Die Jugendämter auf verlorenem Posten? Eine neue Studie zu einem alten Problem

Schon seit Jahren eine never-ending-story: Die Personalnöte in vielen Jugendämtern – und das bei steigenden Fallzahlen sowie Aufgaben, die nicht selten mit vielen Emotionen und Aggressionen verbunden sind. Zugespitzt formuliert: Selbst unter Normalbedingungen kann das Jugendamt nur „falsch“ handeln. Nehmen wir das Beispiel Kinderschutz. Die einen beklagen, dass die Kinder zu spät oder gar nicht aus Familien, in denen sie Schaden nehmen, herausgenommen werden. Die anderen titulieren die Jugendämter als „Kinderklaubehörde“ und behaupten, ganze Familien werden ungerechtfertigterweise auseinandergerissen.

Unabhängig von solchen extremen Positionen kann man festhalten, dass es sich um eine schwierige, belastende und überaus fordernde Arbeit handelt, die in den Jugendämtern, vor allem in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD), geleistet werden muss. Und das unter häufig überaus problematischen Rahmenbedingungen.

Ein Hotspot des seit Jahren immer wieder beklagten Fachkräftemangels und der schieren Personalnot sind die Jugendämter in Berlin. Jede achte Stelle ist nicht besetzt, in manchen Bezirken sogar jede fünfte. In den sozialen Diensten, die auch für den Kinderschutz zuständig sind, fehlen rund 100 Mitarbeiter. Das wirkt sich nicht nur auf die Familien, sondern auch direkt auf die Schulen aus. „Das Jugendamt kann sich nicht kümmern“, ist längst eine feste Redewendung unter Schulleitern, wenn es beispielsweise um renitente Schwänzer, Störer oder Schulabbrecher geht. Das ist nicht neu, sondern man kann das diesem Beitrag entnehmen, der hier am 27. Januar 2017 veröffentlicht wurde: Die Großen fehlen, die Kleinen bleiben auf der Strecke. Personalnot (nicht nur) in den Jugendämtern in Berlin. Und im März dieses Jahres berichtete Susanne Vieth-Entus in ihrem Artikel Immer mehr gefährdete Kinder, immer weniger Kinderschützer aus der Hauptstadt: »Die Zahl der gemeldeten Kinderschutzfälle hat sich seit 2012 verdoppelt. Doch die Jugendämter leiden unter Personalmangel. Jetzt schlagen die Mitarbeiter Alarm.«

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Der real existierende Fachkräftemangel lässt sich hier besichtigen: Personalmangel in vielen Kindertageseinrichtungen schon unter den herrschenden Bedingungen

War da nicht mal was vor einiger Zeit? Nein, nicht die Griechenland-Debatte, die war auch mal und ist jetzt irgendwie weg, sondern sozial- und bildungspolitisch hoch relevant für das tägliche Leben der normalen Menschen die Debatte über einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr und der Fachkräftemangel in den Kindertageseinrichtungen. Erst diese Tage wieder gab es mal ein kurzes Aufflackern, als in den Medien berichtet wurde, dass einige Verbände immer noch ein Bundesqualitätsgesetz für den Kita-Bereich fordern und die Studie eines renommierten Verfassungsrechtlers habe ergeben, dass der Bund das auch machen dürfte – wenn er denn wollte.

Aber dieser Bericht aus der Boom-Stadt München verdeutlicht, wo die realen Probleme liegen, gerade in den (groß)städtischen Räumen liegen, in denen der Bedarf an Kindertagesbetreuung besonders groß ist (und zugleich weiter ansteigt): Es fehlt vorne und hinten an Personal – wohlgemerkt zu den heutigen Bedingungen, also zu Personalschlüsseln, die in der Fachdiskussion gerade bei den kleinen Kindern als eindeutig zu schlecht gebrandmarkt werden.
Später offen, früher zu, so hat Melanie Staudinger ihren Artikel in der Süddeutschen Zeitung überschrieben.

