Kinderarmut. Leider nichts Neues. Ein weiteres Update zu den auseinanderlaufenden Lebenslinien der Kinder. Und zugleich eine ernüchternde Relation: 2 zu 1

Schon seit langem wird „Kinderarmut“ in unserem Land beklagt. In vielen sozialwissenschaftlichen Studien wird immer wieder von einer „Infantilisierung“ der Armut gesprochen. In den 1990er Jahren prägte Richard Hauser aufgrund eines deutlichen Anstiegs der Armutsbetroffenheit von Kindern den Begriff der „Infantilisierung der Armut“, so in einem Beitrag in dem von ihm und Irene Becker 1997 herausgegebenen Sammelband „Einkommensverteilung und Armut. Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft?“. Mittlerweile gehört das aufgrund der Verfestigung der überdurchschnittlichen Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen von dem, was unter dem Terminus „Armut“ diskutiert wird, zum Standardrepertoire der Armutsbeobachter wie auch der sozialpolitischen Debatten, was man dagegen tun kann.

Aber es bleibt weiterhin das anzumerken, was in einem früheren Blog-Beitrag so formuliert wurde: »Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll« (vgl. dazu Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem? vom 11.10.2014). Aber bevor der eine oder die andere an dieser Stelle sofort der Versuchung erliegt, abzutauchen in den Streit über den „Armutsbegriff“ – unstrittig ist in der Armutsforschung, dass frühes Erleben von Armutslagen einen prägenden, nicht überraschend einen oftmals negativ prägenden Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hat. Bis hin zu zerstörerischen Auswirkungen, die sich ein Leben lang bemerkbar machen.

Und das ist zum einen für viele kleinen Menschen, die dem ausgeliefert sind, ein ganz individuelles Drama – es ist aber auch für die gesellschaftspolitische Debatte von großer Bedeutung, die seit Jahren zunehmend eingedampft wird auf eine einseitige Verengung auf „Chancengerechtigkeit“, um die man sich kümmern müsse, alles andere kommt dann schon von alleine oder aber die Individuen sollen sich nicht beklagen, denn sie hatten ja die Chancen und diese eben nicht genutzt. Vor diesem Hintergrund sind Studien wie die, die von der Bertelsmann-Stiftung nun der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, von Relevanz, zeigen sie doch in aller Klarheit, dass beispielsweise beim Eintritt in das Schulsystem von Chancengerechtigkeit keine Rede sein kann. Und es kommt – wenn man über die Studie hinausdenkt – sogar noch schlimmer.

»In Deutschland wachsen mehr als 17 Prozent der unter Dreijährigen in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben. Wie wirkt sich das auf die Entwicklung dieser Kinder aus? Eine Analyse von Schuleingangsuntersuchungen im Ruhrgebiet zeigt: Armutsgefährdete Kinder sind schon bei Schuleintritt benachteiligt«, so die Bertelsmann-Stiftung unter der Überschrift Aufwachsen in Armut gefährdet Entwicklung von Kindern anlässlich der Veröffentlichung dieser von ihr in Auftrag gegebenen Studie:

Thomas Groos und Nora Jehles: Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern. Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung. Arbeitspapiere wissenschaftliche Begleitforschung „Kein Kind zurücklassen!“ Band 3. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, Februar 2015

Konkret wurde in der Studie die Situation in der Stadt Mülheim an der Ruhr untersucht. In dieser Ruhrgebietsstadt lebt knapp ein Drittel der Kinder unter sechs Jahren von Hartz-IV-Leistungen. In manchen Stadtteilen sind in den Kitas mehr als 70 Prozent der Kinder arm. Für die Studie wurden die Daten von 4.802 Schuleingangsuntersuchungen aus den Jahren 2010 bis 2013 ausgewertet.

