einer Apple Watch bezuschusst. Und auch den Erwerb entsprechender Apps kann man sich subventionieren lassen.

Der angesprochene Diffusionsprozess in die Sozialversicherung hinein bekommt nun einen neuen Schub, gleichsam in doppelter Potenz: Techniker Krankenkasse will auf Fitnessdaten zugreifen, so ist ein Artikel dazu überschrieben. Die angesprochene doppelte Potenz stellt ab auf die Verknüpfung des Themas Überwachung des individuellen Verhaltens mit der höchst umstrittenen elektronischen Patientenakte: »Fitnessarmbänder liefern wichtige Informationen über den Gesundheitszustand ihrer Nutzer – die Techniker Krankenkasse hat nun vorgeschlagen, die Daten stärker zu nutzen.« Interessant wird es bei der Frage, wie das erfolgen soll.

Das folgende Zitat sollte man sich in aller notwendigen Ruhe durchlesen und vor allem durchdenken:

»Mit Schrittzählern, Geschwindigkeits- und Pulsmessern überprüfen viele Sportler ihre Fitness. Die Daten, die sogenannte Wearables erfassen, könnten aber auch für die Krankenkassen interessant sein: Wie gesund lebt ein Versicherter? Wie viel bewegt er sich? Wie fit ist er? Und in letzter Konsequenz: Soll er weniger Leistungen erhalten als andere? Der Chef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, hat nun …  den Vorstoß gewagt, die Informationen künftig stärker nutzen zu wollen. In einem Interview schlägt er vor, dass Daten von Fitness-Trackern künftig in der geplanten elektronischen Patientenakte gesammelt und von den Kassen verwaltet werden sollen.«

An dieser Stelle muss man sich in Erinnerung rufen, was da mit der elektronischen Patientenakte auf uns zu kommen wird:

»Das im Dezember verabschiedete E-Health-Gesetz der Bundesregierung sieht eine insgesamt stärkere Digitalisierung des Gesundheitswesens vor. Künftig sollen auf der elektronischen Gesundheitskarte viel mehr Patientendaten gespeichert werden, ab 2018 etwa Röntgenaufnahmen oder Ergebnisse von Blutuntersuchungen. In einem Patientenfach sollen Versicherte auch eigene Daten, etwa von Wearables und Fitness-Armbändern, ablegen können. Bisher ist geplant, dass die Patienten allein darüber entscheiden, wer Zugriff darauf hat.«

Jeder, der sich ein wenig auskennt in den (Un)Sicherheitsfragen des Internets, wird erschaudern müssen angesichts dieser Perspektiven. Die Ergebnisse von Blutuntersuchungen in einer Datei im Netz? Hallo? »Kritiker warnen, Hacker könnten die Informationen abgreifen oder manipulieren.« Das ist noch mehr als höflich formuliert. Wir wandern stolpernd aber sicher in den Überwachungskapitalismus, dessen Ausformungen sich viele schlichtweg nicht vorstellen können/wollen.

Dazu passt dann dieser Beitrag von Timot Szent-Ivanyi: Sorgloser Umgang mit Fitness-Trackern. Er schreibt:

»Fitness-Tracker, die den Puls messen oder Schritte zählen. Das ist bisher vielleicht Spielerei, aber weitere Funktionen sind denkbar oder bereits in der Entwicklung, wie die Messung der Körpertemperatur, des Blutdruckes  oder des Blutzuckerspiegels. Man muss kein medizinischer Experte sein um zu verstehen, dass sich aus diesen Daten nicht nur der körperliche Zustand sondern auch große Teil des Lebenswandels herauslesen lassen. Das weckt Begehrlichkeiten, aus denen die Industrie auch keinen Hehl macht.«

Und auch er legt den Finger in die offene, klaffende Wunde: »Der Patient soll die Hoheit über seine Daten behalten, wird stets versichert. Aber hat irgendjemand überhaupt einen Überblick, welche Daten Apps tatsächlich übertragen? Wird aus der Freiwilligkeit nicht ein Zwang, wenn Krankenversicherungen preiswerte Tarife nur gegen Aufgabe der Datenhoheit anbieten?«

