Das Bundesverfassungsgericht fordert elterlich-monetäre Solidarität mit den Kindern und fördert zugleich die Auflösung der familiären Bande? Ein Kommentar zum Beschluss 1 BvR 371/11

Immer diese Grundsicherung. Das „Hartz IV“-System war und ist höchst umstritten. Für die einen sind die Leistungen zu niedrig, für die anderen zu hoch. Die einen wollen die Insassen des Systems noch mehr fordern, die anderen lieber fördern. Und die einen beklagen eine zunehmende Drangsalierung der Hilfeempfänger und Kleinkrämerei auf der Seite der Leistungen, die anderen wollen da noch eine Schippe rauflegen. Und nun erfahren wir von einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), mit dem eine Verfassungsbeschwerde verworfen wird. Die den Kernbereich der Familie berührt. Schauen wir genauer hin.

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Berücksichtigung von Einkommen eines Familienangehörigen bei der Gewährung von Grundsicherung, so ist die Mitteilung des BVerfG überschrieben, die sich auf den Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11 bezieht. Bei diesem Beschluss geht es wie – wie zu zeigen sein wird – nicht nur um eine leistungsrechtliche Frage im engeren Sinne, sondern darüber hinaus werden hier ganz grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die darauf hindeuten, dass das Grundsicherungssicherungssystem aufgrund seiner Konstruktionsprinzipien selbst an die logischen Grenzen der ehrenwerten Verfassungsrichter stoßen muss.

Wie immer in solchen Fällen sollte zuerst der Blick auf den Sachverhalt, über den die Richter entscheiden mussten, gerichtet werden. Um den konkreten Sachverhalt aber richtig einordnen zu können, sind einige wenige Vorbemerkungen angebracht:

Grundsätzlich ist das Hartz IV-System dadurch gekennzeichnet, dass es ausgeht vom individuellen Bedarf, dessen Deckung aber immer auch im Haushaltskontext gesehen wird. Der „einfachste“ Fall ist also ein alleinstehender Mensch, der bekommt seinen Regelbedarf (zur Zeit noch 404 Euro) und die angemessenen Kosten für die Unterkunft, wenn er sonst nichts hat. Wenn er weitere Einkünfte hat, dann werden die angerechnet auf die Leistung des Trägers der Grundsicherung.
Leben zwei Erwachsene zusammen, ob nun verheiratet oder nicht, dann bilden sie eine Bedarfsgemeinschaft, in der sich nicht selten auch Kinder befinden. Eine solche bilden sie nur dann nicht, wenn es wie bei einer WG eine getrennte Haushaltsführung gibt. Wenn zwei Erwachsene zusammenleben und beide haben einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, dann bekommen sie den Regelbedarf – aber nicht den vollen, also 2 x 404 Euro, sondern beide jeweils nur 90 Prozent (derzeit also 364 Euro).

Ein ganz wichtiger Punkt ist aber die Grundsatzentscheidung, die man hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren (volljährigen) Kindern getroffen hat, als das SGB II im Jahr 2005 Wirklichkeit wurde. In der alten Sozialhilfe nach dem BSHG war es so, dass das Sozialamt bei Bedürftigkeit immer auch auf die Unterhaltsverpflichtung der Eltern zurückgreifen konnte. Das hat sich mit dem SGB II dem Grunde nach geändert, denn nun kann ein junger Erwachsener bedürftig sein, auch wenn dessen Eltern über – wie auch immer definiert – genügend Einkommen verfügen. Aber eben nur dem Grunde nach, denn auch wenn wir uns in vielerlei Hinsicht an die Altersgrenze 18, mit der die Volljährigkeit verbunden ist, gewöhnt haben, ist im Grundsicherungssystem eine zweite Altersgrenze eingezogen worden: 25 Jahre. Denn für junge Erwachsene, die zwar volljährig und wahlberechtigt sind, gilt bis zu dieser höheren Altersgrenze, dass sie nur 80 Prozent des Regelbedarfs bekommen, wenn sie im Haushalt der Eltern leben. Und wenn sie dort nicht leben, sondern einen eigenen Haushalt begründen wollen, dann müssen sie sich das vom Jobcenter genehmigen lassen. Bekommen sie die nicht, sondern ziehen dennoch aus, bekommen sie gleichsam als Strafe bis zum 25. Lebensjahr auch nur die 80 Prozent. Hintergrund dieser Regelung war, dass man verhindern will, dass die jungen Erwachsenen aus dem elterlichen Haushalt ausziehen und nur deshalb einen eigenen Haushalt begründen, um an „höhere Leistungen“ zu kommen, was natürlich die Ausgaben steigern würde. Diese 2006 nachträglich eingeführte Regelung wird übrigens auch in dem neuen Beschluss seitens des BVerfG keinesfalls beanstandet:

»Der Gesetzgeber bezieht erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr in die Bedarfsgemeinschaft ein, weil er damit das legitime Ziel verfolgt, Ansprüche auf Sozialleistungen in Schonung der Solidargemeinschaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungsberechtigten Personen auszurichten. Dafür ist die Orientierung am Zusammenleben und am Lebensalter geeignet, denn die Annahme, dass zusammenlebende Eltern und Kinder über das 18. Lebensjahr hinaus „aus einem Topf“ wirtschaften, ist plausibel. Die Ungleichbehandlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt ist auch zumutbar.«

Soweit einige Vorbemerkungen – und nun der Blick auf den konkreten Sachverhalt, der dem Beschluss des BVerfG zugrunde liegt:

»Der Beschwerdeführer lebte mit seinem Vater zusammen, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog. Der Träger der Grundsicherungsleistung bewilligte dem Beschwerdeführer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in verringerter Höhe. Dies begründete er damit, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, weshalb nur 80% der Regelleistung anzusetzen sei und die Rente seines Vaters zumindest teilweise bei der Berechnung des Anspruchs des Beschwerdeführers bedarfsmindernd berücksichtigt werden müsse. Das Sozialgericht wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwerdeführers und seines Vaters ab; Berufung und Revision waren erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.«

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen – und das aus drei Gründen:

1. » Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben … Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit kann … grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann … Maßgebend sind nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften „aus einem Topf“.«

2. »Der Gesamtbetrag der Leistungen, die für die Existenzsicherung des Beschwerdeführers anerkannt wurden, unterschreitet das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum nicht. Zwar sind dem Beschwerdeführer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folgt jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstellt, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt ist. Der Vater verfügte jedenfalls über hinreichende Mittel, um zur Existenzsicherung seines Sohnes beizutragen … Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfsgemeinschaft führe zu einer regelbedarfsrelevanten Einsparung von 20%, kann sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen.«

Fußnote: Bei der Argumentation sind sich die Verfassungsrichter offensichtlich nur „empirisch sicher“ für den Zwei-Personen-Haushaltsfall, der dem Beschluss zugrunde liegt. Denn sie merken an: »Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Verfahren, ob und gegebenenfalls ab welcher Anzahl hinzutretender Personen eine Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr gewährleistet ist, wenn für jede dieser weiteren Personen eine um 20 % geringere Regelleistung berechnet wird.«

3. »Die unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung für unter und über 25-jährige Kinder in Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil sowie zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern … ist mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.« Wie bereits zitiert sei die „Schonung der Solidargemeinschaft“ ein legitimes Ziel des Gesetzgebers.

