Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat

Es ist ja auch ein Kreuz mit den Zahlen. Man kann das jeden Monat beobachten, wenn seit gefühlt 200 Jahren die Zahl der Arbeitslosen in Nürnberg der versammelten Presse bekannt gegeben wird, so wie vor kurzem für den Monat Juni des Jahres 2013. Und man kann sicher sein, dass dann überall darüber berichtet wird, dass die Zahl der Arbeitslosen – oder sagen wir es lieber an dieser Stelle bereits richtig – die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Juni bei 2,865 Mio. Menschen und damit weiter unter der 3-Millionen-Schwelle liegt. Nun weist die Bundesagentur für Arbeit selbst in ihren monatlichen Arbeitsmarktberichten eine etwas andere Zahl aus, die weitaus sinnvoller für eine Zitation in den Medien wäre: 3,843 Millionen Menschen, die so genannten „Unterbeschäftigten“. Die sind auch alle arbeitslos, aber die fast genau eine Million Menschen, die bei der Zahl fehlt, die es dann auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Schlagzeilen der Nachrichten in Funk und Fernsehen schafft, sind derzeit beispielsweise in „Aktivierungsmaßnahmen“ oder waren schlichtweg am Tag der Zählung der Arbeitslosen krank geschrieben, aber grundsätzlich natürlich weiterhin arbeitslos waren (weiterführend und regelmäßig die aktuellen Arbeitsmarktzahlen der BA kritisch begleitend die Berichterstattung auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt).

Wie dem auch sei – in den Köpfen der meisten Menschen bleibt dann irgendwie immer diese niedrigste Zahl, derzeit also die 2,865 Millionen Arbeitslosen, hängen. Das mag dann auch erklären, warum so viele mehr als irritiert reagieren, wenn man gleichzeitig darauf hinweist, dass wir gegenwärtig 6,168 Millionen Menschen im Grundsicherungssystem (SGB II) haben, die also „Hartz IV“-Empfänger sind. Das bekommen dann viele nicht mehr übereinander, weil zwischen 2,9 Mio. und 6,2 Mio. ist an sich schon eine riesige Diskrepanz und dann kommen doch auch noch die Arbeitslosen dazu, die gerade erst seit kurzem arbeitslos geworden sind und die die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I (Alg I) beziehen und gerade nicht Hartz IV (also Alg II) und die doch auch arbeitslos sind, sonst würden sie ja auch keine Leistungen beziehen können. Die Abbildung zeigt die zahlenmäßigen Zusammenhänge.

Während wir also „nur“ 1,967 Millionen arbeitslos registrierte „Hartz IV“-Empfänger haben, beziehen tatsächlich aber 4,46 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II und dann kommen auch noch weitere 1,71 Millionen Menschen dazu, die auch „Hartz IV“-Empfänger, aber nicht erwerbsfähig sind und damit natürlich auch nicht arbeitslos sein können. Diese Gruppe versteht man noch, wenn man die Erläuterung liest, dass es sich zu 95% um Kinder unter 15 Jahren handelt. Die sind natürlich noch nicht erwerbsfähig. Aber die Differenz zwischen den 1,967 Millionen arbeitslosen und den 4,46 Millionen erwerbsfähigen „Hartz IV“-Empfänger? Auch die kann man natürlich erklären, weil der Unterschied besteht aus an sich erwerbsfähigen, aber nicht als arbeitslos registrierbaren Menschen, weil viele von denen haben beispielsweise eine Arbeit, verdienen aber so wenig, dass sie aufstockend SGB II-Leistungen beziehen oder sie sind an sich erwerbsfähig, dürfen aber nicht arbeitslos sein, weil sie Kinder unter drei Jahren zu betreuen haben oder weil sie einen pflegebedürftigen Angehörigen versorgen.