Aber ist nicht schon die Rettung nahe? Der Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) will prüfen lassen, „die Verwendung bestimmter Gesundheitsdaten auf Grundlage des neuen EU-Datenschutzrechts einzuschränken“. Seine Meinung nach müssen die Bürger über sensible Daten „frei und selbstbestimmt“ entscheiden können. Und dann wird er so zitiert: „Mit dieser Freiheit ist es nicht weit her, wenn Krankenkassen Tarifmodelle entwickeln, bei denen Sie den günstigen Tarif nur dann bekommen, wenn Sie einwilligen, dass Ihre kompletten Gesundheitsdaten ständig übermittelt werden.“

Dazu Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel: »Das reicht aber noch nicht: Für Geräte und Apps, die sensible Informationen erfassen, muss es klare gesetzliche Regelungen geben. Wer nicht will, dass seine Daten weitergegeben werden, muss sich sicher sein können, dass sie das eigene Smartphone nicht verlassen.«

Wir befinden uns bereits auf einer ganz gefährlichen Rutschbahn. Und zum Abschluss eine Denksportaufgabe: Was hat das alles mit der gegenwärtig diskutierten Abschaffung des Bargelds zu tun? Die Dinge hängen mehr zusammen, als wir denken.

Hartz IV: Neue Regeln, zusätzliche Bürokratie. Keine Familienmitversicherung mehr für jugendliche Hartz IV-Empfänger. Eine Neuregelung mit Tücken

Seit Jahresbeginn gelten für Hartz-IV-Bezieher neue Regeln, die zusätzliche Bürokratie bedeuten. Konkret geht es um die Familienmitversicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Man kann es paragrafenlastig so darstellen: »Aufgrund der am 01.01.2016 in Kraft tretenden Teile des „GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsentwicklungsgesetz“ endet die bisherige Familienversicherung für ALG II Bezieher zum 31.12.2015. ALG II Bezieher (ab 15 Jahren; § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II), welche bisher aufgrund § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V i.V. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V beitragsfrei in der gesetzlichen Familienversicherung versichert waren (Ehegatte, Lebenspartner, Kinder und Kindeskinder von Mitgliedern), werden ab 01.01.2016 selbst versicherungspflichtig in der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.« Susan Bonath hat ihren Artikel dazu so überschrieben: Schluss mit Familienversicherung. Krankenkassen: Neues Sonderrecht für jugendliche Hartz-IV-Bezieher. Experten warnen vor Tücken. Besonders betroffen von der Neuregelung »sind Jugendliche ab dem vollendeten 15. Lebensjahr beziehungsweise ihre Eltern. Egal ob die jungen Leute noch zur Schule gehen oder eine Ausbildung machen – sie müssen sich von nun an selbst krankenversichern. Denn der Vorrang der Familienversicherung bei den Krankenkassen gilt für Hartz-IV-Bezieher nicht mehr.«

Angeblich will man durch diese Neuregelung den Prüfaufwand der Jobcenter reduzieren und auch für die nun selbst zu versichernden Personen wird der Mindestbeitrag übernommen. Aber: Das dürfte zum einen weitaus höhere Kosten verursachen als bisher. Und zum anderen birgt die neue Sonderregel für Leistungsbezieher erhebliche Tücken.

Für die Krankenkassen stellt sich die Neuregelung ambivalent dar: Zum einen bekommen sie nun so einige neue Versicherte und damit mehr Einnahmen, auf der anderen Seite wurde gleichzeitig der monatliche Pauschalbeitrag pro Kopf abgesenkt, von »etwa von 120 bis 140 auf unter 100 Euro«, so wird eine Sprecherin des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in dem Artikel zitiert.

Aber wo liegen denn nun mögliche Tücken, wenn doch – unabhängig von der für die Kassen relevanten Frage einer Kostendeckung durch die konkrete Höhe des Pauschalbetrags – der jugendliche Hartz IV-Empfänger selbst versichert sein muss, der Beitrag aber von den Jobcentern übernommen wird?