Die Beschwerde (und der dahinter stehende konkrete Mensch) wurde dreifach abgebügelt – so könnte man das zusammenfassen.

Aber der eigentlich problematische Kern kommt erst noch. Schauen wir an den Anfang der Mitteilung des BVerfG über den Beschluss:

»Wenn von Familienangehörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammen leben, zumutbar erwartet werden kann, dass sie „aus einem Topf“ wirtschaften, darf bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenzsichernder Leistungen unabhängig von einem Unterhaltsanspruch das Einkommen und Vermögen eines anderen Familienangehörigen berücksichtigt werden. Allerdings kann nicht in die Bedarfsgemeinschaft einbezogen werden, wer tatsächlich nicht unterstützt wird.«

Der letzte Satz ist der hier entscheidende. Was bedeutet das? Dazu teilt uns das hohe Gericht im weiteren Gang der Argumentation mit:

»Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft. Eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen scheidet dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung muss dann ohne nachteilige Folgen für den Grundsicherungsanspruch möglich sein … Kommt es zu einer ernstlichen Verweigerung der Unterstützung, scheiden Kinder nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aus der Bedarfsgemeinschaft mit der Folge aus, dass ihnen die volle Regelleistung zusteht und eine Einkommensanrechnung nicht stattfindet; sie dürfen dann ohne Anspruchsverluste ausziehen.«

Alles klar? Wenn also die Eltern oder das alleinstehende Elternteil sich der Unterstützung des Kindes verweigern, dann gilt das alles nicht mit der Anrechnung und dem niedrigeren Regelbedarf. Wozu führt eine solche Argumentation?

Spielen wir das mal gedanklich durch: Wenn man die niedrigeren Leistungen für das volljährige Kind und die Anrechnung elterlichen Einkommens nicht schlucken will, wird man gezwungen sein, die gerade erst wieder vom BVerfG abgesegneten elterlich-monetären Fürsorgebande zu durchtrennen über eine (reale? simulierte?) familale Zerrüttung, deren Existenz oder Behauptung ja auch in den Augen der Verfassungsrichter dazu führt, dass die Kinder nicht mehr Bestandteil der Bedarfsgemeinschaft sein können. Wie sich dann die „zerrüttete“ Familie in der Wirklichkeit verhält, kann von Alpha bis Omega reichen und entzieht sich übrigens im Fall der nur auf dem Papier bestehenden Zerrüttung und des faktischen Zusammenhaltens und -wirtschaftens der eigentlich damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen, die nun ja auch durch das BVerfG abgesegnet worden sind. Mithin, so die nur auf den ersten Blick irritierende Zuspitzung, leistet der Beschluss des BVerfG einen aktiven Beitrag zur Auflösung der ansonsten verfassungsrechtlich so hoch gehaltenen familiären Bande.

Die offensichtlich erkennbare Malaise kann so formuliert werden: Wenn man sich dem doppelten Druck der a) Einkommensanrechnung bei den Eltern (was andere Erwachsene nicht haben) und b) dem auf 80 Prozent abgesenkten Regelbedarf (der niedriger liegt als bei den anderen Erwachsenen) entziehen will/muss, dann ist man gezwungen, die Situation einer Verweigerung der elterlichen Solidarität herbeizuführen oder – seien wir realistisch – zumindest eine solche zu simulieren. Dass die Ehrlichen wieder einmal die – vom Ergebnis her gesehen – Dummen sind, sei hier nur angemerkt.

Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen

In der Online-Ausgabe der BILD-Zeitung wurde man mit dieser Meldung konfrontiert: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) verschärft die Gangart gegenüber Hartz-IV-Empfängern. Schärfer ahnden sollen die Ämter laut einer neuen internen BA-Weisung „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.« Das hat Spiegel Online aufgegriffen: Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren. Dort erfahren wir mit Bezug auf den BILD-Artikel, der sich wiederum auf eine neue Weisung der BA an die Jobcenter beruft: »Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will … schärfer gegen Hartz-IV-Empfänger vorgehen, die ihre Bedürftigkeit selbst verursacht oder verschlimmert haben. Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen. Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.«

Was muss man sich denn darunter vorstellen – „sozialwidriges Verhalten“? Beginnen wir mit der „mildesten“ Variante, weil sie immer wieder gerne angeführt wird und sich vielen Beobachtern auch als ein bewusstes Fehlverhalten darstellt, das man ahnden kann/soll: »Hartz-IV-Empfänger, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben«, die fallen unter diese Kategorie, wobei hier gar nicht thematisiert werden soll, dass es in praxi gar nicht so einfach ist, diesen Tatbestand eindeutig festzustellen. 

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Ältere Kinder essen einfach mehr als jüngere und die ganz Kleinen haben genug? Zur Anhebung der Hartz IV-Regelsätze 2017

Es geht um 7 Millionen Menschen, das ist nun wirklich keine kleine Gruppe. Und es geht um die Geldleistungen an Menschen, die sich im SGB II, im SGB XII und im AsylbLG befinden und auf diese Leistungen existenziell angewiesen sind. Deren Höhe wird regelmäßig „angepasst“, also erhöht oder eben auch nicht, das nennt man dann eine „Nullrunde“, was natürlich ein Euphemismus ist, denn faktisch ist eine „Nullrunde“ – wir kennen das auch aus anderen Bereichen wie der Rente – eine Kürzung des Realwerts des zur Verfügung stehenden Geldes. Im Hartz IV-System trifft das im kommenden Jahr beispielsweise die ganz Kleinen, also Kinder von ihrer Geburt bis zum 6. Lebensjahr, denn der Geldbetrag für sie – derzeit 237 Euro im Monat für deren Regelbedarf – bleibt auf der gleichen Höhe eingefroren. Da gibt es nichts oben drauf. Im Vergleich dazu fast schon jubeln können die Kinder vom 7. bis zum 14. Lebensjahr (bzw. ihre Eltern, denen das Geld zur treuhänderischen Verwendung überwiesen wird), steigt doch deren Regelbedarf von 270 auf 291 Euro pro Monat, also um 21 Euro, was einen Anstieg von 7,8 Prozent ausmachen wird. Die Eltern dieser Kinder müssen sich hingegen mit 4 bzw. 5 Euro mehr zufrieden geben.