Jetzt wird es aber noch komplizierter, folgt man dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Denn die haben berechnet, dass es viele Menschen gibt, die eigentlich Hartz IV-Leistungen beziehen könnten, es aber aus welchen Gründen auch immer nicht tun. So hat Cordula Eubel ihren Artikel im „Tagesspiegel“ überschrieben mit: „Mehr als jeder Dritte verzichtet auf Hartz IV. Nach Berechnungen für das Arbeitsministerium leben bis zu 4,9 Millionen in verdeckter Armut„. Genauer: »In Deutschland leben 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen in verdeckter Armut. Das heißt, dass sie kein Hartz IV beantragen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten.« Zu diesem Befund ist das IAB auf der Basis von Simulationsrechnungen für das Bundesarbeitsministerium gekommen, die allerdings derzeit noch nicht veröffentlicht worden sind, so dass wir uns an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt auf die zitierte Berichterstattung verlassen müssen, die von einer 247 Seiten umfassenden Studie spricht.
Wenn man das umrechnet unter Berücksichtigung der eingangs zitierten Werte, dann bedeutet das, dass zwischen 34 und 44 Prozent der Berechtigten auf staatliche Unterstützung verzichten, also mehr als jeder dritte Berechtigte.

Natürlich kommt an dieser Stelle sofort die Frage, warum so viele Menschen auf die Inanspruchnahme der ihnen ja zustehenden Leistungen verzichten. Die IAB-Forscher nennen hier „Unwissenheit, Scham oder eine nur sehr geringe zu erwartende Leistungshöhe oder -dauer“ als Erklärungsfaktoren.

Allein die Größenordnung an Menschen, die eine ihnen zustehende Grundsicherungsleistung nicht in Anspruch nehmen, ist natürlich schon sozialpolitisch hoch brisant. Aber darüber hinaus ist diese Information von einer weiteren grundsätzlichen Bedeutung mit höchst pikanten Auswirkungen auf die Praxis der Bemessung der Leistungen im SGB II-System. Hier geht es um die Frage der Berechnung der Höhe der Regelsätze innerhalb des Grundsicherungssystems.

Hierzu hatte es im Jahr 2010 eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben,  in der die bis dahin praktizierte Art und Weise der Berechnung als verfassungswidrig erkannt wurde – unter anderem, weil dem früheren Betrag nach den Worten der Richter Schätzungen „ins Blaue hinein“ zugrunde lagen. Es handelt sich um die Entscheidung vom 9. Februar 2010: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010.

In den Leitsätzen der Entscheidung findet man die folgende Formulierung:

»Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.«

Die Verfassungsrichter hatten u.a. moniert, dass man die Regelsätze ableitet aus den untersten 20% der Haushaltseinkommensverteilung ohne Berücksichtigung der Hartz IV-Empfänger, was als Methode zulässig sei, aber dass man es versäumt habe, die „verdeckt Armen“ aus dieser Gruppe herauszurechnen, also die Menschen, die eigentlich zu der Gruppe der Hartz IV-Empfänger gezählt und damit ausgeschlossen werden müssten, es aber nicht tun, weil sie aus welchen Gründen auf die ihnen eigentlich zustehenden Leistungen verzichten. Der Gesetzgeber solle, so das BVerfG, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf achten, die verdeckt armen Haushalte zu entfernen, da sie in der Referenzgruppe „die Datenbasis verfälschen“ würden.

Eigentlich müsste man also im Lichte der neuen Daten die dort ermittelten verdeckt armen Haushalte aus der Bezugsgruppe für die Bestimmung des Regelsatzes herausnehmen. »Dann müssten aber auch die Regelsätze steigen. Rechnet man die verdeckt Armen heraus, so steigen die Konsumausgaben bei Alleinstehenden laut IAB im Schnitt um bis zu 2,4 Prozent, bei Paaren mit einem Kind um bis zu 5,5 Prozent«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.