»Solange ein Leistungsberechtigter Hartz IV auch bekomme, müsse er sich keine Sorgen machen. Kritisch werde es aber, wenn etwa ein Jugendlicher zu 100 Prozent sanktioniert wird. Das kann unter 25jährige seit 2007 bereits beim zweiten »Fehlverhalten« treffen.«

Und diese Fälle gibt es durchaus (vgl. dazu den Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die „entkoppelten Jugendlichen“ vom 11.06.2015).

Und was dann? Claudia Mehlhorn wird in dem Artikel von Bonath mit diesen Worten zitiert: »Ich kann jedem Betroffenen nur raten, sofort zum Jobcenter zu gehen und mindestens einen Lebensmittelgutschein pro Monat zu beantragen«. Denn nur in diesem Fall setze das Amt die Zahlung der Beiträge wieder in Gang. Werden die Essensmarken nicht beantragt, dann meldet das Amt Betroffene einfach bei der Krankenkasse ab.

Abr es gibt doch die 2013 vom Gesetzgeber eingeführte „obligatorische Anschlussversicherung“, die dann automatisch greift?

Im Prinzip ja, aber:

»Die Kassen schicken Betroffenen nach der Abmeldung einen Einkommensfragebogen, den sie zwingend ausfüllen müssen, auch wenn sie vom Betteln oder Flaschensammeln leben«, erläuterte Mehlhorn. Nur so werde ein Anspruch auf Familienversicherung geprüft. Liegt dieser nicht vor, etwa bei Alleinstehenden oder elternlosen Jugendlichen, müssten die Sanktionierten den Mindestbeitrag für freiwillig Versicherte von rund 165 Euro selbst aufbringen. Noch viel drastischer treffe es jene, die nicht auf das Schreiben mit dem Fragebogen reagieren, sagte die Expertin. »Sie werden mit dem Höchstbeitrag eingestuft, das sind um die 700 Euro.« Sei man erst einmal in ein Mahnverfahren gerutscht, käme man aus der Nummer nicht wieder heraus.«

Und wenn man die Betroffenen schon mal in die Untiefen der Sozialbürokratie schickt, dann „richtig“. Harald Thomé weist auf das (mögliche) Problem steigender Zusatzbeiträge hin. Wenn diese über dem Durchschnittswert – 2015 waren das laut GKV-Spitzenverband 0,83 Prozent – liegen, dann übernimmt das Jobcenter die Mehrkosten nicht. Wenn Betroffene das Geld nicht vom Regelsatz abzweigen wollen/können, müssten sie sich nach einer neuen, günstigeren Krankenkasse umsehen. Das muss man natürlich auch alles wissen und mitbekommen, wann welche Schwellenwerte überschritten werden.

Zyniker werden an dieser Stelle einwerfen: Zeit genug haben die Betroffenen ja.

100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Und was sagen die Ärzte zu den Vorschlägen des Sachverständigenrats, die das ja mit den Patienten umsetzen müssten? Die Idee haut Ärzte nicht vom Hocker, so haben Anno Fricke und Jana Kötter ihren Beitrag dazu überschrieben. Sie sehen nicht, wie sich die Teil-AU in der Praxis umsetzen lassen könnte. Hier einige Stimmen, die in dem Beitrag zitiert werden:

„Eine an sich vernünftige Idee“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, der „Ärzte Zeitung“. Dann jedoch folgte das große Aber: Die Umsetzung dürfte für Ärzte eine enorme, zusätzliche Last bedeuten, weil Arzt und Patient über den Prozentsatz des Restleistungsvermögens diskutieren müssten, sagte Weigeldt.

„Kein Vorschlag, der bis zum Ende durchdacht ist“, lautete auch die erste Einschätzung von Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbands Deutscher Internisten (BDI). Krankheit habe eine objektive und eine wenig konstante subjektive Komponente. Hier zu objektivieren sei nicht möglich. Die Empfehlung des Sachverständigenrates sei geeignet, Ärzte in ein Verhandlungsgeschäft mit den Patienten zu treiben, für das es keine Kriterien gebe, sagte Wesiack der „Ärzte Zeitung“.