Wer denkt sich sowas aus, wird der eine oder andere fragen? Wie kommt man zu solchen Anpassungen? Man liegt immer richtig, wenn man davon ausgeht, dass das alles eine gesetzliche Grundlage haben muss und wenn es so konkret wird, dann spielen Rechtsverordnungen auch immer eine Rolle. Wie teilt man die Menschen im Grundsicherungssystem in unterschiedliche „Regelbedarfsstufen“ ein und wie bemisst man die – auch mit Blick auf das kommende Jahr anstehende – Anpassung einmal gesetzter Beträge?

Fleißige Referenten in dem für das Grundsicherungssystem zuständigen Bundesarbeitsministerium haben das alles zu Papier gebracht in einem Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 29.08.2016), der jetzt noch die Ressortabstimmung sowie die Verabschiedung im Kabinett überstehen muss, damit das alles rechtzeitig zum 1. Januar 2017 Wirklichkeit werden kann. Aber wieso ein Gesetz? Geht es nicht (nur) um eine Fortschreibung?

Eine Fortschreibung der Bedarfssätze erfolgt in all den Jahren, für die keine Neuermittlung von Regelbedarfen auf Basis der alle fünf Jahre durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorzunehmen ist. Das wurde für 2016 noch auf der Basis der EVS 2008 gemacht. Aber für 2017 geht es um eine Neuermittlung, da nunmehr die Daten der EVS 2013 vorliegen (die schon früher hätten herangezogen werden können/müssen, so meine Kritik am 30.11.2015 in dem Beitrag Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen – gedulden) sowie nachfolgend am 11.12.2015 in dem Beitrag Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber … Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren „System“, in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte „Ordnung“ sorgt).

Interessant und erwartbar die Reaktionen unmittelbar nach Bekanntgabe der Anpassungen der Hartz IV-Sätze: Zum einen aus den Reihen der Sozialverbände harsche Kritik: Hartz IV: Paritätischer bezeichnet Regelsatzpläne der Bundesregierung als „Affront“ oder – wenn auch etwas milder formulierend, aber ebenfalls kritisch – die Caritas mit Neuer Hartz-IV-Regelbedarf ist auf Kante genäht. Auch die Oppositionsparteien haben sich entsprechend zu Wort gemeldet: Hartz IV-Regelsatz weiter klein gerechnet, so hat der sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Wolfgang Sprengmann-Kuhn, sein Statement überschrieben. Und die Linken im Bundestag haben diese Pressemitteilung herausgebracht, Katja Kipping zitierend: Frau Nahles, das ist beschämend!

In nicht wenigen Medien hingegen wird man mit einer anderen Sichtweise konfrontiert: Hartz IV ist besser als sein Ruf, so hat Guido Bohsem seinen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung überschrieben: »Die Sozialleistung wird massiv kritisiert. Dabei ist sie eine Errungenschaft.« Darüber kann man nun trefflich streiten, aber es geht ja hier um die Anpassung der Hartz IV-Sätze und dazu schreibt er in seinem Kommentar:

»Eine wesentliche Errungenschaft dabei ist, dass sich die Höhe der Unterstützung inzwischen am Bedarf orientiert, höhere Lebenskosten und Lohnanstiege berücksichtigt werden. Das Verfahren ist nachvollziehbar und überprüfbar – politische Willkür im Positiven wie im Negativen ausgeschlossen.«

Als hätten sie sich abgesprochen stößt Kerstin Schwenn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in das gleiche Horn. Unter der Überschrift Hartz IV mit Methode schreibt sie, zugleich das „gegnerische Lager“ klar im Visier: »Die Erhöhungen folgen dabei strikten Vorgaben – und trotzdem kommt Kritik von den üblichen Verdächtigen. Das hat Methode.« Lesen wir weiter:

»Die üblichen Verdächtigen fallen derweil wieder mit Geschrei auf: die Linkspartei, der Paritätische Wohlfahrtsverband und diesmal auch das Kinderhilfswerk. Dabei folgen die Erhöhungen strikten Vorgaben. So zählt für die Festlegung der Leistungen ein Vergleich: Es wird geprüft, wie viel andere Geringverdiener, die ohne staatlichen Hilfe auskommen, für das tägliche Leben ausgeben, für Essen, Trinken, Kleidung und Mobilität. Sie sind der Maßstab für die Fürsorge des Staates. Außerdem orientiert sich die Anpassung der Grundsicherung an der Lohn- und Preisentwicklung. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Berechnungsmethode längst abgesegnet. Die Kritiker werfen der Regierung nun Trickserei vor und verlangen die Offenlegung der Statistiken.«

Da nähern wir uns doch dem fachlich interessanten Kern der (eigentlich zu führenden) Debatte, die aber mit solchen im „So ist es“-Stil vorgetragenen Feststellungen natürlich gerade im Keim erstickt werden soll. Aber wenn man sich der Sache aus einer fachlichen Sicht widmet, wird man schnell feststellen, dass es eben nicht so ist, dass wir es mit einem rationalen Verfahren zu tun haben, durch das Willkür ausgeschlossen sei und dass das Bundesverfassungsgericht „diese Berechnungsmethode längst abgesegnet“ hat und sich damit jegliche Kritik verbietet.

