Immer diese Grundsicherung. Das „Hartz IV“-System war und ist höchst umstritten. Für die einen sind die Leistungen zu niedrig, für die anderen zu hoch. Die einen wollen die Insassen des Systems noch mehr fordern, die anderen lieber fördern. Und die einen beklagen eine zunehmende Drangsalierung der Hilfeempfänger und Kleinkrämerei auf der Seite der Leistungen, die anderen wollen da noch eine Schippe rauflegen. Und nun erfahren wir von einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), mit dem eine Verfassungsbeschwerde verworfen wird. Die den Kernbereich der Familie berührt. Schauen wir genauer hin.
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Berücksichtigung von Einkommen eines Familienangehörigen bei der Gewährung von Grundsicherung, so ist die Mitteilung des BVerfG überschrieben, die sich auf den Beschluss vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 371/11 bezieht. Bei diesem Beschluss geht es wie – wie zu zeigen sein wird – nicht nur um eine leistungsrechtliche Frage im engeren Sinne, sondern darüber hinaus werden hier ganz grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die darauf hindeuten, dass das Grundsicherungssicherungssystem aufgrund seiner Konstruktionsprinzipien selbst an die logischen Grenzen der ehrenwerten Verfassungsrichter stoßen muss.
Wie immer in solchen Fällen sollte zuerst der Blick auf den Sachverhalt, über den die Richter entscheiden mussten, gerichtet werden. Um den konkreten Sachverhalt aber richtig einordnen zu können, sind einige wenige Vorbemerkungen angebracht:
Grundsätzlich ist das Hartz IV-System dadurch gekennzeichnet, dass es ausgeht vom individuellen Bedarf, dessen Deckung aber immer auch im Haushaltskontext gesehen wird. Der „einfachste“ Fall ist also ein alleinstehender Mensch, der bekommt seinen Regelbedarf (zur Zeit noch 404 Euro) und die angemessenen Kosten für die Unterkunft, wenn er sonst nichts hat. Wenn er weitere Einkünfte hat, dann werden die angerechnet auf die Leistung des Trägers der Grundsicherung.
Leben zwei Erwachsene zusammen, ob nun verheiratet oder nicht, dann bilden sie eine Bedarfsgemeinschaft, in der sich nicht selten auch Kinder befinden. Eine solche bilden sie nur dann nicht, wenn es wie bei einer WG eine getrennte Haushaltsführung gibt. Wenn zwei Erwachsene zusammenleben und beide haben einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II, dann bekommen sie den Regelbedarf – aber nicht den vollen, also 2 x 404 Euro, sondern beide jeweils nur 90 Prozent (derzeit also 364 Euro).
Ein ganz wichtiger Punkt ist aber die Grundsatzentscheidung, die man hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren (volljährigen) Kindern getroffen hat, als das SGB II im Jahr 2005 Wirklichkeit wurde. In der alten Sozialhilfe nach dem BSHG war es so, dass das Sozialamt bei Bedürftigkeit immer auch auf die Unterhaltsverpflichtung der Eltern zurückgreifen konnte. Das hat sich mit dem SGB II dem Grunde nach geändert, denn nun kann ein junger Erwachsener bedürftig sein, auch wenn dessen Eltern über – wie auch immer definiert – genügend Einkommen verfügen. Aber eben nur dem Grunde nach, denn auch wenn wir uns in vielerlei Hinsicht an die Altersgrenze 18, mit der die Volljährigkeit verbunden ist, gewöhnt haben, ist im Grundsicherungssystem eine zweite Altersgrenze eingezogen worden: 25 Jahre. Denn für junge Erwachsene, die zwar volljährig und wahlberechtigt sind, gilt bis zu dieser höheren Altersgrenze, dass sie nur 80 Prozent des Regelbedarfs bekommen, wenn sie im Haushalt der Eltern leben. Und wenn sie dort nicht leben, sondern einen eigenen Haushalt begründen wollen, dann müssen sie sich das vom Jobcenter genehmigen lassen. Bekommen sie die nicht, sondern ziehen dennoch aus, bekommen sie gleichsam als Strafe bis zum 25. Lebensjahr auch nur die 80 Prozent. Hintergrund dieser Regelung war, dass man verhindern will, dass die jungen Erwachsenen aus dem elterlichen Haushalt ausziehen und nur deshalb einen eigenen Haushalt begründen, um an „höhere Leistungen“ zu kommen, was natürlich die Ausgaben steigern würde. Diese 2006 nachträglich eingeführte Regelung wird übrigens auch in dem neuen Beschluss seitens des BVerfG keinesfalls beanstandet:
»Der Gesetzgeber bezieht erwachsene Kinder bis zum 25. Lebensjahr in die Bedarfsgemeinschaft ein, weil er damit das legitime Ziel verfolgt, Ansprüche auf Sozialleistungen in Schonung der Solidargemeinschaft an der konkreten Bedürftigkeit der leistungsberechtigten Personen auszurichten. Dafür ist die Orientierung am Zusammenleben und am Lebensalter geeignet, denn die Annahme, dass zusammenlebende Eltern und Kinder über das 18. Lebensjahr hinaus „aus einem Topf“ wirtschaften, ist plausibel. Die Ungleichbehandlung zwischen über und unter 25-jährigen Kindern im elterlichen Haushalt ist auch zumutbar.«
Soweit einige Vorbemerkungen – und nun der Blick auf den konkreten Sachverhalt, der dem Beschluss des BVerfG zugrunde liegt:
»Der Beschwerdeführer lebte mit seinem Vater zusammen, der eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezog. Der Träger der Grundsicherungsleistung bewilligte dem Beschwerdeführer Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in verringerter Höhe. Dies begründete er damit, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vater in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, weshalb nur 80% der Regelleistung anzusetzen sei und die Rente seines Vaters zumindest teilweise bei der Berechnung des Anspruchs des Beschwerdeführers bedarfsmindernd berücksichtigt werden müsse. Das Sozialgericht wies die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage des Beschwerdeführers und seines Vaters ab; Berufung und Revision waren erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer vornehmlich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.«