Oder mit ein paar Zahlen: »Zwei Dutzend Kindertagesstätten müssen ihre Betriebszeit einschränken, weil mehr als 160 Erzieherstellen derzeit unbesetzt sind.«

Da gibt es beispielsweise eine städtische Kita, die bereits nachmittags früher zumacht, »weil Mitarbeiter fehlen. Vier Vollzeit- und drei Teilzeitkräfte kümmern sich um 60 Kinder, bis auf Weiteres dürfen sie keinen Urlaub nehmen. Das sei „eine Bankrotterklärung der Personalpolitik der Stadt München“, schimpft ein betroffener Vater.« Und die Eltern bekamen dann noch einen Brief, dass sie besonders darauf achten sollten, kein krankes Kind in die Kita zu bringen, weil wenn nur noch eine Mitarbeiterin ausfällt, dann müsse man eine Teilschließung der Einrichtung vornehmen.
Offensichtlich kein Einzelfall, denn seitens der Stadt wird ausgeführt:

»Nach Angaben des städtischen Bildungsreferats arbeiten derzeit 23 der gut 400 kommunalen Kindertagesstätten mit reduzierten Öffnungszeiten. Das bedeutet, dass sie morgens um bis zu 60 Minuten später öffnen oder nachmittags bis zu eine Stunde eher schließen. Insgesamt seien 164,5 der gut 3000 Stellen für Erzieher bei der Stadt unbesetzt.«

Wenn bei so einer Ausgangslage weitere, z.B. krankheitsbedingte Ausfälle oder Fluktuationen hinzukommen, dann kann man die nicht mehr, auch nicht irgendwie kompensieren.
Und die angespannte Ist-Situation trifft auf eine steigende Nachfrage, berichtet Staudinger:

»Die Stadt wie auch alle freien, sonstigen und privaten Träger stehen vor einem Dilemma: Sie müssen das Betreuungsangebot weiter ausbauen. In München etwa entstehen bis Ende 2016 knapp 2000 Plätze für Kinder unter drei Jahren und 2400 Plätze im Kindergartenbereich. Gleichzeitig aber fehlen Erzieher.«

Die Stadt als Arbeitgeber versucht vieles, um den Mangel zu beheben: »2015 seien 340 Erzieher und 231 Kinderpfleger, also insgesamt 671 Beschäftigte, in den städtischen Einrichtungen eingestellt worden. Im Vergleich zum Vorjahr seien das 33 mehr gewesen, was unter anderem an der Einführung der Arbeitsmarktzulage liegen könnte.« Mit Arbeitsmarktzulage ist gemeint, dass die Stadt seit November 2014 ihren Erzieherinnen monatlich einen Bonus von 200 Euro brutto gewährt, wegen der hohen Lebenshaltungskosten.

Im laufenden Jahr will die Stadt mindestens 490 Erzieher und 160 Kinderpfleger einstellen. Erstmals soll eine „Recruitingmesse“ für pädagogisches Personal Werbewellen ausstrahlen.
»Zudem übernimmt die Stadt die Kosten von Deutschkursen für das Erziehungspersonal, hat die Mittel für das Freiwillige Soziale Jahr angehoben, eigene Ausbildungskapazitäten erhöht sowie alternative Ausbildungswege, etwa das Assistenzkräftemodell, geschaffen«, berichtet Melanie Staudinger über die vielfältigen Aktivitäten der Stadt.

Und wieder einmal geht es erst einmal nur um Quantitäten und die dann auch noch mal bezogen auf die bestehenden und von vielen als bereits defizitär beklagten Strukturen. Aber ging es bei den Debatten nicht auch immer um die „gute Qualität“ der frühkindlichen Bildung und Betreuung und dass man – um die sicherstellen zu können – eigentlich mehr Personal als heute zugewiesen bräuchte? Was dann natürlich den Personalbedarf weiter nach oben treiben würde.

Dazu einer der betroffenen Eltern mit Blick auf das Hier und Jetzt:

»Von einer guten Betreuung wolle er gar nicht mehr sprechen, erklärt der Vater aus dem städtischen Kindergarten. Damit meint er die Gesamtsituation, die einzelnen Mitarbeiter nämlich würden sich „ein Bein ausreißen“, um ihren Aufgaben nachzukommen.«

Eines ist sicher: München ist hinsichtlich der beschriebenen Problematik sicher kein Solitär in der bundesdeutschen Kita-Landschaft, vielleicht deshalb ein etwas verzerrtes Beispiel, weil die von städtischer Seite im Vergleich zu anderen Kommunen schon immer mehr getan haben und auch mit engagierten Konzepten die Arbeit zu fundieren versucht haben.

Wer wissen will, was real existierender Fachkräftemangel bedeutet, wird bei diesem Thema mehr als fündig.