Wie so viele anderen Dinge in der Sozialpolitik kann man das nur historisch verstehen. Ein wichtiger Meilenstein war sicher das erste Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 (vgl. hierzu BVerfG 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. sowie für eine Analyse dieser wichtigen Entscheidung beispielsweise Anne Lenze: Hartz IV Regelsätze und gesellschaftliche Teilhabe
Das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 und seine Folgen, Bonn 2010). Bei diesem Urteil ist es aber nicht geblieben – weitere Meilensteine waren das Urteil aus dem Jahr 2012 zur Verfassungswidrigkeit der damaligen Höhe der Geldleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz  (vgl. dazu BVerfG 18.7.2012 – 1 BvL 10/10 u.a.) sowie dann im Jahr 2014 die vorerst letzte Entscheidung, auf die sich auch die Journalisten in ihrer Kommentierung berufen (vgl. hierzu BVerfG 23.7.2014 – 1 BvL 10/12 u.a. ). Dazu schreiben Anne Lenze und Wolfgang Conrads in ihrem 2015 veröffentlichten Beitrag Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts vom 23.7.2014 zu den Regelbedarfen und die Folgen für die Praxis:

»Die mittlerweile dritte Entscheidung in vier Jahren, in denen das Bundesverfassungsgericht sich zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums geäußert hat, hinterlässt einen äußerst ambivalenten Eindruck. Einerseits werden als sicher geglaubte Errungenschaften aus der ersten Grundsatzentscheidung vom 9.2.2010 fast kommentarlos wieder zurückgenommen, andererseits mäandert das Gericht zwischen einem „noch“ verfassungsgemäßen Zustand der derzeitigen Regelbedarfs-Ermittlung und dem Aufzeigen eines erheblichen verfassungsrechtlichen Korrekturbedarfs hin und her.«

Mit Blick auf die erste Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 merken die beiden Autoren an:

»Die größte Errungenschaft der Grundsatz-Entscheidung vom 9.2.2010 waren die dem Gesetzgeber auferlegten Begründungs-, Transparenz- und Konsequenzgebote bei der Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums. Da sich die Höhe der Regelleistung nicht aus dem Grundgesetz ableiten lässt, hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 vor allem auf den Grundrechtsschutz durch Verfahren abgestellt. Der wohl radikalste Satz der Entscheidung lautete: Zur Ermöglichung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die „Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang“.«

Offensichtlich hat sich das Verfassungsgericht im weiteren Fortgang der Dinge selbst erschrocken über die Folgen für den Gesetzgeber und/oder sich die Kritik eines Teils der Rechtsgelehrten hinsichtlich einer „Übergriffigkeit“ gegenüber der Politik einsichtig gezeigt – wie auch immer, mit der Entscheidung aus dem Jahr 2014 hat das Gericht die Zügel wieder deutlich gelockert, obgleich nicht ganz kapituliert vor der inhaltlichen Aufgabe einer Bewertung, ob die Höhe der Regelbedarfe (noch oder nicht mehr) akzeptabel sei, so kann man die Bewertung von Lenze und Conrads lesen.

Dass das Verfahren, das zu den neuen Regelsätzen im Hartz IV-System geführt hat, eben nicht frei von Manipulation und zumindest mit großen Fragezeichen zu versehen ist, soll an einem Beispiel illustriert werden.

Dazu gehen wir nochmals zurück zum ersten, noch sehr ambitionierten Urteil des BVerfG: In seiner Grundsatzentscheidung vom 9. Februar 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass diejenigen Haushalte, die von einem Einkommen unterhalb des Grundsicherungsniveaus leben, aus der Referenzgruppe herausgenommen werden.

Um das hier verborgene und eben nicht nur methodische Problem zu verstehen, muss man erinnern dürfen an eine schon vor Jahren vorgetragene Kritik, der sich die damals oppositionelle Frau Nahles vehement angeschlossen hat – um genau das jetzt zu prolongieren. Als die damalige Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) im Jahr 2010 die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen ließ, warfen ihr die Kritiker vor, getrickst zu haben, um Geld zu sparen. Von der Leyen geriet in die Kritik, weil sie die einkommensschwächsten 15 Prozent heranzog, um den Hartz-IV-Satz für Alleinstehende zu ermitteln. Zuvor hatten die unteren 20 Prozent als Basis gedient. Ein finanziell gewichtiger Unterschied, da die Gruppe der unteren 15 Prozent ein geringeres Einkommen hat als die unteren 20 Prozent der Haushalte. Aber damit nicht genug. Aus der Vergleichsgruppe der einkommensschwächsten 15 Prozent der Haushalte rechnete das Ministerium die Hartz-IV- und Sozialhilfeempfänger selbst heraus, um sogenannte Zirkelschlüsse zu vermeiden. So weit, so richtig. Aber: Auch die „Aufstocker“ hätte man heraus nehmen müssen, so die Kritiker, also Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich erwerbstätig sind und so wenig verdienen, dass sie aufstockenden Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und dann gab (und gibt) es noch die so genannten „verdeckt Armen“, also Menschen, die eigentlich Anspruch hätten auf SGB II-Leistungen, diese aber nicht in Anspruch nehmen. Die hätte man auch herausfiltern müssen. Hat man aber nicht. Eine immer noch (und für den „Kostenträger“: Gott sei Dank) keine kleine Gruppe.
Das wurde auch empirisch belegt: In einem vom BMAS in Auftrag gegebenen Gutachten hatte das IAB 2013 ausgeführt, dass in Deutschland 3,1 bis 4,9 Mio. Personen leben, die Sozialleistungen nicht in Anspruch nehmen (vgl. hierzu Mikroanalytische Untersuchung zur Abgrenzung und Struktur von Referenzgruppen für die Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008). Nachfolgend zum IAB-Gutachten vgl. auch die Expertise von Irene Becker: Der Einfluss verdeckter Armut auf das Grundsicherungsniveau, Düsseldorf 2015.

Und die Konsequenz des BVerfG?