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen – und das aus drei Gründen:
1. » Der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben … Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit kann … grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen von Personen einbezogen werden, von denen ein gegenseitiges Einstehen erwartet werden kann … Maßgebend sind nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften „aus einem Topf“.«
2. »Der Gesamtbetrag der Leistungen, die für die Existenzsicherung des Beschwerdeführers anerkannt wurden, unterschreitet das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum nicht. Zwar sind dem Beschwerdeführer nur Leistungen in verminderter Höhe bewilligt worden. Dies folgt jedoch aus der teilweisen Anrechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Vaters, weil der Gesetzgeber mit den angegriffenen Regelungen unterstellt, dass sein Bedarf durch entsprechende Zuwendungen des Vaters gedeckt ist. Der Vater verfügte jedenfalls über hinreichende Mittel, um zur Existenzsicherung seines Sohnes beizutragen … Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfsgemeinschaft führe zu einer regelbedarfsrelevanten Einsparung von 20%, kann sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen.«
Fußnote: Bei der Argumentation sind sich die Verfassungsrichter offensichtlich nur „empirisch sicher“ für den Zwei-Personen-Haushaltsfall, der dem Beschluss zugrunde liegt. Denn sie merken an: »Nicht zu entscheiden war im vorliegenden Verfahren, ob und gegebenenfalls ab welcher Anzahl hinzutretender Personen eine Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr gewährleistet ist, wenn für jede dieser weiteren Personen eine um 20 % geringere Regelleistung berechnet wird.«
3. »Die unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung für unter und über 25-jährige Kinder in Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil sowie zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern … ist mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.« Wie bereits zitiert sei die „Schonung der Solidargemeinschaft“ ein legitimes Ziel des Gesetzgebers.
Die Beschwerde (und der dahinter stehende konkrete Mensch) wurde dreifach abgebügelt – so könnte man das zusammenfassen.
Aber der eigentlich problematische Kern kommt erst noch. Schauen wir an den Anfang der Mitteilung des BVerfG über den Beschluss:
»Wenn von Familienangehörigen, die in familiärer Gemeinschaft zusammen leben, zumutbar erwartet werden kann, dass sie „aus einem Topf“ wirtschaften, darf bei der Ermittlung der Bedürftigkeit für die Gewährung existenzsichernder Leistungen unabhängig von einem Unterhaltsanspruch das Einkommen und Vermögen eines anderen Familienangehörigen berücksichtigt werden. Allerdings kann nicht in die Bedarfsgemeinschaft einbezogen werden, wer tatsächlich nicht unterstützt wird.«
Der letzte Satz ist der hier entscheidende. Was bedeutet das? Dazu teilt uns das hohe Gericht im weiteren Gang der Argumentation mit:
»Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es schon an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft. Eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen scheidet dann aus; ein Auszug aus der elterlichen Wohnung muss dann ohne nachteilige Folgen für den Grundsicherungsanspruch möglich sein … Kommt es zu einer ernstlichen Verweigerung der Unterstützung, scheiden Kinder nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahrs aus der Bedarfsgemeinschaft mit der Folge aus, dass ihnen die volle Regelleistung zusteht und eine Einkommensanrechnung nicht stattfindet; sie dürfen dann ohne Anspruchsverluste ausziehen.«
Alles klar? Wenn also die Eltern oder das alleinstehende Elternteil sich der Unterstützung des Kindes verweigern, dann gilt das alles nicht mit der Anrechnung und dem niedrigeren Regelbedarf. Wozu führt eine solche Argumentation?
Spielen wir das mal gedanklich durch: Wenn man die niedrigeren Leistungen für das volljährige Kind und die Anrechnung elterlichen Einkommens nicht schlucken will, wird man gezwungen sein, die gerade erst wieder vom BVerfG abgesegneten elterlich-monetären Fürsorgebande zu durchtrennen über eine (reale? simulierte?) familale Zerrüttung, deren Existenz oder Behauptung ja auch in den Augen der Verfassungsrichter dazu führt, dass die Kinder nicht mehr Bestandteil der Bedarfsgemeinschaft sein können. Wie sich dann die „zerrüttete“ Familie in der Wirklichkeit verhält, kann von Alpha bis Omega reichen und entzieht sich übrigens im Fall der nur auf dem Papier bestehenden Zerrüttung und des faktischen Zusammenhaltens und -wirtschaftens der eigentlich damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen, die nun ja auch durch das BVerfG abgesegnet worden sind. Mithin, so die nur auf den ersten Blick irritierende Zuspitzung, leistet der Beschluss des BVerfG einen aktiven Beitrag zur Auflösung der ansonsten verfassungsrechtlich so hoch gehaltenen familiären Bande.
Die offensichtlich erkennbare Malaise kann so formuliert werden: Wenn man sich dem doppelten Druck der a) Einkommensanrechnung bei den Eltern (was andere Erwachsene nicht haben) und b) dem auf 80 Prozent abgesenkten Regelbedarf (der niedriger liegt als bei den anderen Erwachsenen) entziehen will/muss, dann ist man gezwungen, die Situation einer Verweigerung der elterlichen Solidarität herbeizuführen oder – seien wir realistisch – zumindest eine solche zu simulieren. Dass die Ehrlichen wieder einmal die – vom Ergebnis her gesehen – Dummen sind, sei hier nur angemerkt.