Die Forscher haben festgestellt, »dass 43 Prozent der armutsgefährdeten Kinder mangelhaft Deutsch sprechen, während dies bei nur bei 14 Prozent der Kinder zutrifft, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen. Probleme mit der Körperkoordination haben demnach 24,5 Prozent der Kinder aus Hartz-IV-Familien, bei der Vergleichsgruppe sind es 14,6 Prozent. Ähnliches gilt bei den Tests zur Visuomotorik, also der Koordination von Auge und Hand (25 zu 11 Prozent). Probleme beim Zählen haben 28 Prozent, gegenüber 12,4 Prozent«, so der Artikel Ruhrgebiets-Studie zeigt schwere Defizite bei armen Kindern. Die Schuleingangsuntersuchungen erkennen bei den Kindern, deren Familien von staatlicher Grundsicherung leben, mehr als doppelt so häufig Defizite in der Entwicklung wie bei Kindern, die in gesicherten Verhältnissen aufwachsen. »Zugleich leben sie deutlich zurückgezogener … So erlernen lediglich zwölf Prozent dieser Kinder ein Instrument, bei der Vergleichsgruppe spielen knapp ein Drittel Geige, Klavier oder Gitarre. Vor ihrem dritten Geburtstag gehen 31 Prozent der Kinder aus Hartz-IV-Familien in eine Kita, bei den Übrigen sind es über 47 Prozent.«

Über einen wichtigen Aspekt der Studie berichtet Vera Kämper in ihrem Artikel In der Kita sollte Arm auf Reich treffen:

»Wichtig für die Bildungschancen der Kinder sei der Besuch einer Kindertagesstätte. Doch ganz so einfach funktioniere das nicht. „Ein früher Kita-Besuch kann negative Folgen von Kinderarmut verringern“, heißt es in der Studie. „Allerdings ist das kein Automatismus.“ Positive Effekte für die Entwicklung der Kinder treten demnach nur dann ein, wenn die Kita-Gruppen sozial gemischt sind. Weil die Armut jedoch höchst unterschiedlich verteilt sei, könnten Kitas eine Durchmischung oftmals nicht gewährleisten.«

Das ist logisch – vor allem, wenn man bedenkt, dass die meisten Kinder wohnortnah zur Kita gehen und wenn sie als Folge einer bewussten Elternentscheidung in eine andere Kita gebracht werden, dann eher als Ergebnis einer Wahlentscheidung von Eltern aus der Mittelschicht, die im Ergebnis die bereits vorhandene soziale Selektivität des Kita-Besuchs noch im Sinne einer sozialen Schließung verstärkt.

An dieser Stelle prallt Wirklichkeit auf Wunschdenken, auch wenn die daraus abgeleiteten Forderungen an Politik und Gesellschaft angesichts der bestehenden Zustände unterstützt werden im Sinne der Devise: Besser das als gar nichts. Dazu schreibt die Bertelsmann-Stiftung:

»Der erste Ansatzpunkt ist eine Sport-Förderung. Der leichtere Zugang zum Sport hilft, frühkindliche Entwicklung und Sprachkompetenz zu verbessern. Der zweite Ansatzpunkt ist die Kita. Sowohl der frühe Besuch einer Kita und die besondere Förderung in der Kita wirken positiv auf die Entwicklung von Kindern. Es wird gezeigt, dass die bessere Ressourcenausstattung von „sozialen Brennpunkt-Kitas“ positiv auf die Entwicklung von Kindern wirkt und in Familienzentren arme Kinder über deutlich bessere Sprachkompetenzen verfügen.«

Einerseits ist das eine schon sehr kleingeschredderte Variante von Kinderarmutsbekämpfungspolitik, anderseits muss man das natürlich auch lesen als Verbeugung für das, was in Nordrhein-Westfalen die landespolitischen Ansatzpunkte sind und die möchte man unterstützen. Das mag lobenswert sein und überhaupt irgendeine Förderung ist mit Blick auf die kleinen Menschen, die davon profitieren können, sicher ein Segen – es ändert aber nur äußerst begrenzt etwas an der Kraft, die hinter dem steht, was wir als Auseinanderlaufen im Sinne einer Polarisierung von „guter“ und „schlechter“ Kindheit bezeichnen müssen:

Zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass wir hier mit einem sich kontinuierlich verstärkenden Prozess der scherenhaften Entwicklung konfrontiert sind, haben in der Vergangenheit zahlreiche bildungsökonomische Studien beigetragen, die mit unterschiedlichem Design immer wieder der einen zentralen Frage nachgegangen sind: Wie stark ist der Einfluss der Bildungseinrichtungen (wir sprechen hier von allen für Kindheit und Jugend relevanten Bildungseinrichtungen, also auch, aber nicht nur der Kita oder der Grundschule) auf die „Humankapitalentwicklung“ der Menschen – und wie stark ist der Einfluss des Familienhintergrunds darauf. Bevor der eine oder die andere an dieser Stelle eine das Weiterlesen blockierende Schnappatmung bekommt angesichts der verwendeten Begrifflichkeit vom Humankapital – auch wenn das mal von Geisteswissenschaftlern zum Unwort des Jahres gewählt worden ist, so ist es in der Ökonomie hingegen gerade ein positiver, gleichsam emanzipatorischer Begriff, der die Reduzierung des Menschen auf einen Kostenfaktor aufhebt, ihn als Kapital bzw. als Vermögen ansieht, das man hegen und pflegen und vermehren sollte, nicht aber vernutzen und wegschmeißen Auch in der familienwissenschaftlichen Diskussion verwendet man ja völlig zu Recht den Begriff vom „Humanvermögen“.

Die besagten Studien haben also untersucht und versucht auch abzuschätzen, welchen Einfluss Bildungseinrichtungen und der Familienhintergrund auf die weitere, lebenslange Entwicklung der Kinder haben im Sinne des Lebenseinkommens, des Arbeitslosigkeitsrisikos, des Risikos, Armut ausgesetzt zu sein usw. Also ein mehr als ambitionierter, aber eben nicht reduktionistischer Ansatz. Und wenn man eine Quintessenz der meisten dieser Studie ziehen muss, dann taucht dort immer wieder eine Relation auf, die uns nachdenklich stimmen sollte:

2 zu 1. In Worten: Der Einfluss des Familienhintergrunds auf die Humankapitalentwicklung der Menschen ist doppelt so stark wie der Einfluss aller Bildungseinrichtungen. Und doppelt so stark muss hier doppelt gelesen werden – eben auch nach oben und unten doppelt. Deshalb laufen die Lebenslinien der Kinder „unten“ und „oben“ auch immer weiter auseinander.

Natürlich kann das, wenn man es logisch zu Ende denkt, zu erheblichen Frustrationen führen und auch zu einer Blockade weiterer gesellschaftspolitischer Anstrengungen, die Schere wenigstens etwas zu schließen. Es kann aber auch dazu führen, dass man sich gerade nicht – wie auch in der neuen Studie empfohlen – selbst beschneidet und ein wenig mehr Geld für die schwierigeren Fälle fordert oder gar das völlig gescheiterte und nur noch als Peinlichkeit zu bezeichnende „Bildungs- und Teilhabepaket“ der Bundesregierung an der einen oder anderen Stelle etwas aufpampert. Man könnte und müsste zu ganz anderen, weitaus ambitionierter angelegten Diskussionen kommen – Kindergrundsicherung einführen, die Kitas und die Schulen, die sich um die abgehängten Kinder kümmern, mit einem Vielfachen der Geld- und Personalmittel ausstatten als die, die nur mit „Mittelschichtskindern“ gesegnet sind. Ich höre an dieser Stelle auf, denn es zeichnet sich ab, was dem vorangehen muss – eine echte gesellschaftspolitische Umverteilungsdiskussion. Und das ist derzeit nicht wirklich erkennbar, dass es hierfür große oder überhaupt eine Begeisterung gibt in Politik und Gesellschaft.

Wir werden alsbald über die nächste Studie berichten müssen.