Man muss das auch sehen vor dem Hintergrund einer massiven Kritik vieler Fachleute an der 2011 dann vorgenommenen Neuberechnung des Regelsatzes im SGB II. Die Ministerialbeamten hatten damals gerechnet »und bekamen 2011 einen Eckregelsatz heraus, der den alten um 2,81 Euro übertraf«. Warum der Anstieg nur so marginal ausgefallen ist, untersuchen die beiden Wissenschaftler Irene Becker und Reinhard Schüssler in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt „Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen„, aus dem jetzt erste Zwischenergebnisse bekannt wurden: „Regelsatz-Berechnung weiter fragwürdig„. »Die Regierung hat zwar die verfassungsrechtlich notwendigen Revisionen vorgenommen, das Rechenverfahren aber an anderen Stellen in einer Weise verändert, die den Korrekturen „systematisch entgegengewirkt haben“, so Becker. Nach ihrer Rechnung hätte der Eckregelsatz um etwa 27 Euro steigen müssen – wenn das ursprüngliche Verfahren nur in den vom obersten Gericht beanstandeten Punkten modifiziert und ansonsten unverändert geblieben wäre.« So musste man 2011 beobachten, dass eine Reihe von Einzelbeträgen abgezogen wurden, die der Gesetzgeber für „nicht regelsatzrelevant“ hält, etwa Ausgaben für Tabakwaren, Benzin, Reisen oder Gastronomiebesuche.

»Auch die Bezugsgruppe hat der Gesetzgeber verändert. Bei den Alleinstehenden zählten 2011 nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern nur noch die unteren 15 Prozent der Haushalte dazu. Real liegt die obere Einkommensgrenze der Referenzgruppe nun um neun Prozent oder rund 82 Euro niedriger.«

Zurück zu den neuesten Daten über den Umfang der Gruppe der verdeckt Armen. Das Bundesarbeitsministerium nennt die Größenordnung „beträchtlich“ – und wie gesagt, hier müsste man eigentlich so schnell wie möglich handeln und eine Anpassung vornehmen. Wer jetzt auf ein „aber“ wartet, den kann ich leider nicht enttäuschen, denn das Bundesarbeitsministerium »will … die Berechnung nicht ändern. Würde diese Personengruppe herausgerechnet, „käme es durch die an deren Stelle nachrückenden Haushalte mit höherem Einkommen tendenziell zu einer Verlagerung der Referenzgruppe in den mittleren Einkommensbereich“, heißt es dazu im aktuellen Regelbedarfsbericht«.

Anders ausgedrückt: Alles spricht für eine Korrektur der Regelsätze, aber das zuständige Ministerium verweigert das einfach. Nach dem Motto: Ihr könnt ja (wieder) Klage erheben, aber bis das beim Bundesverfassungsgericht landen wird, kann der Rhein noch eine Menge Wasser transportieren.

Aufstockende Einzelhändler, Jobcenter im Osten, denen es reicht mit den schlimmsten Aufstocker-Fällen und Tarifverträge, die verschwunden sind

Die „Aufstocker“-Thematik wird in diesen Tagen wirklich in den unterschiedlichsten Medien bearbeitet. Unter der kompakten Überschrift „Staat zahlt jährlich 1,5 Milliarden Euro für Niedriglöhne im Handel“ berichtet Spiegel Online aus der Welt des gigantischen Kombilohnmodells Hartz IV. Der Befund von Yasmin El-Sharif klingt heftig: »Meist weiblich, immer häufiger unsicher beschäftigt und oft abhängig von staatlichen Zuschüssen – so sieht der typische Arbeitnehmer im Einzelhandel im Jahr 2013 aus.« Sie leitet das ab aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag. Aber die Daten sind schon gravierend: Demnach arbeitet jede dritte der 3,2 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel zu Löhnen unter zehn Euro in der Stunde.
»Viele dieser Löhne müssen aufgestockt werden. Nach Angaben der Bundesregierung gibt der Staat jährlich rund 1,5 Milliarden Euro an ergänzendem Hartz IV für Aufstocker des gesamten Handels aus – drei Viertel der Bezieher arbeiten im Einzelhandel. So mussten im Juni vergangenen Jahres die Einkommen von rund 130.000 Beschäftigten des Einzelhandels auf ein existenzsicherndes Niveau aufgestockt werden.«