Nun kann man argumentieren, dass das in München sicher ein Problem ist und in vielen anderen Großstädten auch, während es in anderen Regionen anders aussieht. Das ist grundsätzlich richtig, die regionale, zuweilen gar lokale Streuung ist in diesem Fall – wie meistens bei Mismatch-Fragen auf den Arbeitsmärkten – enorm.

Wer allgemeine Informationen sucht, der könnte hier fündig werden: Die beim Deutschen Jugendinstitut (DJI) angesiedelte Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) veröffentlicht regelmäßig ein Fachkräftebarometer Frühe Bildung: Auf der Startseite wird man mit dieser Aussage begrüßt: „Kindertageseinrichtungen sind ein boomender Arbeitsmarkt“. Wohl wahr. Man werfe nur einen Blick auf die Abbildung, die einen ersten Eindruck vermitteln kann, mit welcher Expansion – gemessen an den in Kindertageseinrichtungen tätigen Personen – wir es zu tun haben.
Auf dieser Seite findet man auch das Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2014 als Veröffentlichung.

Das sich die Fachkräftemangelsituation zuspitzt und angesichts des Leerlaufens der Reserven, aus denen man die enorme Expansion des eingesetzten Personals in den zurückliegenden Jahren hat abdecken können, weiter an Schärfe gewinnen muss (ohne den zusätzlichen Personalbedarf angesichts der eigentlich notwendigen Verbesserungen des Personalschlüssels hier überhaupt zu berücksichtigen), wurde vor genau einem Jahr in diesem Blog-Beitrag ausführlich unter die Lupe genommen: Erzieher/innen verdienen mehr. Tarifpolitik für und mit den Kita-Beschäftigten: Gut gemeint, aber mit welchem Risiko? vom 19. Januar 2015.

Natürlich stellt sich auch hier die Frage, was denn getan werden könnte bzw. müsste, um das besser und en Griff zu bekommen. Nun muss man fairerweise darauf hinweisen, dass die Deckung des Personalbedarfs im Bereich der Kindertagesbetreuung – zu der übrigens auch die Kindertagespflege gehört – ganz überwiegend eine regionale Angelegenheit ist, auch und gerade, was die Ausbildung neuer Fachkräfte angeht, denn man kann hier nun nicht wirklich von bundesweiter Mobilität ausgehen. Daraus resultieren sehr schwierige regionale Planungsfragen beispielsweise die Ausbildungskapazitäten betreffend. Das kann und soll hier abschließend nicht aufgerissen werden. Aber wenn man die berechtigten Forderungen nach zusätzlichem Personal und einer notwendigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Rechnung stellt, dann wird ein echter Schritt nach vorn angesichts der Tatsache, dass die Kommunen immer noch der Hauptkostenträger sind in diesem wichtigen Feld, nur gelingen, wenn man wie seit Jahren immer wieder gefordert die Finanzierungsarchitektur dergestalt verändert, dass der Bund in eine regelgebundene anteilige Finanzierung der Betriebskosten eingebunden wird.

Finanztechnisch ließe sich das beispielsweise mit dem von mir vorgeschlagenen KiTa-Fonds realisieren (vgl. ausführlicher dazu Stefan Sell: Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen. Das Modell eines „KiTa-Fonds“ zur Verringerung der erheblichen Unter- und Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung in Deutschland. Remagener Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 07-2014, Remagen 2014). Aber darf der Bund das überhaupt? Und darf er beispielsweise über ein von vielen gefordertes Bundesqualitätsgesetz Vorgaben machen, was die notwendigen Personalschlüssel in den Kitas angeht? Er darf, so jedenfalls das Fazit eines Gutachtens, das der renommierte Verfassungsrechtler Joachim Wieland erstellt hat. Dazu aus der Pressemitteilung der Verbände, die das Gutachten in Auftrag gegeben haben:

Ein Bundesqualitätsgesetz für Kitas ist möglich: Der Bund verfüge über die notwendige Gesetzgebungskompetenz, die Länder seien für die Umsetzung zuständig. Zu diesem Ergebnis kommt ein Rechtsgutachten von Prof. Joachim Wieland von der Universität für Verwaltungsrecht Speyer, das er heute im Rahmen einer Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt hat. Eine bundesgesetzliche Regelung sei erforderlich, um gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen sowie die Rechts- und Wirtschaftseinheit in Deutschland zu wahren, erklärte Wieland. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) hatte die Expertise in Absprache mit dem Deutschen Caritasverband (DCV) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Auftrag gegeben. „Rechtlich ist damit der Weg frei für ein Bundesqualitätsgesetz“, stellen die drei Organisationen fest. „Jetzt ist der politische Wille von Bund, Ländern und Kommunen erforderlich, um die Qualität in den Kindertageseinrichtungen in den Vordergrund zu rücken“, unterstreicht der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer.
Wolfgang Stadler, Vorstandsvorsitzender der AWO, sagt: „Vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Kindern mit Fluchterfahrung ist die qualitative Verbesserung der Rahmenbedingungen jetzt unerlässlich. Denn frühkindliche Betreuungsangebote können den Grundstein für eine erfolgreiche Integration legen. Diese Chance gilt es zu nutzen.“ GEW-Vorsitzende Marlis Tepe betont, dass Kinder pädagogische Fachkräfte brauchten, die durch bessere Rahmenbedingungen entlastet werden, um die gesellschaftlichen Anforderungen erfüllen zu können: „Dazu gehören eine bessere Fachkraft-Kind Relation, ausreichende Vor- und Nachbereitungszeit für pädagogische Fachkräfte, hinreichende Freistellung von Kita-Leitungen sowie Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Für die finanzielle Absicherung dieser Qualitätsstandards müssen Bund, Länder und Kommunen an einem Strang ziehen.“

Das Gutachten im Original:

Joachim Wieland: Ein Bundesqualitätsgesetz – verfassungsrechtlicher Rahmen. Rechtsgutachten für den Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Speyer, 18.12.2015

Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig

Auch wenn es übertrieben formuliert erscheint: Wir stehen vor einem historischen Moment. Weit über 90 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder von ver.di und GEW und auch denjenigen, die im Deutschen Beamtenbund organisiert sind, haben sich für einen unbefristeten Arbeitskampf ausgesprochen. Wir sprechen hier von Erzieher/innen und anderen Beschäftigten der kommunalen Kindertageseinrichtungen. Die Medienmaschinerie läuft an und produziert überall solche Meldungen: Ab Freitag bleiben viele Kitas zu: »Rund 150 Kitas werden am Freitag in Rheinland-Pfalz geschlossen bleiben. Schwerpunkte sind die Regionen Koblenz, Rheinhessen mit Mainz und die Pfalz.« Die Streiks in Rheinland-Pfalz sollen nach und nach ausgeweitet werden. Am Dienstag, dem 12. Mai, wird es einen landesweiten Streiktag geben, zu dem alle Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst bei den Kommunen aufgerufen werden. So oder ähnlich kann man es aus vielen Regionen Deutschlands hören und lesen. Der Streik ist unbefristet und kann nach Angaben der Gewerkschaften mehrere Wochen dauern. Sie fordern eine finanzielle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe unter anderem durch eine deutlich höhere Eingruppierung. Der nun anlaufende Kita-Streik ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil mit ihm mehrere „Systemfragen“ verbunden sind.

Den Gewerkschaften geht es um eine deutliche Anhebung der Vergütungen für die Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, wobei das Besondere darin besteht, dass nicht eine prozentuale Erhöhung der gegebenen tariflichen Vergütung gefordert wird, sondern die Fachkräfte sollen um mehrere Stufen nach oben gehoben werden. In der Gesamtschau würde das Vergütungsniveau um 10 % ansteigen müssen, die betroffenen Kommunen bzw. ihre Spitzenverbände geben an, dass dies Mehrkosten in einer Bandbreite von 500 Mio. bis 1,2 Milliarden € zur Folge hätte.

Zur Begründung für diesen erheblichen Vergütungssprung wird vor allem auf zwei Aspekte verwiesen: Zum einen sei das Aufgabenprofil der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren erheblich ausgeweitet wie auch vom Anspruch her gesehen angehoben worden. Dies stellt vor allem auf die Tatsache ab, dass die Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren, vor allem seit der Rezeption der Pisa-Ergebnisse, zu Bildungseinrichtungen deklariert worden sind (die sie auf dem Papier schon immer waren, denn das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also das SGB VIII, spricht seit jeher von dem frühpädagogischen Dreiklang aus Bildung-Betreuung und Erziehung). Aber unbestreitbar ist, dass sich seit dem vergangenen Jahrzehnt sowohl die Erwartungen der Politik an die Kindertageseinrichtungen hinsichtlich des Bildungsauftrags nach oben verschoben haben (so gibt es in allen Bundesländern so genannte Bildungspläne bzw. Bildungsempfehlungen für die Kitas), wie aber auch auf Seiten eines (wachsenden) Teils der Eltern, die sehr viel Wert legen auf die Bildungselemente in der frühpädagogischen Arbeit. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer intensiven Auseinandersetzung über die Bedeutung der ersten Lebensjahre vor dem Schuleintritt für die weitere Bildungslaufbahn der Kinder und in jeder Sonntagsrede zu diesem Thema wird das besonders hervorgehoben.