Foto: Screenshot von der Webseite zur Kinderarmutsstudie der Bertelsmann Stiftung (www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/kein-kind-zuruecklassen-kommunen-in-nrw-beugen-vor/projektnachrichten/aufwachsen-in-armut-gefaehrdet-entwicklung-von-kindern/, 14.03.2015)

Pflegende Angehörige … und Hartz IV

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Pflege wird immer wieder die bedeutsame Rolle der pflegenden Angehörigen hervorgehoben – denn mehr als 70% der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt, viele von ihnen ausschließlich durch pflegende Angehörige. Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die diese oftmals schwierige und kräftezehrende Arbeit übernommen haben. Letztendlich sind sowohl die Pflegebedürftigen wie auch die sie pflegenden Menschen Unikate. Einzigartig eben. Aber natürlich gibt es auffällige Strukturmuster, die man erkennen kann und muss. Nicht überraschend ist die Tatsache, dass es oftmals Frauen sind, die pflegen. Nach wie vor stellen Frauen in Deutschland – Ehefrauen, Töchter, Schwieger- oder Enkeltöchter – 70 Prozent der Hauptpflegepersonen. Man kann es aber auch so sagen: Immerhin (schon) 30 Prozent der pflegenden Angehörigen sind Männer, die meistens ihre Partnerinnen versorgen (vgl. dazu beispielsweise die Porträtierungen in BMFSF: Auf fremden Terrain – Wenn Männer pflegen, Berlin 2012). Angesichts der Veröffentlichung der neuen Pflegestatistik 2013 durch das Statistische Bundesamt wurde erneut auf den Stellenwert der Pflege durch Angehörige hingewiesen (dazu auch der Blog-Beitrag Der Dauerlauf im Hamsterrad des Unzulänglichen und Ungeklärten: Pflege und Pflegekräfte in Bewegung. Nicht zu vergessen die pflegenden Angehörigen und wieder werden politische Forderungen hinsichtlich dieser Gruppe vorgetragen, dazu beispielsweise Mehr Hilfe für pflegende Angehörige gefordert). Ergänzend dazu hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit eine neue Studie veröffentlicht, in der es um pflegende Hartz IV-Empfänger geht. 

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Sozialstaat von unten: Was hat das Jobcenter mit einem U-Boot im Kalten Krieg gemeinsam? Das „Vier-Augen-Prinzip“. Und wie Krankenkassen vor Gericht gezwungen werden müssen, auch für Obdachlose zu zahlen

»Sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA galt im Kalten Krieg das Zwei-Mann-Prinzip für den Einsatz von Atomwaffen auf U-Booten. In den USA mussten sowohl der Commanding Officer als auch der Executive Officer den Befehl zum Einsatz von Atomwaffen authentifizieren, auf sowjetischen U-Booten übernahmen diese Aufgabe der Kommandant und der Politoffizier.« So kann man es zumindestens einem Artikel über das Vier-Augen-Prinzip entnehmen. Dabei geht es hier im ersten Teil um Jobcenter. Was haben die denn mit dem Kalten Krieg zu tun? Eben, das Vier-Augen-Prinzip. Bereits Anfang Februar dieses Jahres berichtete die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift Vier Augen sehen mehr als zwei: Seit Jahresbeginn gilt bei den Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen ein neues Vier-Augen-Prinzip: Wird zum Beispiel Geld an einen Hartz-IV-Empfänger überwiesen, muss dies ein zweiter Mitarbeiter überprüfen. 2014 zahlte die Bundesagentur für Arbeit für die mehr als 300 Jobcenter, die sie gemeinsam mit den Kommunen führt, knapp 15 Milliarden Euro an Hartz-IV-Empfänger aus. Gut 20 Millionen Hartz-IV-Bescheide verschickt die Behörde im Jahr. Das ist eine Menge Steuergeld und da kann man erwarten, dass es Missbrauchsversuche hinter dem Schalter geben wird, denen man mit Kontrolle versuchen kann und sollte, zu begegnen. Und vier Augen sehen tendenziell besser als nur zwei. Und es ist nicht überraschend, dass das auch bisher schon zur Anwendung kam, dieses Prinzip. »Bei bestimmten Auszahlungen, zum Beispiel bei einer Überweisung von einmalig mehr als 2500 Euro, soll stets ein Mitarbeiter prüfen, ob der Kollege die Leistung zuvor richtig berechnet hat, bevor das Geld transferiert wird«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel. Und was ist jetzt neu? Seit dem 1. Januar muss in jedem Fall – und sei er noch so geringfügig – ein Zweiter über die Arbeit seines Kollegen schauen. Bei allen zahlungsrelevanten Fällen. Schon damals hatten die Personalräte davor gewarnt, dass das zu erheblichen Problemen führen wird, was jetzt offensichtlich der Fall ist.

