Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Pflege wird immer wieder die bedeutsame Rolle der pflegenden Angehörigen hervorgehoben – denn mehr als 70% der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt, viele von ihnen ausschließlich durch pflegende Angehörige. Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die diese oftmals schwierige und kräftezehrende Arbeit übernommen haben. Letztendlich sind sowohl die Pflegebedürftigen wie auch die sie pflegenden Menschen Unikate. Einzigartig eben. Aber natürlich gibt es auffällige Strukturmuster, die man erkennen kann und muss. Nicht überraschend ist die Tatsache, dass es oftmals Frauen sind, die pflegen. Nach wie vor stellen Frauen in Deutschland – Ehefrauen, Töchter, Schwieger- oder Enkeltöchter – 70 Prozent der Hauptpflegepersonen. Man kann es aber auch so sagen: Immerhin (schon) 30 Prozent der pflegenden Angehörigen sind Männer, die meistens ihre Partnerinnen versorgen (vgl. dazu beispielsweise die Porträtierungen in BMFSF: Auf fremden Terrain – Wenn Männer pflegen, Berlin 2012). Angesichts der Veröffentlichung der neuen Pflegestatistik 2013 durch das Statistische Bundesamt wurde erneut auf den Stellenwert der Pflege durch Angehörige hingewiesen (dazu auch der Blog-Beitrag Der Dauerlauf im Hamsterrad des Unzulänglichen und Ungeklärten: Pflege und Pflegekräfte in Bewegung. Nicht zu vergessen die pflegenden Angehörigen und wieder werden politische Forderungen hinsichtlich dieser Gruppe vorgetragen, dazu beispielsweise Mehr Hilfe für pflegende Angehörige gefordert). Ergänzend dazu hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit eine neue Studie veröffentlicht, in der es um pflegende Hartz IV-Empfänger geht.
Rund 280.000 Hartz-IV-Empfänger pflegen Angehörige. Im Jahr 2012 beteiligten sich insgesamt 5,6 Prozent der Personen im erwerbsfähigen Alter an der Versorgung Pflegebedürftiger. In Haushalten, die Arbeitslosengeld II beziehen, ist der Anteil der Pflegenden mit 7,2 Prozent sogar noch etwas höher. Zu diesen und anderen Ergebnissen kommt diese Studie:
➔ Hohmeyer, Katrin und Kopf, Eva: Pflegende in Arbeitslosengeld-II-Haushalten: Wie Leistungsbezieher Pflege und Arbeitsuche vereinbaren. IAB-Kurzbericht, 05/2015, Nürnberg 2015
Der besondere Blick der Arbeitsmarktforscher richtet sich darauf, dass Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die ihre Angehörigen pflegen, in einem Spannungsfeld zwischen der Pflegearbeit und ihrer Pflicht zur Arbeitsuche stehen. In einem gewissen Sinne ist das spiegelbildlich zu dem, was erwerbstätige und Hartz IV-Leistungen beziehende pflegende Angehörige bewältigen müssen: Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.
»ALG II-Empfänger sollen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und selbst zur Beendigung oder Reduzierung ihrer Hilfebedürftigkeit beitragen (§ 2 Abs. 1 SGB II). Von diesem Grundsatz kann jedoch unter anderem abgewichen werden, wenn die Arbeit mit der Pflege eines Angehörigen nicht vereinbar ist, und die Pflege nicht anders organisiert werden kann (§ 10 Abs. 1 Satz 4 SGB II)«, schreiben die Wissenschaftlerinnen und umreißen damit einen Tatbestand, der in der allgemeinen Debatte über „Hartz IV“ oftmals völlig ausgeblendet wird, denn da dominiert die reduzierte Sicht Hartz IV-Bezieher = Arbeitslose, was allerdings eine völlig unterkomplexe Beschreibung der Heterogenität im Grundsicherungssystem ist. Hierzu sei auf den Beitrag Hartz IV-Empfänger: Weniger als die Hälfte ist offiziell arbeitslos verwiesen: »Im Oktober 2014 gab es über 4,3 Millionen erwerbfähige Hartz IV-Empfänger, aber weniger als die Hälfte von ihnen gilt als arbeitslos im Sinne der Statistik. Mit 58 Prozent wird der überwiegende Teil nicht zu den Arbeitslosen gezählt.«