Dazu Lenze und Conradis in ihrem Beitrag: »In dem Beschluss vom 23.7.2014 wird nun sehr knapp beschieden, dass die Herausnahme der verdeckt Armen aus der Referenzgruppe überhaupt nicht mehr notwendig sei. Alle Experten seien nämlich der Meinung, dass die Zahl der Haushalte in verdeckter Armut nur im Wege einer Schätzung zu beziffern sei. Auch eine sachgerechte Schätzung sei jedoch mit Unsicherheiten behaftet, weshalb der Gesetzgeber nicht gezwungen sei, zur Bestimmung der Höhe von Sozialleistungen auf eine bloß näherungsweise Berechnung abzustellen.«

Dennoch und fachlich völlig zu Recht spielt das auch heute eine Rolle in der Argumentation der Kritiker, so beispielsweise in der Stellungnahme der Caritas: »Am Beispiel der Energiekosten zeige sich, dass der Regelbedarf nicht ausreichend ist. Zudem dürften verdeckt Arme nicht als Teil der Ausgangsgruppe für die Berechnung der Grundsicherung genommen werden. Seröse Schätzungen haben gezeigt, dass viele Haushalte trotz geringer Einkommen keine Leistungen beantragen. Die Caritas hat wiederholt gefordert, Konsequenzen aus dieser Tatsache zu ziehen und die Referenzgruppe entsprechend zu bereinigen.«

Man könnte und muss weitere kritische Punkte ansprechen. Beispielsweise den bereits von der Caritas aufgerufenen Punkt Energiekosten. Vgl. dazu bereits aus dem vergangenen Jahr den Blog-Beitrag Hartz IV: Teurer Strom, Energiearmut und das ewige Pauschalierungsdilemma. Man könnte auch verweisen auf das Problem nicht-gedeckter Wohnkosten, aus dem dann resultiert, dass die Differenzbeträge aus den Regelleistungen gedeckt werden müssen.
Und es sind wahrlich keine großen Beträge, um die es hier geht. Wenn die Erhöhung zum 1. Januar 2017 kommt, dann stehen für Nahrungsmittel Erwachsenen täglich 4,60 Euro zu und Kindern zwischen 2,67 Euro und 4,72 Euro. Pro Tag.

Es bleibt für den einen oder anderen noch die Frage, wieso den ganz kleinen Kindern nicht einmal ein Euro mehr gewährt wird, während bei den Regelsätzen für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren eine Erhöhung um acht Prozent auf 291 Euro verkündet wurde. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen 0 und 8 Prozent?

Dazu Michael Fabricius in seinem Artikel Das Lebensmittel-Dilemma der Hartz-IV-Empfänger:

Das wird »mit einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes begründet. Der Bedarf an Lebensmitteln und Getränken in dieser Altersgruppe liege deutlich höher als bislang berechnet.
Doch tatsächlich könnte dahinter ein relativ simpler statistischer Effekt liegen. Bei der aktuellen Verbrauchsstichprobe war der Anteil der älteren Kinder signifikant höher als bei der vorangegangenen, wie aus informierten Kreisen verlautet. Und da ältere Kinder nun einmal mehr Nahrungsmittel konsumieren als jüngere, stieg die Bedarfsrechnung sprunghaft an.«

Und Statistik-Freaks sollten an dieser Stelle mal einen Blick in die hinteren Teile des bereits angesprochenen Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 29.08.2016) werfen. Wenn man sich tief genug eingräbt, dann wird man feststellen, dass beispielsweise die Zahl der Haushalte mit einer bestimmten Kinderzahl, aus deren Verbrauchsverhalten die Regelbedarfe abgeleitet werden, bei 200 bis 300 liegen. Aus denen dann Berechnungen gemacht werden, die für sehr viele Menschen in Deutschland von großer Bedeutung sind. Und wenn man dann weiß, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zwar ein überaus beeindruckendes Statistikwerk ist, zugleich aber die gewissenhafte und realistische Protokollierung der Ausgaben sowie die Angaben der Einkommen eine Menge Aufwand verursacht und überhaupt erst einmal verstanden und dann über einen längeren Zeitraum auch durchgehalten werden muss, der wird die daraus ermittelten Daten mit Respekt, zugleich aber auch mit einer Grundskepsis betrachten.

Fazit: Journalisten sollten mehr als vorsichtig sein, wenn sie so rigoros in die Welt setzen, dass es sich bei der Anpassung bzw. Neuberechnung der Regelbedarfe um ein unangreifbares Verfahren handelt und Kritik daran nicht zulässig sei.

Jobcenter allein zu Haus und nachhaltig überfordert (nicht nur) mit den Folgen eines gescheiterten Rechtsvereinfachungs- und Bürokratieabbauversprechens

Normalerweise ist es ja so, dass man es gerne sieht, wenn die eigene Beurteilung eines Sachverhalts zu einem späteren Zeitpunkt bestätigt wird, so dass man sagen kann, das kam jetzt nicht überraschend. Aber wenn es sich um sozialpolitische Sachverhalte handelt, dann wird diese Neigung gegen Null gefahren, wenn man bedenkt, dass es sich oftmals um Verschlechterungen, Kürzungen oder Streichungen von Leistungen handelt, auf die Menschen angewiesen sind, die sich in Not befinden oder die sich eben nicht selbst helfen können. Oder die einer bürokratischen Maschinerie ausgeliefert sind. Davon können wir ausgehen, wenn wir über die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), umgangssprachlich auch als Hartz IV-System bezeichnet, sprechen.

Und hier hat es vor kurzem wieder einmal gesetzgeberische Aktivitäten gegeben, die auf den ersten Blick Hoffnung begründen, wenn sie denn Wirklichkeit geworden wären. Es geht um das 9. SGB II-Änderungsgesetz, das nunmehr auch sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat verabschiedet worden ist. Der Startpunkt liegt schon einige Jahre zurück: Im November 2012 hatte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II beschlossen. Über den Weg der Rechtsvereinfachung, so der explizite Auftrag, sollte Bürokratie abgebaut und in Folge die Verwaltung, also die Jobcenter, entlastet werden. Hört sich gut an. Und die Arbeitsgruppe hat auch gearbeitet. Von Juni 2013 bis Juni 2014 hat sie eine ganze Reihe an Vorschlägen erarbeitet (124 gingen in die Arbeitsgruppe und 36 sind dann von allen getragen wieder rausgekommen). Wie ein guter Schinken musste das Ergebnis abhängen, wurde angereichert um zwischenzeitlich aufgelaufene Veränderungswünsche der Politik bei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und ist dann nach einigen koalitionsinternen Querelen gute zwei Jahre später in den Gesetzgebungsprozess eingespeist worden.
Aber was ist herausgekommen? Man kennt das Muster: Da startet man mit einer guten, ehrenwerten Absicht (Recht vereinfachen, Bürokratie abbauen, die Verwaltung entlasten) und landet am Ende bei Gegenteil (das Recht wird komplizierter, die Bürokratie schlägt neue und zusätzliche Kapriolen und die Verwaltung kollabiert). Leider keine übertriebene Kurzfassung dessen, was Union und SPD da abgeliefert haben.