Bereits Anfang Februar hatten die Personalräte der Jobcenter in einem offenen Brief an zahlreiche Bundestagsabgeordnete darüber geklagt, dass durch das erweiterte Vier-Augen-Prinzip die Belastung „in einigen Bereichen über den Rand des Zumutbaren“ steige, wie Öchsner berichtete. Und die Mitarbeitervertreter stellten in ihrem offenen Brief eine wichtige Frage: „Gibt es Hinweise auf flächendeckenden Betrug durch die Mitarbeiter, die die Erschwerung der Arbeitsbedingungen rechtfertigen würde?“ Aber davon hat man sich nicht beeindrucken lassen, sondern das Vier-Augen-Prinzip umgesetzt. Mit den angekündigten Folgen, die jetzt ans Tageslicht kommen.

Da wird beispielsweise aus Bayern gemeldet: Jobcenter Augsburg überlastet: Existenzen in der Warteschleife. Da erfahren wir, welche existenziellen Konsequenzen das haben kann:

»17.000 Augsburger sind von den Leistungen abhängig. Zwei Mal im Jahr müssen die Empfänger vor Ort eine Weiterbewilligung beantragen. Diese haben Vorrang und sind ohnehin kaum mehr zu bewältigen. Für den Rest? Keine Zeit. „Es bleiben Hunderte von Sachen liegen. Die Leute kommen nicht mehr an ihr Geld“, sagt ein Angestellter, dessen Name nicht genannt werden soll. Eigentlich haben die Mitarbeiter einen Maulkorb verpasst bekommen, dürfen sich öffentlich nicht mehr äußern … „Manche Kunden stehen mit dem Rücken zur Wand“ … Diejenigen etwa, denen Inkassounternehmen oder Haft drohen, wenn sie ihre Rechnungen nicht bezahlen … Das Jobcenter sei ohnehin seit Jahren chronisch unterbesetzt. Der jetzige Mehraufwand sei nicht mehr zu schultern. In der Regel sollte es zwei Wochen dauern, bis die Sozialleistung auf dem Konto ankommt. Momentan sind in Augsburg von sechs Wochen die Rede, „aber nicht mal das ist realistisch“ … Und an dem Geld hängen Existenzen. Miete, Rechnungen, Nahrung. „Es kommen Menschen, die aus Asylheimen raus müssen und nicht mal eine Matratze haben“ … Kurzfristige Hilfe: undenkbar. „Wir sind nicht mehr reaktionsfähig.“«

Oder wie wäre es mit Hamburg? Die 16 Jobcenter stehen vor dem Kollaps. Personalräte fordern Stopp des Verfahrens oder 128 Stellen, kann man dem Artikel Vier-Augen-Prinzip sorgt für Mehrbelastung entnehmen.  Eine Personalrätin kritisiert, dass Post liegen bleibt, Geldanweisungen später rausgehen, sich Überstunden anhäufen und Kollegen sogar samstags arbeiten. »Schon wenn sie einen Hartz-IV-Bescheid für kleine Mieterhöhungen von 55 Cent ändere, müsse sie schauen, welcher Kollege den Vorgang prüfen könne. Vorher könne das Geld nicht raus«, wird eine Sachbearbeiterin zitiert. Und der neue bürokratische Aufwand muss gesehen werden vor dem Hintergrund, dass derzeit ein neues EDV-System – Allegro – eingeführt wird: »… dafür müssen die Daten der rund 100.000 Bedarfsgemeinschaften größtenteils neu eingepflegt werden. Dafür ist bis Ende Juni Zeit.«

Kein Wunder angesichts dieser Bedingungen: Mit einem Brandbrief wenden sich Jobcenter-Mitarbeiter aus Hamburg an die Bundesregierung, die Hamburger Parteien und die eigene Geschäftsführung, so der Artikel Jobcenter-Mitarbeiter beklagen Überlastung. Und als wenn das nicht schon alles genug ist, schlägt eine Verbesserung an der Front ein: Durch eine Gesetzesänderung stehen Flüchtlingen künftig zumindest ab dem 18 Monat mehr Geld zur Verfügung. Das ist gut für die Menschen – für die Jobcenter-Miatrbeiter in Hamburg bedeutet das: 2.000 Bedarfsgemeinschaften mehr.