Ein paar Befunde aus der IAB-Studie seien hier zitiert: »33 Prozent der pflegenden Hartz-IV-Empfänger kümmern sich mindestens 20 Stunden in der Woche um ihre Angehörigen. Bei Pflegenden, die keine Leistungen beziehen, sind es 18 Prozent.« Die Studie liefert auch Konkretisierungen dessen, was gemacht wird: »Dabei übernehmen 91 Prozent der pflegenden Hartz-IV-Empfänger Besorgungen und Erledigungen außer Haus und 76 Prozent Aufgaben der Haushaltsführung und der Versorgung mit Mahlzeiten und Getränken. 59 Prozent der Befragten leisten aber auch einfache Pflegetätigkeiten wie etwa Hilfe beim Ankleiden. 22 Prozent verrichten zudem schwierigere Pflegetätigkeiten wie beispielsweise Hilfe beim Umbetten.«
Hohmeyer und Kopf (2015: 6) schreiben in ihrem Fazit: »Ein Drittel der pflegenden ALG II-Bezieher wendet (für die Pflege) wöchentlich 20 Stunden und mehr auf. Diese teilweise hohen Aufwände verdeutlichen, dass die Pflege ein Hindernis für eine Erwerbstätigkeit sein kann. Achatz und Trappmann (2011) zeigten, dass eine Pflegetätigkeit von mindestens zehn Stunden pro Woche mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einhergeht, den ALG II-Bezug durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu verlassen. Da Frauen öfter als Männer ihre Angehörigen pflegen, sind sie in besonderem Maße betroffen.«
Dieser Blick in einen ansonsten kaum wahrgenommenen Teilbereich des Grundsicherungssystems verdeutlicht zum einen, dass die öffentliche Debatte wesentlich differenzierter geführt werden sollte angesichts der enormen Heterogenität der Menschen, die auf Leistungen aus diesem System angewiesen sind. Leider hat sich in den zurückliegenden Jahren eine sehr verengte Sichtweise auf „die“ Hartz IV-Empfänger ausgebreitet, bei der die Menschen, um die es hier geht, oftmals reduziert werden auf Langzeitarbeitslose, in Verbindung mit einer bewusst oder unbewusst häufig mitlaufenden Stigmatisierung, dass viele doch gar nicht arbeiten wollen. Unabhängig von der generellen Fragwürdigkeit dieser Stigmatisierung und der empirischen Evidenz, dass das im Regelfall nicht so ist, liefert die Betrachtung der Gruppe der pflegenden Angehörigen im Hartz IV-System viele wichtige Hinweise auf die Notwendigkeit, genauer hinzuschauen.
Aber es gibt noch eine zweite Dimension, denn die Leistungen aus dem Hartz IV-System sind ja durchaus in einer breiten Kritik hinsichtlich ihrer Höhe und gleichzeitig zeigen die Befunde der Studie, dass die pflegenden Angehörigen, die sich im Leistungsbezug befinden, wenn, dann vor allem eine Teilzeitbeschäftigung suchen. Damit würde aber, selbst wenn sie eine solche Arbeit finden, oftmals nur eine Beschäftigung verbunden sein, deren Einkommenshöhe sie nicht aus dem (aufstockenden) Hartz IV-Bezug rausbringen würde und gleichzeitig haben solche Beschäftigungskonfigurationen natürlich negative Folgewirkungen in anderen Bereichen, man denke hier nur an die Rentenansprüche, die (nicht) erworben werden können, so dass sich viele dann im Alter in der Grundsicherung für Ältere wiederfinden werden. Das liegt begründet an den (tradierten) Konstruktionsprinzipien unseres auf halbwegs ordentlich entlohnte, möglichst ohne Unterbrechungen absolvierte Vollzeitarbeit aufbauenden lohnarbeitszentrierten sozialen Sicherungssystems.
Aber genau an dieser Stelle sind dann auch die pflegenden Angehörigen, die nicht im Hartz IV-Bezug sind, mit den Folgen der Systemlogik konfrontiert: Denn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die immer öfter beschworen wird, ist nur embryonal aufgegriffen worden in unserem Sozialsystem, man denke hier an die Verrenkungen mit der zehntägigen Pflegezeit, die mit einer Lohnersatzleistungen verbunden wurde, oder die sogenannte „Familienpflegezeit“ für bestimmte Arbeitnehmer, also eine bis zu sechs Monate umfassende volle Auszeit oder eine über zwei Jahre laufende Reduzierung der Arbeitszeit, für die man den Betroffenen, die sich für die Pflege der Angehörigen engagieren, dann ein „zinsloses Darlehen“ anbietet, dass nach der Pflegezeit wieder an den Staat zurückgezahlt werden muss. Es bleibt noch eine Menge zu tun.