Neben der Tatsache, dass es mehr als diskussionswürdig ist, dass hier Niedriglöhne der Arbeitgeber mit Steuermitteln auf das Existenzminimum gemessen an Hartz IV hoch subventioniert werden müssen, steht der Einzelhandel aber auch gleichsam paradigmatisch für das Durcheinander und die fatalen Entwicklungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt zunehmend beobachten müssen. Denn die Nachricht über die Aufstocker/innen im Einzelhandel muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden: Zum einen haben wir diese Entwicklungen im Einzelhandel erst mit zunehmender Dynamik seit dem Jahr 2000 – denn damals hatte die Bundesregierung auf Druck der Arbeitgeber di bis dahin vorhandene Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel beseitigt und damit den Startschuss für einen Teil der Unternehmen gegeben, über Lohnkostensenkungen einen individuellen Kostenfaktor in dem hart umkämpften Einzelhandel realisieren zu können. Seitdem befindet sich die ganze Branche wie auf einer Rutschbahn nach unten und auch die Unternehmen, die sich (noch) an die Regeln halten (wollen), werden immer stärker von dem Sogeffekt erfasst, der durch den Wegfall der Bindung aller Unternehmen an das tarifvertragliche Niveau ausgelöst hat.

Damit nicht genug. Der Handelsverband HDE hat Anfang des Jahres den Manteltarif, der die Strukturen in der Branche mit mehr als drei Millionen Beschäftigten regelt, gekündigt und damit der Gewerkschaft im wahrsten Sinne des Wortes den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen. Und die Situation für die Gewerkschaft ist keine einfache, denn »die Gewerkschaft steckt in der Zwickmühle: Sie hat zwar ein großes Interesse daran, dass die Tarifbindung erhalten bleibt, weniger Unternehmen aussteigen und die sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen bleiben, die immer häufiger durch Minijobs oder Werkverträge ersetzt werden. Ver.di müsste dafür Kompromisse eingehen. Zugleich aber fürchtet die Gewerkschaft Lohndumping durch die Hintertür und will eine Reform nach Arbeitgeberwünschen verhindern. Dumm nur: Die Gewerkschaft ist zunehmend geschwächt, weil Werkverträge, die Zahl befristeter und geringfügiger Jobs im Einzelhandel, bereits stark zugenommen haben. Entsprechend wenig Drohpotential für einen möglichen Streik hat Ver.di.« Das passt es denn auch zu den Hiobsbotschaften, wenn vermeldet wird: „Karstadt steigt aus Flächentarifvertrag aus„, um die tariflichen Lohnsteigerungen zu vermeiden.

Womit wir in einer generell bedenklichen, schon seit längerem an Schubkraft gewinnenden Entwicklungsphase angekommen wären: „Flächentarife verlieren an Bedeutung„: »Der Kampf um Löhne wird kleinteiliger. Weil immer mehr Firmen aus den branchenüblichen Tarifbindungen ausscheren, können sich immer weniger Arbeitnehmer auf einen landesweit geregelten Tarifvertrag berufen.« Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zieht sich jährlich ein Prozent der Betriebe aus den flächendeckenden Branchentarifbindungen zurück. »Seit 1996 ist laut der Untersuchung fast jeder fünfte Betrieb aus der Tarifordnung ausgeschert. Die Quote sank in den westlichen Landesteilen von 70 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben auf 53 Prozent im vergangenen Jahr. In Ostdeutschland waren es nur noch 36 Prozent.« Insofern ist Karstadt nur ein Mosaikstein in einer seit langem ablaufenden Entwicklung.

Aber wieder zurück zum Thema „Aufstocker“: Thomas Öchsner hat in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Jobcenter klagen gegen sittenwidrige Niedriglöhne“ berichtet, dass die Behörden in ganz Ostdeutschland gerichtlich gegen die Arbeitgeber vorgehen, bei den Niedrigstlöhne gezahlt werden, die dann zu Aufstockungsleistungen aus dem Grundsicherungssystem führen. Bereits im Jahr 2000 hatte das Jobcenter Stralsund hier ganze Vorarbeit geleistet, in dem man dort Arbeitgeber vor Gericht gebracht hatte, die sittenwidrig niedrige Löhne gezahlt haben. Wobei das mit der Sittenwidrigkeit gar nicht so einfach ist, wenn man sich die Rechtsprechung anschaut. Öchsner versucht dennoch eine kompakte Herleitung: »Ein Rechtsgeschäft ist nichtig, wenn es gegen die guten Sitten und „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstößt. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, so sieht es der BGH. Was das für die Höhe von Löhnen bedeutet, hat das Bundesarbeitsgericht festgelegt. Danach ist eine Bezahlung sittenwidrig, wenn sie nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlten Lohns erreicht.«