Dabei hört sich das alles doch so vielversprechend an: „Ziel dieses Gesetzes ist es …, dass leistungsberechtigte Personen künftig schneller und einfacher Klarheit über das Bestehen und den Umfang von Rechtsansprüchen erhalten und die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern anzuwendenden Verfahrensvorschriften vereinfacht werden“, konnte man dem Gesetzentwurf entnehmen.

Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Deutschen Bundestages, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat (vgl. dazu Experten bezweifeln eine Entlastung der Jobcenter), zu der auch der Verfasser geladen war, wurden wie üblich schriftliche Stellungnahmen abgegeben. In meiner Stellungnahme (vgl. dazu Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 127-133) findet man am Ende der Ausführungen dieses Fazit:

»In der Gesamtschau ist das teilweise allein aufgrund des Detaillierungsgrades extrem komplizierte 9. SGB II-Änderungsgesetz zurückzuweisen. Es macht viele Dinge komplizierter, belastet Leistungsberechtigte zusätzlich und verschärft die heute schon vorhandene Unwucht zuungunsten der Leistungsberechtigten und führt vor allem nicht nur nicht zu einer erkennbaren Entlastung der Jobcenter-Mitarbeiter, sondern wird deren Belastung in der Summe weiter erhöhen.« (S. 132)

Das war wie gesagt Ende Mai und auch zahlreiche andere Sachverständige bzw. Organisationen hatten sich äußerst kritisch zu den damals noch geplanten, mittlerweile verabschiedeten Änderungen im SGB II positioniert. Keiner kann also sagen, man habe es nicht wissen können.

Und im August 2016 berichtet Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Nachhaltig überlastet: »Ein neues Gesetz sollte die Mitarbeiter in Jobcentern eigentlich entlasten. Stattdessen habe es für mehr Arbeit gesorgt, kritisieren sie. Die Arbeitslosen frustriert es.«
Knapp »einen Monat, nachdem viele der neuen Regeln in Kraft getreten sind, erheben Jobcenter-Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen die Ministerin: Ihr Gesetz habe das Gegenteil bewirkt und die Überlastung der Mitarbeiter noch verschärft.«

Auslöser für diesen Artikel ist ein Brief, den die Personalräte der Jobcenter an den zuständigen Ausschuss des Bundestages sowie an die Arbeitsministerien der Bundesländer geschrieben haben. Das Original findet man hier:

Die Jobcenterpersonalräte nach § 44h Abs.4 SGB II: Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand, Hannover, 24.08.2016

Ludwig berichtet in ihrem Artikel von einigen der Kritikpunkte der Personalräte: Jobcenter sollen Hartz-IV-Empfänger künftig auch dann noch beraten, wenn sie bereits einen Job gefunden haben. Sie sollen die Menschen ausführlicher über ihre Rechte aufklären und sich auch um Azubis kümmern, deren Lohn nicht zum Leben reicht. „Wir finden es gut, die Beratung zu verbessern, aber wir brauchen mehr Mitarbeiter, um das zu schaffen“, wird Moritz Duncker aus dem Vorstand der Jobcenterpersonalräte zitiert.

Das muss man vor dem Hintergrund einer seit längerem im bestehenden System gegebenen Unterausstattung der Jobcenter mit Personal sehen. Das Bundesarbeitsministerium höchstselbst hatte vor drei Jahren die Unternehmensberatung Bearing Point beauftragt, den Personalbedarf in denjenigen Abteilungen der Jobcenter zu untersuchen, die das Arbeitslosengeld auszahlen. 200 bis 600 Vollzeitstellen hätten damals in dieser Sparte bundesweit gefehlt, so der damalige Befund (vgl. den Forschungsbericht des BMAS Personalbemessung Leistungsgewährung in den gemeinsamen Einrichtungen SGB II vom Januar 2015). Zwar wurden diese Stellen mit Zeitverzögerung Schritt für Schritt besetzt, aber seit dem gab es keine neue Personalbemessung, während sich die Aufgaben natürlich in der Zwischenzeit verändert haben und teilweise auch ausgeweitet wurden bzw. gerade werden, wenn wie an dieser Stelle mal an die vielen Flüchtlinge denken, von denen immer mehr nach ihrer Anerkennung in das Hartz IV-System kommen und dort versorgt werden müssen. Hinzu kommt jetzt die Umsetzung der Neuregelungen durch das 9. SGB II-Änderungsgesetz.

Ludwig erwähnt in ihrem Artikel, dass die Personalräte der Jobcenter bereits im vergangenen Jahr das Bundesarbeitsministerium gedrängt haben, eine neue Personalbemessung durchzuführen. Und hier findet man einen entlarvenden Passus:

»Nach langen Debatten mit Ländern und Kommunen holten ihre Mitarbeiter demnach im Dezember ein Schreiben der Arbeitsagentur hervor: Man lehne die Studie zum Personalbedarf grundsätzlich ab, stand darin. Schließlich würden so „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“. Damit habe das Ministerium das Projekt für gescheitert erklärt. Auf einen Alternativvorschlag warteten die Mitarbeitervertreter bis heute vergeblich.«

Das wäre fast schon als putzige Argumentation zu bezeichnen, wenn sie nicht so handfeste Konsequenzen für die Betroffenen vor Ort hätte. Der „moderne Dienstleister am Arbeitsmarkt“, wie sich die Bundesagentur für Arbeit selbst gerne beschreibt in Fortsetzung der offiziellen Betitelung der Hartz-Kommission aus dem Jahr 2002, lehnt also eine Studie zum Personalbedarf ab, weil durch eine solche „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“ werden. Ja genau. Das ist eigentlich der Zwecke einer Personalbemessung, wie es – wiederum eigentlich – betriebswirtschaftlicher Standard ist. Die Ablehnung der BA hätte korrekterweise so formuliert werden müssen:

Also wir wissen natürlich, dass eine echte Analyse der Personalsituation ergeben würde, dass die Jobcenter im gegebenen System unterausgestattet sind mit Personal, mithin Personalmehrbedarf herauskommen wird. Da wir diesen aber nicht decken können bzw. wollen, verzichten wir lieber gleich auf die Analyse und um das nicht zugeben zu müssen, verkleistern wir das mit dem „Argument“, dass man über diesen Weg nicht die Rationalisierungs- und Produktivitätssteigerungseffekte (wie man die auch immer erreichen will) abbilden kann. Ja, stimmt, weil das zwei unterschiedliche Dinge sind, wie man im ersten Semester Personalwirtschaft lernen sollte.