In der Praxis müssen sich die Betroffenen offensichtlich mit allerlei herumschlagen bzw. ausbaden. Das geht auf Kosten der Mitarbeiter in den Verwaltungen und erst recht leider auf dem Rücken der Betroffenen.

Und wenn man Glück hat, dann korrigiert die Rechtsprechung das, was manche Kostenträger wegdrücken möchten. Dazu ein weiteres Beispiel aus dem Sozialstaat ganz unten: Kasse kann sich nicht drücken, berichtet die Ärzte Zeitung aus dem filigranen Reich der Krankenkassen. Trocken wie immer hat das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel seine Pressemitteilung dazu so überschrieben: Anspruch auf Versorgung mit häuslicher Krankenpflege durch die Krankenkasse auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Hier der Sachverhalt, zusammengefasst in dem Artikel aus der Ärzte Zeitung:

»In zwei Fällen ging es um die Kostenübernahme der häuslichen Krankenpflege für Obdachlose, die in einem Heim für Wohnungslose in Hamburg untergebracht waren.
Ihr Arzt hatte eine medizinische Behandlungspflege verschrieben. Danach sollte bei einem drogenabhängigen HIV-infizierten Bewohner die Medikamenteneinnahme kontrolliert werden. Bei dem anderen Wohnsitzlosen sollten zusätzlich noch Verbände gewechselt, Blutdruckmessungen sowie Injektionen durchgeführt werden.
Die AOK Rheinland/Hamburg wollte dafür nicht aufkommen.«

Und mit welcher Begründung? Wieder ein lehrreiches Stück aus dem Argumentationskasten der Sozialverwalter – man lese und staune ob der Phantasie: Häusliche Krankenpflege müsse die Krankenkasse nur im „Haushalt“ des Versicherten leisten. Ein solcher liege bei Wohnsitzlosen aber nicht vor. Ah ja.

Die höchsten Sozialrichter – es ist ja bezeichnend, dass das bis zum BSG hoch getrieben wurde – haben das anders gesehen und sind zu der folgenden Entscheidung gekommen:

»Das BSG urteilte, dass Krankenkassen grundsätzlich auch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, wie hier dem Obdachlosenheim, häusliche Krankenpflege gewähren müssen. Einfachste, von Laien vorzunehmende Pflege, müsse die Einrichtung selbst anbieten.
Dazu zählten etwa die Kontrolle der Arznei-Einnahme oder das Anziehen von Kompressionsstrümpfen. Dies gehöre „zu Hilfen bei der Führung eines gesunden Lebens“ im Aufgabenbereich der Sozialhilfe.
Für medizinische Behandlungspflege, die Fachpersonal benötige, wie die Wundversorgung oder Injektionen, müsse auf ärztliche Verordnung dagegen die Kasse aufkommen. Das soziale Fachpersonal solcher Einrichtungen könne und müsse dies nicht leisten.«

Die Richter haben mit ihrer Entscheidung also die Zuständigkeit für die betroffenen Menschen pragmatisch zu teilen versucht. Sie haben die Einrichtungen für die Obdachlosen in die Pflicht genommen und sie haben die Kassen nicht aus der Verantwortung entlassen. Und sie haben das begründet mit einer Logik, die eigentlich selbstverständlich sein sollte. »Der Wechsel von Wundverbänden und die Verabreichung von Injektionen wird hingegen von einer Einrichtung der Eingliederungshilfe, die ausschließlich mit Fachpersonal aus den Bereichen Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Pädagogik arbeitet, nicht geschuldet. Für die Versorgung mit diesen Leistungen ist daher von der Krankenkasse häusliche Krankenpflege zu gewähren«, schreibt das BSG. Irgendwie logisch, sollte man denken. Aber darüber wird gestritten und dagegen wird geklagt – und das war nur ein kleines Beispiel von dem, was tagtäglich ganz unten auf- und vor die Füße geworfen wird.