Es bestünden erhebliche Unterschiede zwischen einem Sachbearbeiter, einem Dachdecker und einem Piloten, sagte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Veit Wambach. Nicht alle Arbeitnehmer könnten gleichermaßen teilgesund geschrieben werden. „Unsere Gesellschaft muss sich fragen, was schwerer wiegt: die ökonomische Leistungsfähigkeit der Arbeitswelt oder Arbeitnehmerschutz und Patientenwohl.“

Immer wieder hervorgehoben werden (mögliche bzw. erwartbare) Probleme in der Rechtssicherheit. Schon heute sei es für einen praktizierenden Arzt „gar nicht möglich, etwa in einem BU/EU-Gutachten rechtssicher genaue prozentuale Abstufungen des verbliebenen Leistungsvermögens vorzunehmen“, wird ein Arzt zitiert.

Vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik und Ablehnung ist es natürlich interessant, was die Urheber dieser Diskussion an Argumenten für ihren Vorschlag vortragen. Hierzu hat die Ärzte Zeitung ein Interview mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Ferdinand Gerlach, geführt: „Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern“, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.

Einleitend verweist Gerlach darauf, dass es das Modell einer Teil-AU auch bei uns schon längst geben würde:

»Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt. Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.«

Bei dem von ihm angesprochenen „Hamburger Modell“ geht es um eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben: Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung ist es, Beschäftigte unter ärztlicher Aufsicht wieder an die volle Arbeitsbelastung zu gewöhnen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Grundsätzlich haben alle Beschäftigten nach längerer Krankheit Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung durch die Kranken- oder Rentenversicherung. Allerdings gibt es Abweichungen zu den Vorschlägen der Sachverständigen, denn die fordern in ihrem Modell einer Teil-AU die Zahlung eines Teil-Krankengeldes. Das ist im Fall der Rehabilitation anders: Beschäftigte beziehen während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld in voller Höhe. Es gelten dieselben Voraussetzungen, die auch für Zahlung von Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit gelten. Bei der Rentenversicherung wird Übergangsgeld gezahlt.

Aber wieder zurück zur Argumentation von Gerlach für die neuen Vorschläge. Er verweist auf vorliegende internationale Erfahrungen:

»In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.«

Er betont die Freiwilligkeit der Teil-AU, denn sie »soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.«
Und für wen könnte das neue Modell passen?

»Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.«

Angesprochen auf die beiden häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen, Rückenbeschwerden und psychische Störungen, argumentiert Gerlach so:

»… in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auch angesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.«

Aus sozialpolitischer Sicht interessant ist natürlich der Vorwurf, hier gehe es nur darum, auf Kosten der Arbeitnehmer zu sparen, was auch durch den Auftrag an den Sachverständigenrat verstärkt wird, denn die Bundesregierung wollte Vorschläge haben, wie man den starken Anstieg der Krankengeldausgaben der Kassen eindämmen kann. Hier verweist Gerlach darauf, dass das nicht der Fall sei, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Verbesserung für den Arbeitnehmer erreicht werden könne:

»In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.«

Und das Modell des Sachverständigenrates sieht ja vor, dass Krankengeld nur noch als Teil-Leistung für die Teil-AU geleistet wird, während für die Zeit, wo gearbeitet wird, der Arbeitgeber Zahlen muss. Man muss aber genauer hinschauen: Eine Verbesserung im Vergleich zum heutigen „Hamburger Modell“ kann man schon erkennen, keine Frage. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrates mit der Teil AU zielen ja vor allem darauf, von Anfang an mit diesem Instrumentarium einer Teil-Kranzschreibung zu arbeiten, also auch in den ersten sechs Wochen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch haben auf volle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers. Wenn man jetzt von Anfang an zu 50 Prozent krank geschrieben wird, dann bekommt man natürlich auch nur 50 Prozent volle Lohnfortzahlung, aber 50 Prozent reduziertes Krankengeld – und muss zugleich noch 50 Prozent arbeiten, so bereits der Hinweis in meinem ersten Blog-Beitrag zu den Vorschlägen.

Aber auch Gerlach sieht diese Problematik und benennt sie auch – er differenziert die „Gewinner und Verlierer“-Bewertung entlang der Scheidelinie einer AU, die in die ersten sechs Wochen mit Lohnfortzahlungsanspruch fällt und eine AU, die darüber hinaus andauert:

»Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.«