Hinzukommt unbestreitbar eine erhebliche Veränderung der Belastungsprofile der Arbeit der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen. Dies zum einen dadurch, dass in den vergangenen Jahren, vor allem in Westdeutschland, immer mehr jüngere Kinder in die Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (müssen), die ganz andere Anforderungen an die Arbeit der Fachkräfte stellen hinsichtlich der Betreuungsintensität wie auch der Bildungsaufgaben, die dieser Altersgruppe angemessen sind. Hinzu kommt eine deutliche Zunahme der Ganztägigkeit, also immer mehr Kinder, die anders als früher nicht nur vier oder fünf Stunden in der Einrichtung verbleiben, sondern teilweise sieben Stunden oder noch länger.

Vor diesem Hintergrund wird derzeit argumentiert, dass das Niveau der Vergütung der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen, das tatsächlich im Vergleich über alle Bildungsstufen derzeit am niedrigsten ist, eigentlich auf das Niveau der Grundschullehrer angehoben werden müsste. An dieser Stelle ist eine erste „Systemfrage“ zu diagnostizieren: Eine Umsetzung dieser Forderung würde unweigerlich zu einem Konflikt innerhalb der bestehenden Hierarchie der gegebenen Ausbildungssysteme führen, denn die Kritiker dieser Forderung verweisen sofort darauf, dass die – sicherlich sehr anspruchsvolle und teilweise bis zu fünf Jahre umfassende – Ausbildung der Erzieherinnen als eine fachschulische Ausbildung nicht vergleichbar sei mit dem Studium, dass Grundschullehrer zu absolvieren haben. Die überaus ausgeprägte Hierarchie unseres Ausbildungssystems wird dann daran erkennbar, dass die im Vergleich geringere Vergütung der Grundschullehrer gegenüber den Lehrern an weiterführenden Schulen ebenfalls damit begründet wird, dass sie nicht das gleiche Studium wie beispielsweise ein Gymnasiallehrer absolviert haben. Insofern wird hier zum einen grundsätzlich die Ausbildungsfrage aufgeworfen, zum anderen bekommen wir hier ein wenig Licht in das „Schattendasein“ der fachschulischen Ausbildung in Deutschland, die neben der üblicherweise im Mittelpunkt der Diskussion stehenden „dualen Ausbildung“ sowie der an Hochschulen steht. Die fachschulische Berufsausbildung, zu der beispielsweise auch die meisten Gesundheitsberufe gehören, ist eine Domäne der Frauen.
Insofern wird hier auch als eine weitere „Systemfrage“ die Diskussion über den Stellenwert und die Ausgestaltung „typischer“ Frauenberufe aufgeworfen.

Aber damit noch lange nicht genug. Der nun anlaufende unbefristete Kita-Streik wirft zugleich eine fundamentale „Systemfrage“ auf, die sich zugleich als zentrale „Achillesferse“ des Kita-Streiks erweisen könnte, wenn man sie nicht mitdenkt bzw. parallel adressiert: die Finanzierungsfrage der – teilweise völlig unterschiedlich ausgestalteten – Kita-Finanzierungssysteme in den Bundesländern.

Vereinfachend und zuspitzend formuliert: Die derzeit bestehenden Finanzierungssysteme der Kindertageseinrichtungen in den einzelnen Bundesländern weisen trotz aller Unterschiede Zwei zentrale Schwachstellen auf. Zum einen müssen wir von einer erheblichen Unterfinanzierung des Kita-Systems ausgehen. Schon vor vielen Jahren hat die Wirtschaftsorganisation OECD als Soll-Vorgabe für eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Elementarbereichs einen Wert in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes der jeweiligen Volkswirtschaft vorgegeben, in Deutschland kommen wir derzeit auf etwa 0,6 %. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „Wünsch dir was“-Größe, sondern skandinavische Länder erreichen diese Größenordnung und auch unser Nachbarland Frankreich kommt in die Nähe dieses Werts. Anders ausgedrückt: In Deutschland müssten mehrere Milliarden Euro zusätzlich zu den bereits getätigten Ausgaben aufgewendet werden, um nach diesen Maßstäben eine angemessene Finanzausstattung erreichen zu können.