In Ostdeutschland verdienen viele Arbeitnehmer einen Lohn, der unter 8,50 Euro in der Stunde liegt. „Sittenwidrige Löhne“ liegen vor diesem Hintergrund in der Regel unter fünf Euro, meist noch deutlich darunter. Die Jobcenter prüfen vor allem dann, wenn sie Verdienstbescheinigungen mit einem Stundenlohn von weniger als drei Euro vorgelegt bekommen. Leider gibt es wieder einmal keine belastbaren Zahlen über das Volumen „sittenwidriger Löhne“, dies sicher auch deshalb, weil man jeden Einzelfall für sich betrachten und bewerten muss und weil überhaupt initiativ geprüft werden muss, was nicht selbstverständlich ist. Öchsner zitiert in seinem Artikel den Geschäftsführer des Jobcenters Neubrandenburg, Andreas Wegner: »Er hält sittenwidrige Löhne nicht für ein „flächendeckendes Phänomen“. Es handele sich um Einzelfälle, häufig bei Teilzeitbeschäftigten und Minijobbern, die allerdings „nicht hinnehmbar“ seien. Häufig seien eher unbedarfte Arbeitgeber betroffen, die selbst ums Überleben kämpften … Hört man sich in den Geschäftsleitungen von Jobcentern um, ist auch von Schwarzarbeit die Rede. Nicht selten gebe es Arbeitsverträge nur der Form halber. In der Realität bekämen Mitarbeiter dann mehr bar auf die Hand.«

Übrigens – viele der in diesen Tagen immer wieder genannten Zahlen zu den „Aufstockern“ finden sich in Artikeln, die auf der Website „O-Ton Arbeitsmarkt“ veröffentlicht worden sind. Eine informative Quelle. Die sind auch auf Twitter und bei Facebook zu finden.

Ein wenig Licht in das Dunkelfeld: Menschen, die mit Hartz IV aufstocken könnten, es aber nicht tun

Hunderttausende Beschäftigte verzichten auf Hartz IV„, so lautet die Schlagzeile eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung von Thomas Öchsner. Es geht wieder einmal um die so genannten „Aufstocker“, also Menschen, die Einkommen aus Erwerbsarbeit haben, die aber so niedrig sind, dass die Differenz zu dem ihnen zustehenden Hartz IV-Satz in der Grundsicherung als „aufstockende“ Grundsicherungsleistung gewährt wird. Oder eben gewährt werden könnte, wenn man den Ergebnissen von Berechnungen folgt, die vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen vorgelegt wurden. Von denen es aber eine relevante Gruppe anscheinend nicht macht. Ausgangspunkt sind die etwa vier Millionen Menschen, die weniger als sieben Euro brutto die Stunde verdienen. Darunter sind natürlich auch viele, für die der niedrige Lohn in ihrem jeweiligen Haushalts- oder Lebenskontext nicht zu aufstockenden Ansprüchen an das Grundsicherungssystem führt, weil sie beispielsweise mit jemanden zusammenleben, der ein ausreichendes Einkommen hat.

Aber es gibt eben auch diejenigen, die aufstocken könnten.  »Doch nicht alle machen von ihrem Recht Gebrauch. Das gilt auch für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor wie Leiharbeiter, Zimmermädchen oder Gebäudereiniger. Obwohl es für sie um ein paar hundert Euro im Monat gehen kann, lassen sich viele von ihnen den Lohn nicht vom Staat mit Hartz IV aufbessern.« Mehrere Hunderttausend Haushalte mit Erwerbstätigen hätten ein Recht auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen, wüssten aber offenbar nicht, dass sie Geld bekommen könnten, so wird Gerhard Bäcker vom IAQ in dem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung zitiert.