Aber wieder zurück zu den aktuellen Ausführungen der Jobcenter-Personalräte mit Blick auf das doch so hoffnungsversprechend gestartete Projekt Rechtsvereinfachung und Bürokratieabbau, das nun in das 9. SGB II-Änderungsgesetz gegossen worden ist.
Kristiana Ludwig zitiert in Anknüpfung an die erwähnte Personalbedarfsanalyse von Bearing Point aus dem Jahr 2013 ein Beispiel:

»Als das Beratungsunternehmen 2013 die Mitarbeiter danach fragte, was ihnen die meiste Zeit raube, nannten fast 80 Prozent von ihnen die sogenannten Rückforderungen. Denn vor allem Geringverdiener, die mit Hartz IV ihren schmalen Lohn aufstocken, müssen regelmäßig Beträge an das Jobcenter zurückzahlen: Wenn ihr Einkommen schwankt und die Behörde mehr zugeschossen hat, als sie müsste, bekommen sie zum Teil Monate später eine Rechnung. Selbst Kleinstbeträge von wenigen Euro fordern die Ämter zurück. Wer nicht zahlt, der bekommt Mahnungen. Denn auch bei Cent-Beträgen kennt die Arbeitsagentur keine Kulanz.
Während der Beratungen für das neue Gesetz hatten viele Experten gefordert, Arbeitslosen und Jobcentern das Leben zu erleichtern, indem auf die Eintreibung von Kleinstbeträgen verzichtet wird. Doch Nahles blieb bei der aufwendigen Praxis.«

Werfen wir einen Blick in das Original, also in die Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand der Jobcenterpersonalräte, die Harald Thomé dankenswerterweise auf seiner Seite eingestellt hat und schauen uns einige ausgewählte Kritikpunkte der Personalräte einmal genauer an:

Da wird beispielsweise unter der sperrigen Überschrift „Erbringung von Eingliederungsleistungen in Arbeit an Anspruchsberechtigte von Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld durch die Agenturen für Arbeit (§ 5 Abs. 4 SGB II)“, was als ein Beispiel für die „Entlastung“ der Jobcenter durch die gesetzliche Neuregelung angeführt wird, da nun die Arbeitsagenturen die Arbeit abnehmen sollen, auf folgende Relativierung hingewiesen:

»Mit Stand März 2016 gab es 91.000 sogenannte Aufstocker, die zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld auch Grundsicherungsleistungen bezogen haben. Bei insgesamt 4.328.093 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die durch die Arbeitsvermittlung der Jobcenter zu betreuen waren, reduziert sich der Erfüllungsaufwand in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter um rund 2,1%. Dies ist also bereits kein riesiger Schritt zur Entlastung in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.«

Und auch diese minimale „Entlastung“ zerbröselt in der Wirklichkeit, denn die Personalräte der Jobcenter weisen darauf hin, »dass im SGB II der Ansatz der ganzheitlichen Beratung der Bedarfsgemeinschaft verankert ist und Bedarfsgemeinschaften häufig aus mehr als nur einer Person bestehen. In diesen Fällen wird eine weitere Schnittstelle zwischen Jobcentern und Agenturen für Arbeit geschaffen und der Ansatz der ganzheitlichen Beratung zumindest erheblich erschwert. Es wird ja nur der eigentliche Aufstocker durch die Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit betreut, der Rest der Bedarfsgemeinschaft verbleibt in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.« Am Ende kann als Ergebnis der geplanten Entlastung herauskommen: Für die Jobcenter ändert sich nichts, aber die Agenturen für Arbeit werden stärker belastet.

Ein weiterer kritischer Punkt aus Sicht der Beschäftigtenvertreter ist die – ebenfalls sicher gut gemeinte und als Verbesserung für die „Kunden“ daherkommende – „Ausdehnung der Beratungspflicht der Jobcenter (§ 14 Abs. 2 SGB II)“. Im neuen § 14 Abs. 2 S. 3 SGB II wird nun festgeschrieben: „Art und Umfang der Beratung richten sich nach dem Beratungsbedarf der leistungsberechtigten Person.“ Dazu wird angemerkt:

»Im Bereich der Massenverwaltung geht die Rechtsprechung bisher davon aus, dass der Sozialleistungsträger lediglich zu einer Beratung verpflichtet ist, die sich aufgrund von konkreten Fallgestaltungen unschwer ergibt (Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Juli 2003, B 4 RA 13/03 R). Es bleibt abzuwarten, welche Anforderungen die Sozialgerichte an die neue Beratungspflicht innerhalb des SGB II knüpfen werden. Dem Wortlaut der Gesetzesbegründung zu folge ist jedoch bereits jetzt klar, dass es sich bei dieser Regelung um keine Entbürokratisierung handelt. Diese Norm wird selbstverständlich zu einem Mehraufwand in den Jobcentern führen.«

Das nächste Beispiel aus dem Brandbrief der Jobcenterpersonalräte bezieht sich auf einen Sachverhalt, der vor kurzem in den Medien kritisch aufgegriffen wurde und zu solchen Schlagzeilen geführt hat: Hartz-IV-Empfänger sollen stärker kontrolliert werden: »Die Jobcenter sollen die Einkünfte von Hartz-IV-Haushalten künftig häufiger kontrollieren. Der Datenabgleich soll nun einmal monatlich erfolgen – statt wie bisher einmal im Quartal«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.  Die Neuregelung besteht aus zwei Komponenten: Zum einen die Verkürzung des zeitlichen Abstands der Überprüfungen auf einen monatlichen Rhythmus und in den Datenabgleich werden auch Personen einbezogen, die in einem Haushalt mit einem Hartz IV-Bezieher leben, aber selbst keine Leistungen beziehen. Dazu die Jobcenterpersonalräte unter der Überschrift „Die Erhöhung der Frequenz des automatisierten Datenabgleichs (§ 52 Abs. 1 S. 3 SGB II)“:

»Es wäre erforderlich, hier eine technische Lösung einzuführen, im Zuge derer die Überschneidungsmitteilungen direkt mit den Angaben aus dem Leistungsfachverfahren Allegro abgeglichen werden und bereits bekannte Meldungen automatisiert aussortiert werden. Dies wäre eine echte Verfahrensvereinfachung. Durch die Erhöhung der Frequenz des händisch durchzuführenden Datenabgleichs fürchten wir jedenfalls erhebliche Mehrbelastungen.«

Jeder, der schon mal in einer Massenverwaltung gearbeitet hat, kennt die furchterregende Bedeutung der Begrifflichkeit „händisch durchzuführender Datenabgleich“.