Neben der Unterfinanzierung von besonderer Bedeutung gerade auch mit Blick auf den nun anlaufenden großen Kita-Streik ist die eklatante Fehlfinanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung in Deutschland.  Diese Finanzierung lässt sich vereinfachend so beschreiben: Über alle Bundesländer hinweg tragen die Kommunen mindestens 60 % der Kosten der Kindertagesbetreuung. Betrachtet man nun auf der anderen Seite die monetär bezifferbaren Nutzen aus der Kindertagesbetreuung, vor allem in Form der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, die nicht nur von den Beschäftigten im Kita-System generiert werden, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Eltern, vor allem die Mütter, durch die Bereitstellung dieser Infrastruktur überhaupt erst in die Lage versetzt werden, einer Teilzeit- oder gar Vollzeitbeschäftigung nachgehen zu können, aus der wiederum Steuern und Sozialversicherungsbeiträge generiert werden,  dann wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Hauptnutznießer auf der Ebene des Bundes und vor allem der Sozialversicherungen zu verrotten sind. Würde man nun ein rationales Finanzierungskonzept zugrundelegen, dann müssten diese Hauptnutznießer auch entsprechend an der Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (sowie der Kindertagespflege, die in der Diskussion oftmals vergessen wird) beteiligt werden. Das ist heute aber keineswegs der Fall, der Bund ist erst seit einigen Jahren an der Finanzierung vor allem des Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter dreijährigen Kinder beteiligt. Die Sozialversicherungen überhaupt nicht. Seit Jahren wird vor diesem Hintergrund eine regelgebundene anteilige Finanzierung der Betriebskosten der Kindertageseinrichtungen (sowie der Ausgaben für die Kindertagespflege) seitens des Bundes gefordert. Entsprechende Modelle, wie man das umsetzen kann, beispielsweise in Form eines Kita-Fonds  sind in den vergangenen Jahren ausgearbeitet worden. Es fehlt schlichtweg der politische Wille, diesen Ansatz umzusetzen.

Vor dem Hintergrund der Forderung der Gewerkschaften und der Lage vieler Kommunen in Deutschland, die sich beispielsweise unter der Haushaltssicherung befinden und mit einer enormen Verschuldung konfrontiert sind, wird schnell erkennbar, das die zentralen und durchaus berechtigten Forderungen der Gewerkschaften, die Vergütungen deutlich anzuheben, in diesem Bereich nur dann wirklich eine Chance auf Umsetzung gekommen werden, wenn die Finanzierungsfrage im Sinne einer Entlastung der Kommunen gelöst wird.

Eine weitere „Systemfrage“ berührt die Gewerkschaften und ihre Strategie als solches. Die älteren Semester werden sich an die 70er und teilweise 80er Jahre erinnern, in denen die damalige Gewerkschaft ÖTV bei Tarifauseinandersetzungen gerne auf die berühmten Müllmänner zurückgegriffen hat, wenn es um die Demonstration der möglichen bzw. tatsächlichen Folgen eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst ging. Die Nachfolgegewerkschaft Verdi steht heute vor dem Problem, dass die meisten Müllmänner privatisiert worden sind und als Speerspitze eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst schlichtweg nicht mehr zur Verfügung stehen (können). Es gibt durchaus Strategen im Gewerkschaftslager, die den Erzieherinnen in den Kindertageseinrichtungen angesichts ihrer enorm gewachsenen Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge unseres Landes eine vergleichbare Funktionalität zu schreiben, wie sie früher die Müllmänner im öffentlichen Dienst eingenommen hatten. Die konnten durch einen Arbeitskampf innerhalb einer sehr überschaubaren Frist weite Teile der Bevölkerung empfindlich treffen und damit einen entsprechenden Druck aufbauen, dass die öffentlichen Arbeitgeber in einer Tarifauseinandersetzung einlenken. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass man angesichts der die enormen Bedeutung, die die Kindertagesbetreuung heute angesichts der gestiegenen Erwerbstätigkeit der Mütter in unserer Gesellschaft hat, davon ausgehen kann und muss, das Streikaktionen in diesem Bereich zu empfindlichen Einschränkungen führen können und müssen. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus Sinn machen, perspektivisch die Erzieherinnen gleichsam zu einer Speerspitze zukünftiger Arbeitskämpfe zu machen, also gleichsam zu „Müllmänner 2.0“.