Die Ergebnisse basieren auf einen Vergleich: Auf der einen Seite der Hartz IV-Empfänger, dessen Leistungsansprüche sich aus den Regelleistungen sowie den Kosten für eine angemessene Unterkunft zusammensetzen. Wenn er oder sie arbeitet, dann kann ein Teil des Erwerbseinkommens behalten werden, ohne dass dies auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet wird. Und hat der Hartz-IV-Empfänger beispielsweise Kinder, dann stehen ihm oder ihr Leistungen für diese zu. Das IAQ hat nun auf der anderen Seite den Vollzeit-Arbeitnehmer gestellt und für verschiedene Fallkonstellationen ausgerechnet, wie hoch dessen Netto-Einkommen sein müsste, um zuzüglich der ihm oder ihr gegebenenfalls zustehenden Leistungen wie Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag auf einen Betrag zu kommen, der dem entspricht, was der Hartz IV-Empfänger erhält.
Die Ergebnisse dieser Vergleichsberechnungen finden sich in den Erläuterungen des IAQ: „Bei Niedriglöhnen und hohen Mieten: Trotz Vollzeitarbeit droht ein Einkommen unterhalb des Hartz IV-Niveaus„. Dort findet man die folgenden Befunde:

»Um ein Nettoeinkommen zu erreichen, das zumindest auf der Höhe des Grundsicherungsbedarfs/Hartz IV (einschließlich des Erwerbstätigenfreibetrags) liegt, muss – im Januar 2012 – ein vollzeitbeschäftigter Single einen Bruttostundenlohn von 7,98 Euro verdienen.«

Allerdings ist dieser Wert von 7,98 Euro nicht in Stein gemeißelt, sondern er resultiert aus der Annahme bundesdurchschnittlicher Wohnkosten, die bekanntlich eine weite Streuung aufweisen. Genau das berücksichtigen die IAQ-Wissenschaftler und erläutern das am Beispiel München:
»So muss in München der Stundenlohn in einem Single-Haushalt schon bei 9,66 Euro liegen, um auf das Grundsicherungsniveau zu kommen. Bei dieser Berechnung werden die anerkannten Durchschnittsbeträge für München als Maßstab genommen. Die Neumieten in München fallen allerdings noch weit höher aus: Nimmt man die Obergrenze des Mietrichtwertes für München als Maßstab, dann liegt die Stundenlohnschwelle bei 10,93 Euro für einen Single.«

Nun gibt es ja neben dem Single weitere Haushaltskonstellationen, die den zu erreichenden Bruttostundenlohn nach oben treiben. Hier die Zusammenfassung der relevanten Werte für den Bundesdurchschnitt (und immer mitlaufend in Klammern die Werte für einen Arbeitnehmer in München bei Durchschnittsmiete und bei Neumiete):

=> Alleinverdiener in einem Paar-Haushalt ohne Kinder: 10,18 Euro (11,63 Euro/13,23 Euro)
=> Alleinverdiener  bei einem Ehepaar mit einem Kind: 10,65 Euro (14,29 Euro/16,49 Euro)

Diese Werte werden jetzt offensichtlich verglichen mit den Befunden über die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor, die das IAQ regelmäßig auf der Basis einer Auswertung der SOEP-Daten veröffentlicht. Daraus soll sich dann das folgende Ergebnis ergeben:
»Derzeit stocken gut 1,3 Millionen Menschen ihren Verdienst mit Hartz IV auf. Etwa ein Viertel oder mehr als 300.000 haben eine Vollzeitstelle. Bäcker hat ermittelt, dass deren Zahl mindestens doppelt so hoch sein müsste«, schreibt Öchsner in seinem Artikel, wobei sich das aus den Berechnungsunterlagen, die vom IAQ veröffentlicht wurden, nicht auf Anhieb erschließt, wie man auf diesen Wert kommt. Gerhard Bäcker spricht von einer „hohen Dunkelziffer“ bei den aufstockungsberechtigten Nicht-Aufstockern.

»Das mag daran liegen, dass viele von ihren Ansprüchen und den komplexen Gesetzesregeln nichts wissen. Viele dürften aber auch den Weg zum Amt scheuen und lieber eiserne Ausgabendisziplin halten oder Überstunden schieben, als den Staat um Hilfe zu bitten«, so die Schlussfolgerung von Thomas Öchsner in seinem Beitrag.