Und der letzte in diesem Beitrag zu erwähnende Kritikpunkt aus den Reihen der Jobcenter-Beschäftigten wird sich jedem sofort erschließen, der Verwaltungserfahrung hat – für die anderen klingt das nach böhmischen Dörfern:

»Zu guter Letzt ist auch der Mehraufwand zu erwähnen, den die Belegschaften der Jobcenter schlichtweg damit haben, sich in die neuen Regelungen einzuarbeiten und sich diese anzueignen. Auch die IT-Verfahren sind auf die neue Gesetzeslage hin anzupassen und ihre diesbezügliche Handhabung muss von den Belegschaften ebenfalls erlernt werden. Es ist vorgesehen, dass die technische Umsetzung erst im März 2017 mit einer neuen Programmversion beginnen wird und voraussichtlich im November 2017 abgeschlossen sein wird. Bis dahin erfordert das 9. SGB II-Änderungsgesetz insgesamt 9 Übergangsregelungen und 3 Verfahrenshinweise. Diese Umgehungslösungen sind in der Regel sehr umständlich, arbeits- und zeitintensiv und schwer nachvollziehbar.«

Ja, so ist das. Da macht man in Berlin eine umfangreiche, kleinteilige Gesetzesänderung, setzt das in Kraft und denkt: jetzt läuft’s. Aber dass das umgesetzt werden muss in den technischen Systemen, dass die Leute geschult werden müssen, dass sie übergangsweise Krücken-Lösungen praktizieren müssen, weil die neue Rechtslage noch nicht abgebildet sind in den IT-Systemen, daran denken die Praktiker, nicht aber die Theoretiker.

Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht gesprochen von den zusätzlichen Arbeiten, die sich ergeben werden aus der Tatsache, dass das 9. SGB II-Änderungsgesetz zahlreiche Regelungen enthält zuungunsten der Hartz IV-Empfänger, die zu neuen Klageverfahren vor den überlasteten Sozialgerichten führen werden – bereits in meiner schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung im Deutschen Bundestag habe ich dazu geschrieben, »dass im Ergebnis aus einem „Rechtsvereinfachungsgesetz“ mit Blick auf Teile der Betroffenen ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ geworden ist, da über einzelne, teilweise höchst diffizile Regelungen reale Verschlechterungen für die Leistungsberechtigten zu erwarten sind« (Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 128).

Und das alles findet statt im Kontext einer ganz erheblichen Zunahme der zusätzlichen Arbeitsbelastung der Jobcenter, die sich dadurch ergibt, dass nunmehr und spürbar immer mehr Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung in das Grundsicherungssystem wechseln, das in vielen Fällen für viele Jahre für sie zuständig sein wird, selbst wenn der eine oder andere eine Beschäftigung finden wird, denn oftmals bleiben die dann als Aufstocker mit ihrer Bedarfsgemeinschaft den Jobcentern erhalten, weil sie zu wenig verdienen (können), um aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen. Man darf an dieser Stelle zugleich daran erinnern, dass die vielen geflüchteten Menschen, die nun von den Jobcentern betreut werden müssen, nicht nur eine quantitative Zunahme der Hilfeempfänger darstellen, sondern das eine Vielzahl weiterer Aufgaben damit einhergehen, man denke hier nur an die Frage der Sprachfähigkeit. Um nur ein Beispiel zu nennen.

Im Zusammenspiel aller genannten Entwicklungen wird das Jobcenter-System in den kommenden Monaten weiter heiß laufen. Das hat natürlich auch Auswirkungen für diejenigen, die vor dem Schreibtisch der Jobcenter-Mitarbeiter sitzen. Dazu Kristiana Ludwig in ihrem Artikel: »Harald Thomé vom Erwerbslosenverein Tacheles in Wuppertal sagt, die überlasteten Mitarbeiter führten bei den Arbeitslosen zu viel Frustration. Oft bleibe nicht genug Zeit für den einzelnen Fall: Die Zuständigen wechselten häufig, Fehler passierten.« Das werden einige, vor allem oben, als einen eben unvermeidbaren „Kollateralschaden“ bezeichnen.

Für andere hingegen stellt sich das alles als ein sozialpolitisch nicht akzeptables Systemversagen dar. Und keiner kann sagen, man sei „überrascht“ worden von der wirklichen Wirklichkeit oder „überrollt“ von den Ereignissen, die man nicht habe vorhersehen können. Hier ist die Beweislage ziemlich eindeutig. Diese Ausreden gelten nicht.

Verkehrte Welten: Rente mit 69, ach was: besser 73. Als Forderung mal wieder in den Medien. Und Jobcenter schicken Arbeitslose mit 63 in die Zwangsrente

Derzeit wird mal wieder kräftig die Renteneintrittsaltersverlängerungssau durchs mediale Dorf getrieben. Die Bundesbank wird zitiert mit der Aussage, eigentlich müsste man die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalter schrittweise über die bereits gültigen 67 auf 69 Jahre vorantreiben und das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft sieht gar den Bedarf, die Altersgrenze auf 73 anzuheben. In einigen Medien gibt es dann die passende Begleitmusik. Nur ein Beispiel dazu von Dyrk Scherff: Rente mit 73, so lapidar ist sein Artikel überschrieben. Darin findet man diese sprachlos machende Feststellung ex cathedra:

»Zunächst einmal ist es nicht verwerflich, längeres Arbeiten vorzuschlagen. Denn noch nie hat eine Rentnergeneration so ausgiebig ihren Ruhestand genießen dürfen wie die heutige: 20 Jahre lang, doppelt so lang wie 1960. Hinzu kommt, dass von diesen 20 Jahren ein größerer Teil als früher in guter Gesundheit verbracht wird. Die Rentner bekommen also viel gesunde Zeit geschenkt. Davon einige wenige Jahre durch einen späteren Ruhestand wieder abzugeben wäre nicht so unzumutbar, wie manche Kritiker behaupten. Es könnte die Älteren sogar glücklicher machen, etwas länger zu arbeiten. Denn sie haben ein zu optimistisches Bild vom Ruhestand, können es vorher kaum erwarten, in Rente zu gehen. Nachher sind sie oft ernüchtert.«

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