Auf der anderen Seite kann und darf man nicht übersehen, dass wir gerade in diesem Bereich nicht nur aus gewerkschaftlicher Sicht mit zahlreichen Besonderheiten konfrontiert sind: Zum einen gibt es nicht „die“ Gewerkschaft, die in diesem Bereich alleine für die Interessen der Beschäftigten kämpft, sondern mit Verdi und der GEW zwei DGB-Gewerkschaften und auch der Deutsche Beamtenbund mischt teilweise mit seinen Mitgliedern mit., vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den beiden DGB-Gewerkschaften Verdi und GEW. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit, die auch in den vor uns liegenden Tagen deutlich erkennbar werden wird: Viele Bürger werden aus ihrer Perspektive mehr oder weniger erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass eben nicht „die“ Kitas streiken bzw. gestreikt werden, sondern nur ein Teil der kommunalen Kitas. Man wird dann ebenfalls zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Mehrheit der Kindertageseinrichtungen nicht in kommunaler Trägerschaft betrieben werden, sondern von den so genannten freien Trägern, insbesondere handelt es sich hierbei um konfessionell gebundene Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche. In diesen Einrichtungen arbeitet die Mehrzahl der Erzieherinnen, die haben aber aufgrund der Sonderrechte der Kirchen kein Streikrecht. Sie werden in der nun anlaufenden großen Auseinandersetzung lediglich als Zaungäste die Entwicklung begleiten und beobachten können.

Darüber hinaus den Blick wieder gerichtet auf die nun vor einem unbefristeten Streik stehenden Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen: Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um ein „Experiment“, denn so eine Arbeitskampfmaßnahme hat es in der bisherigen Geschichte im Bereich der pädagogischen Fachkräfte von Kindertageseinrichtungen noch nicht gegeben. Im Jahr 2009 gab es bereits über einen längeren Zeitraum zahlreiche Warnstreikaktionen in Kindertageseinrichtungen, die allerdings begrenzt waren auf in der Regel ein bis zwei Tage. Es wird spannend sein, zu verfolgen, wie die Erzieherinnen auf einen längeren Ausstand reagieren werden, vor allem dann, wenn nach ein bis zwei Tagen die am Anfang sicher vorhandene breite Sympathie vor allem bei den Eltern einer heftigen Kritik an den Streikaktionen weichen wird. Es gibt zahlreiche Skeptiker, die befürchten, dass die Erzieherinnen gerade aufgrund ihrer hohen intrinsischen Motivation erhebliche Probleme haben werden, einen längeren Arbeitskampf auch durchzuhalten. Dem wird entgegengehalten, dass es in den vergangenen Jahren eine erhebliche Politisierung vieler Erzieherinnen gegeben hat, dass also die Haltung und die Verfassung vieler betroffener Fachkräfte heute eine andere sei als noch vor ein paar Jahren und man deshalb diesen Schritt wagen könne.

Über all diese inneren Fragen den Kita-Streik betreffend weit hinausreichend ist als eine weitere „Systemfrage“ der Hinweis erlaubt, dass es bekanntlich das so genannte „Lernen am Modell“ gibt. Damit soll an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht werden, dass wenn die Erzieherinnen erfolgreich bzw. halbwegs erfolgreich sein sollten mit ihrer unbefristeten Streikaktion, dann wird das auf andere Bereiche ausstrahlen, wo sich mittlerweile ein erheblicher und überaus nachvollziehbarer Druck aufgebaut hat: gemeint ist an dieser Stelle vor allem der ganze Bereich der Pflege, also die Pflegekräfte und ihre wachsende Unzufriedenheit angesichts der teilweise wirklich desaströsen Arbeitsbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Die werden sich dann in absehbarer Zeit auch der Entscheidung ausgesetzt sehen, ob sie in den großen Konflikt gehen werden bzw. wollen bzw. können.